Rapunzel - Sei vorsichtig, was du dir wünschst von moonlily (Geburtstags-FF für Karma) ================================================================================ Kapitel 4: Ich gehöre mir ------------------------- Kapitel 4 Ich gehöre mir „Erzähl mir keine Märchen“, sagte Duke zwei Stunden später. „Aber damit hast du die Wette verloren, mein Freund. Sie – oder besser er – ist nach wie vor im Turm.“ „Du kriegst keine Verabredung mit Ryou. Wenn ich dich erinnern darf, unsere Wette bezog sich ausdrücklich auf ein Mädchen, das dort lebt. Folglich ist sie hinfällig.“ „Finde ich gar nicht“, brummte er, enttäuscht darüber, dass ihm schon wieder eine Möglichkeit entgangen war, sich mit Ryou zu verabreden. „Wirst du ihn denn noch mal besuchen?“ „Weiß ich noch nicht“, wich Bakura aus. „Mal sehen.“ Als er sich am Abend zu Bett begab, konnte er lange nicht einschlafen. Seine Gedanken kreisten um seinen neuen Bekannten. Sie hatten etwas gemeinsam. Beide lebten sie in einem goldenen Käfig, nur dass Joey das nicht zu merken schien. Er wollte wissen, was für ein Mensch sich dahinter verbarg, was diese Mai dazu veranlasst hatte, ihn einzuschließen … einfach alles. Sein Käfig umfasste wenigstens die ganze Hauptstadt und die Wälder, aber Joey hatte nie etwas anderes als die Mauern seines Turms vor Augen. Bakura konnte sich nicht vorstellen, dass er mit diesem tristen Leben so einverstanden war. Als es ihm gelang, seine Gedanken weit genug zur Ruhe zu zwingen, damit er schlafen konnte, war das Morgengrauen keine volle Stunde mehr entfernt. In den nächsten Tagen hatte er keine Gelegenheit, aus dem Palast zu kommen. Sein Vater war der Meinung, er müsse sich mehr auf seine Ausbildung als Kronprinz konzentrieren, anstatt seine Zeit in Wirtshäusern und am Spieltisch zu vergeuden. Dafür hatte er Yami sogar die Erlaubnis erteilt, vor dem Eingang zum Unterrichtsraum einen Wachposten aufzustellen, um Bakura jederzeit einfangen und zurückholen zu können, sofern er die Stunde vorzeitig verlassen wollte. Fast war Joey enttäuscht, als er den Ruf hörte und feststellte, dass es Mai und nicht Bakura war. Er hatte mehrere Tage nach ihm Ausschau gehalten. Wahrscheinlich hatte er ihn schon vergessen, gleich nachdem er seinen Freunden von ihm erzählt und sie sich vor Lachen über ihn ausgeschüttelt hatten. Es war besser, sich keinen falschen Hoffnungen hinzugeben und sich wieder mit der Situation abzufinden. Es würde weiterhin nur Mai in seinem Leben geben. „Stimmt etwas nicht?“, fragte Mai. „Du wirkst heute bedrückt.“ „Nein, alles wie immer. Ich bin nur nicht ganz so weit mit meiner Arbeit gekommen, wie ich dachte.“ Dazu hatte er zu oft aus dem Fenster gesehen. „Hast du alles gefunden, was du brauchtest?“ „Ja, der Trank ist so gut wie fertig. Meine Kolleginnen werden beim Kongress Augen machen.“ „Welcher Kongress?“, erkundigte er sich. „Oh, hab ich dir das nicht erzählt? Ich bin zum diesjährigen Kongress der Magierinnen, Hexen und Feen eingeladen. Das Programm ist großartig, Vorträge, Themenabende, Treffen ehemaliger Magieschülerinnen, ein Wettbewerb um den besten neuen Zaubertrank, den ich zu gewinnen gedenke …“ „Wie lange bist du weg?“ „Die Anreise ist etwas länger, zwei Wochen werden es bestimmt, bis ich zurück bin. Aber du musst dir keine Sorgen machen, vorher schaffe ich dir genug Vorräte heran, dass du nicht hungern musst. Ich würde ja nicht gehen, es ist nur so, die Vorsitzende des Magischen Rats, Ishizu Ishtar, hat mich gebeten, selbst einen Vortrag zu halten. Sie meinte, sie habe mich in einer ihrer Visionen auf dem Podium gesehen. Da konnte ich nicht absagen.“ „Ich kriege die Zeit schon herum.“ Mai verbrachte anderthalb Tage damit, zwischen dem Turm und ihrer Hütte zu pendeln, um Joey mit den nötigen Wasser- und Lebensmittelvorräten zu versorgen. Nachdem der letzte Sack Mehl und die letzte Wurst verstaut war, glich das Turmzimmer einem Warenlager. Das reichte gut, um mindestens noch eine Person durchzufüttern. Die beiden ahnten nichts von ihrem grimmig dreinblickenden Zuschauer im Gebüsch, der sich fragte, was sie da treiben mochten. Solange Mai bei ihm war, konnte er nicht versuchen, sich Joey bemerkbar zu machen. „Das sollte alles sein.“ Mai wischte sich die verschwitzten Hände ab und sah sich zufrieden um. „Also dann, stell keinen Unsinn an.“ Sie küsste ihn zum Abschied auf die Wange, schulterte ihren Korb und ging. Bakura schoss wie ein Pfeil aus dem Gebüsch. „Joey, hörst du mich?“ „Bakura?“ Er sah nach unten. „Ich dachte, du kommst nicht mehr und … hättest mich vergessen.“ „Darf ich nun zu dir rauf, ja oder nein?“, kam die leicht gereizte Antwort. Oben angelangt sah er sich um. „Willst du ein Geschäft aufmachen oder ein Gasthaus? Etwas einsame Gegend dafür.“ „Nein, Mai ist für eine Weile weg. Sie –“ „Rapunzel! Ich hab was vergessen!“ Angesprochener ließ seinen Blick hastig durch den Raum schweifen. „Unters Bett mit dir“, zischte er und zog an Bakuras Arm, „oder in den Schrank. Mai wird sehr ärgerlich werden, wenn sie dich hier sieht.“ Die Schranktür klappte zu, just bevor Mai ganz oben angelangt war. „Was hast du denn vergessen?“ Joey schielte vorsichtig Richtung Schrank. Wenn Mai ihn bloß nicht fand. „Was sehr wichtiges, das Salz.“ Sie zog einen dicken Beutel aus ihrem Korb. „Wie willst du sonst kochen.“ „Danke“, murmelte er, nahm ihr das Salz ab und verstaute es bei den anderen Gewürzen. „Ist wirklich alles in Ordnung?“ „Ja, doch. Hast du schon alles gepackt?“ „Nein, da stecke ich noch mittendrin. Deshalb kann ich mich leider auch nicht länger bei dir aufhalten, sonst schaffe ich das nicht bis zur Abreise. Wir sehen uns in zwei Wochen.“ Nachdem sie unten angekommen war, band Joey sein Haar zusammen und stieß einen erleichterten Seufzer aus. Das war gerade noch gut gegangen … „Was machst du auf meinem Bett?“ „Das ist bequemer als dein Besenschrank.“ Bakura drückte die weiche Matratze herunter und lehnte sich in die Kissen zurück. „Mai ist für ein paar Wochen weg, wie nett.“ Sein Lächeln ließ Joey einen Schauer über den Rücken laufen. Ob das nun gut oder schlecht war, dessen war er sich noch nicht sicher. „Willst du da stehen bleiben, bis du Wurzeln schlägst? Oder denkst du, ich fresse dich?“ Kosten würde er schon gern von ihm, aber auf eine andere Art. Das hatte ihm sein Körper in den letzten Tagen auf eindrucksvolle Weise mitgeteilt. So gut wie jeden Morgen. Joey ließ sich langsam am Fußende seines Bettes nieder und zupfte unsicher an seinen Kleidern herum. „Du brauchst was anderes zum Anziehen, Joey. Ein paar vernünftige Hosen.“ „Sag das Mai, sie erlaubt mir keine. Ich hab sie oft genug danach gefragt.“ „Sie ist jetzt aber nicht da. Ich versuche mich morgen wieder aus dem Schloss zu schleichen, dann bringe ich dir was mit.“ „Warum musst du dich aus dem Schloss schleichen?“ Seine steife Haltung löste sich etwas. „Mein Vater hat etwas dagegen, wenn ich mich draußen herumtreibe. So ähnlich wie bei dir, nur dass ich mehr Bewegungsfreiheit habe. Ehrlich, ich verstehe nicht, dass du das mit dir machen lässt.“ „Ich habe dir gesagt, sie meint es nicht böse.“ „Sicher doch“, unterbrach er ihn mit vor Sarkasmus triefender Stimme. „Deshalb isoliert sie dich von allem und jedem. Wann hast du das letzte Mal im Gras gelegen und dir die Sonne aufs Gesicht scheinen lassen?“ „Was geht dich das an, du bist doch selbst total blass.“ „Das tut gerade absolut nichts zur Sache“, wiegelte Bakura ab. „Hast du überhaupt mal was mit anderen Kindern zu tun gehabt, als du klein warst?“ „Selten.“ Joeys Stirn legte sich in Falten, während er überlegte. „Das letzte Mal war kurz bevor ich hierher kam. In Alva, auf dem Markt, da waren ein paar Kinder, mit denen ich Ball gespielt habe.“ Bakura legte den Kopf schief und musterte ihn nachdenklich. „Ich glaube, ich erinnere mich.“ Er beugte sich vor und zog grinsend an einer Strähne, die aus Joeys Pferdeschwanz gerutscht war. „Hey, das tut weh! Du! Du warst das damals?“ „Ja, war ich. Du stellst dich an wie damals, du Mädchen.“ „Ich bin kein Mädchen!“ Joey stieß ihn an, um ihn von sich wegzuschubsen, wurde am Arm gepackt und umgerissen. Er fand sich mit dem Rücken auf der Bettdecke wieder. „Warum benimmst du dich dann so?“ „Tue ich überhaupt nicht.“ Seine Stimme wurde immer lauter, während er gegen Bakuras kaum gelockerten Griff um seine Arme kämpfte. „Lass mich los, verdammt, was soll das?“ „Wenn du dich aufregst, siehst du richtig süß aus“, lachte er und verharrte in der nächsten Sekunde mitten in der Bewegung. Das habe ich nicht gerade laut gesagt? Der Blonde sah ihn perplex an. Hatte Bakura ihm eben ein Kompliment gemacht? Und warum lief er auch noch rot an, etwa deswegen? Sein Gesicht fühlte sich wie Feuer an. Durch die mühsam erarbeitete prinzliche Selbstbeherrschung zog sich ein breiter werdender Riss. Wie sollte er so einem Engel noch länger widerstehen? Seine Lippen legten sich auf die verführerischen roten des Blonden, den überraschten Protest ignorierend. Joey wusste nicht so recht, was hier vor sich ging. Er hatte gelernt, ein Kuss sei etwas zwischen einem Liebespaar, Mann und Frau … Aber warum gefiel ihm das Gefühl nicht nur, welches Bakuras Berührung auslöste, weshalb begann er sie sogar zu erwidern? Der Prinz löste seinen Griff, seine Finger tasteten sich über Joeys Arme nach oben zu seinem Hals und seiner Brust. Seine Träume waren schon lebhaft gewesen, doch das Original zog er tausendfach vor, selbst diesen kleinen Vorgeschmack. Eine Hand verirrte sich in den weißen Haarschopf und zog ihn weiter herunter. „Das … das war schön“, murmelte Joey, als sie sich voneinander lösten. „Nur … macht man das nicht eigentlich mit einer Frau?“ „Ich werde dir noch vieles beibringen müssen“, lächelte Bakura nachsichtig. Zum Teufel mit dem Ball und den ganzen Prinzessinnen. Sein Herz hatte er soeben unwiderruflich vergeben. Noch nie in seinem Leben war der Prinz so froh gewesen, Duke seinen Freund nennen zu dürfen. Ohne seine Hilfe, häufig in Form kurzfristiger Ablenkungsmanöver, hätte er es so manches Mal nicht geschafft, aus dem Schloss herauszukommen. Yami passte scharf auf ihn auf und seine öffentlichen Verpflichtungen wurden mit jedem Tag mehr. Sein Vater hatte Schreiben an alle wichtigen Königs- und Fürstenhäuser der Nachbarreiche gesandt, dass sein Sohn auf Brautschau sei. Mindestens jeden zweiten oder dritten Tag traf ein Botschafter mit einem Bildnis der zu verheiratenden jungen Dame des Landes ein, das er vertrat. Umso mehr genoss er die Zeit, die er mit Joey verbrachte. Nach vier Tagen hatte er ihn so weit, über eine Strickleiter aus dem Turm zu klettern und mit ihm einen Spaziergang durch den Wald zu machen. Er wusste genau, dass Joey dort nicht dauerhaft leben wollte, sich aber nicht traute, sich länger als ein, zwei Stunden vom Turm zu entfernen. Ihm blieb nur, ihn in kleinen Schritten daran heranzutasten, hoffend, dass ihm die Freiheit bald zu gut schmeckte, als dass er darauf verzichten wollte. Eine weitaus härtere Probe für seine Geduld stellte jedoch Joeys Weigerung dar, mehr als ein paar Küsse und Streicheleien zuzulassen. Er wollte ihn nicht dazu zwingen, selbst wenn es ihn nervte, jedes Mal selbst Hand anlegen zu müssen, wenn er nachts aus seinen Träumen erwachte. Dafür mochte er die naive Art des Blonden zu sehr und auch wenn er bei anderen nie so geduldig gewesen war und sich schließlich genommen hatte, was er wollte … Bei ihm konnte er das nicht. Er war gestern drauf du dran gewesen, ihn aufs Bett zu werfen und ein Blick aus diesen unschuldigen Hundeaugen hatte ihn wieder weich werden lassen. Es war wie verhext. Fast war er schon geneigt zu glauben, Mai habe ihm doch nicht nur Kräuterkunde, sondern auch etwas von ihren anderen Künsten beigebracht. Joey dagegen, dem Bakura mit den Hosen, die er zu ihrem dritten Treffen wie versprochen mitgebracht hatte, eine riesige Freunde gemacht hatte, musste sich mit einer Reihe ganz anderer Probleme herumschlagen. Wenn sein Freund nicht bei ihm war, spürte er eine Sehnsucht, welche die nach Mai weit überstieg. Seine Berührungen brachten in ihm Saiten zum Klingen, von deren Existenz er vorher nicht mal etwas geahnt hatte und ihm Träume schickten, die ihn schweißgebadet, schwer atmend und mit einem Ziehen in den Lenden aus dem Schlaf auffahren ließen. Nicht zu vergessen, dass er sich durch ihre häufigen Ausflüge immer mehr daran gewöhnte, durch die Gegend zu streifen. Die zwei Wochen von Mais Abwesenheit vergingen wie im Flug. Am Abend vor ihrer Rückkehr bedauerte er es richtig, wieder in seinen Turm zu müssen. Es war Anfang Juni, die Sonne schien warm vom Himmel und hatte sie an einen versteckten kleinen See geführt, an dessen Ufer sie sich nach dem Schwimmen ins Gras gelegt hatten, die Finger ineinander verschränkt. „Du musst nicht da hoch“, begann Bakura, der ihm die Zweifel ansah. „Du könntest auch mit mir kommen, ins Schloss.“ „Bakura, du weißt, das kann ich nicht. Mai wüsste nicht, wo ich bin und würde sich Sorgen um mich machen.“ „Es ist schön und gut, an andere zu denken“, versuchte er ihn mit sanftem Ton zu überzeugen, „nur wäre es nicht an der Zeit, dass du auch an dich denkst? Kannst du dir nicht vorstellen, das hinter dir zu lassen und mit mir zu kommen?“ „Und dann? Du hast gestern selbst gesagt, dein Vater verlangt von dir zu heiraten. Uns aber ist dieser Bund verwehrt.“ „Das ist mir egal. Ich will dich, nicht eins dieser eingebildeten Weiber.“ Joey seufzte leise und strich ihm über die Wange. „Wir haben beide unsere Verpflichtungen, aus denen wir nicht rauskommen. Ich kann Mai nicht im Stich lassen …“, Bakura hob zu einem Widerspruch an, den er unterband, indem er ihm einen Finger auf die Lippen legte, „und du nicht dein Land. Alvaria ist ein schönes Reich, es braucht dich.“ „Würdest du auch so rede, wenn ich nicht der Kronprinz wäre? Wenn ich, sagen wir, ein einfacher Ritter ohne Land und Reichtümer wäre?“ „Und Mai?“ Bakuras Blick verdunkelte sich. „Lass sie wenigstens ein Mal außen vor. Was ist es, was du willst?“ „… Dich“, flüsterte Joey, drückte seine Lippen kurz auf Bakuras und kletterte dann rasch die Leiter hinauf. Wenn er ihn noch länger ansah, lief er Gefahr, ihn zu bitten, ihn auf der Stelle mitzunehmen. Etliche Meilen entfernt saß Mai mit Ishizu und zwei anderen Kolleginnen am Tisch und stocherte lustlos in ihrem Abendessen herum. Sie hatte längst auf dem Rückweg sein wollen, wäre nach ihrer ursprünglichen Planung morgen angekommen. Jetzt saß sie hier fest, da Agiza, die Hexe aus dem Dunklen Wald, wegen Geiselnahme und Kannibalismus angeklagt und vor das Hexengericht gestellt worden war. Es hieß, sie habe kleine Kinder zu sich in den Wald gelockt, um sie zu essen. Seit drei Tagen liefen die Verhandlungen bereits, Agiza weigerte sich hartnäckig, auch nur das Geringste zu gestehen. Manchmal nervte es Mai, einen Sitz im Hexenrat zu haben. Bakura lief in seinem Gemach wie ein Raubtier im Käfig auf und ab und überlegte, was er tun sollte. So ungern er es zugab, Joey hatte mit dem Recht, was er gesagt hatte. Er war der Thronfolger – verflucht seien diese dreiundzwanzig Sekunden – und musste folglich für die nächste Generation Sorge tragen, damit ihre Königslinie nicht abbrach. Aber wie sollte das gehen? Eine Dreierbeziehung zu führen, war keine Option, weder für ihn noch Joey und eine Frau würde da noch weniger mitspielen. Und ihn verlassen? Auf keinen Fall. Eigentlich hatte er nur eine Möglichkeit, und wenn diese seinem Vater nicht gefiel … dann konnte er es nicht ändern. Den Umstand, dass Mitternacht vorüber war, ignorierte er geflissentlich und marschiere aus seinem Zimmer, um ein paar Türen weiter anzuklopfen. Beim zweiten Mal hämmerte er mit der Faust gegen das Holz, bis ihm ein schlaftrunken wirkender Ryou öffnete, der noch dabei war, den Morgenrock um sich zu schlingen. „Was ist denn?“, gähnte er. „Wir müssen reden, kleiner Bruder.“ „Hat das nicht bis morgen Zeit?“ „Je eher, desto besser“, sagte er und drängte sich an ihm vorbei in den Raum. Ryou musste schon tief und fest geschlafen haben, die Vorhänge seines Himmelbettes waren zugezogen. Die Brüder setzten sich vor den Kamin. Mit jedem Wort Bakuras wurde Ryou wacher, schüttelte zwischendurch ungläubig den Kopf und musste sich zwingen, ihn nicht zu unterbrechen. „Das ist nicht dein Ernst“, sagte er am Ende von Bakuras Ausführungen. „Willst du das wirklich?“ „Ich glaube, es gibt keinen anderen Weg. Und seien wir mal ehrlich, ich –“ „Aber du …“ „Schlaf erst mal eine Nacht drüber.“ „Das würde ich eher dir raten“, erwiderte Ryou. Der Blick Joeys schweifte besorgt über die Umgebung. Mai war den zweiten Tag überfällig, das sah ihr gar nicht ähnlich. „Hey, Joey! Kann ich hochkommen oder ist Mai schon zurück?“ Bakura stand unten und winkte ihm zu. Die Strickleiter, die er vor ein paar Wochen mitgebracht hatte, wurde zu ihm heruntergelassen. „Tut mir leid, dass ich gestern nicht kommen konnte. Ich musste ein paar wichtige Dinge klären.“ Er stieg durch das Fenster und zog die Leiter hinter sich hoch. „Was war denn so furchtbar wichtig?“, schmollte Joey. Gott, wie süß, dachte sein Gegenüber und wusste wieder einmal nicht, ob er den Blonden nun an sich ziehen und küssen oder sich den Mund mit Seife ausspülen sollte, weil er schon wieder Worte wie süß und niedlich mit ihm in Verbindung brachte, die in seinem Wortschatz eigentlich überhaupt nichts verloren hatten. Erst als Joeys Blick fragend wurde, merkte er, dass er ihn die ganze Zeit angestarrt hatte, ohne auf seine Frage zu antworten. „Ich habe mit meinem Bruder gesprochen, ob er bereit wäre, an meiner Statt König zu werden.“ „Du … du willst auf den Thron verzichten? Etwa meinetwegen?“, fragte er entgeistert. Joey wusste nicht, was er sagen sollte und ließ sich aufs Bett fallen. Mit so etwas hatte er nicht gerechnet. Er wäre nie im Leben auf den Gedanken gekommen, ihn darum zu bitten. Sein Freund setzte sich neben ihn, legte den Arm um seine Schultern und zog ihn an sich. „Wenn das der einzige Weg ist, mit dir zusammen sein zu können, ja. Ich hab mir eh noch nie viel aus dem ganzen Königsein gemacht. Für so was bin ich einfach nicht geschaffen, da ist Alvaria mit Ryou weit besser dran, glaub mir. Wärst du unter diesen Bedingungen bereit, mit mir zu gehen?“ „Hmm … Gib mir etwas Zeit, das zu verdauen“, bat Joey. „Ich muss darüber nachde … Was wird das?“ „Ich helfe dir nur beim Nachdenken“, flüsterte der Weißhaarige und fuhr fort, an seinem Ohr zu knabbern. „Als hilfreich würde ich das nicht gerade bezeichnen.“ Er wandte den Kopf ab, um ihm sein Ohr zu entziehen. Bakura ließ sich davon nicht im Mindesten stören, seine Zunge glitt von Joeys Ohr zu seinem Hals weiter, an dem er saugte, bis ein rotes Mal zurückblieb. Seine Finger tasteten sich unter das Hemd des Blonden, über die warme Haut und seinen Rücken hinauf. Joey gehörte ihm, er würde nicht zulassen, dass Mai ihn ihm wieder nahm. Da war er wie ein Wolf, was er einmal in seinen Fängen hatte, ließ er nicht mehr los. Joeys Lippen schnappten nach seinen, fingen sie zu einem Kuss ein. Er nestelte an der Schnürung von Bakuras Hemd und schob es beiseite, ließ die Finger über die trainierten Muskeln gleiten. An seinem Herz hielt er inne und lauschte dem schnellen Pochen, das im Takt seines eigenen schlug. Er konnte sich nicht vorstellen, wie es sein sollte, wieder ohne ihn zu leben. Seine Arme schlangen sich um seinen Nacken und zogen ihn nach unten, ohne den Kuss zu unterbrechen. Über dem Spiel ihrer Zungen merkten sie kaum, wie sie sich gegenseitig halfen, sich ihrer Kleider zu entledigen und sich in das helle Leinen zurücksinken ließen. Sie erkundeten, schmeckten einander, wobei Bakura überrascht feststellte, dass das sogar Spaß machen konnte (bei seinen früheren kurzen Liebschaften hatte er sich nie die Zeit für dergleichen genommen). Sie ließen sich treiben, kosteten jede Sekunde aus und hielten nur manchmal kurz inne, um dem Keuchen des anderen zu lauschen, das sich bald in kehliges Stöhnen verwandelte. Als sich Bakura schließlich aus Joey zurückzog und neben ihn legte, hatte die Abenddämmerung eingesetzt und tauchte den Raum in Goldtöne. „Ich komme mit dir“, murmelte Joey erschöpft und kuschelte sich an seinen Freund. „In zwei Tagen, so lange möchte ich noch auf Mai warten. Sie verdient es, dass ich ihr alles persönlich erkläre.“ Es war ein seltsames Gefühl, seine Sachen zu packen, stellte er zwei Tage darauf fest. In den vielen Jahren, die er hier verbracht hatte, war ihm der Turm zu einem Heim geworden. Ein Heim und dennoch auch ein Gefängnis. Wenn er zurückkam, um mit Mai zu sprechen (sie hatte sich bisher nicht blicken lassen und länger konnte er nicht warten), würde er sie fragen, warum sie ihn eingeschlossen hatte. Darauf hatte sie ihm immer die Antwort verweigert, aber er fand, er hatte ein Recht darauf, es zu erfahren. Genauso wollte er gern wissen, was aus seiner Familie, insbesondere seiner kleinen Schwester geworden war. Serenity musste etwa siebzehn sein und war sicher ein hübsches Mädchen geworden. Sobald im Schloss alles geklärt war und Bakuras Vater erfahren und verarbeitet hatte, dass sein jüngerer Sohn die Nachfolge antreten sollte, wollten Joey und Bakura aufbrechen und nach seinen Verwandten suchen. Er sah sich um, ob er nichts vergessen hatte. Seine persönlichen Sachen befanden sich in einem Rucksack auf dem Stuhl, der Anhänger, den ihm seine Tante geschenkt hatte, hing um seinen Hals. Auf dieses Schmuckstück hatte er immer sehr sorgfältig geachtet. Kurz nachdem Mai ihn mitgenommen hatte, war er verschwunden, am nächsten Tag hatte er ihn am Flussufer wiedergefunden. Die Kleider hingen im Schrank und darüber, sie endlich hinter sich lassen zu können, war er mehr als froh. Er nahm den Brief vom Schreibpult und lehnte ihn gut sichtbar an die Vase mit bunten Wiesenblumen, damit Mai ihn gleich fand. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis Bakura kam, um ihn abzuholen, höchstens noch eine Stunde. „Rapunzel, lass dein Haar herab!“ Die Worte ließen ihn heftig zusammenfahren, er richtete sich kerzen-gerade auf. Darauf, jetzt noch auf seine Stiefmutter zu treffen, war er nicht eingestellt. Seine Gedanken überschlugen sich. Schnell alles verstecken, ein Kleid überwerfen und ihr alles in Ruhe erklären oder sie einer Schocktherapie aussetzen? An sich wollte er nicht mit der Tür ins Haus fallen. „Ja, gleich!“, rief er händeringend, warf die Strickleiter unter das Bett und zog die Decke zurecht. „Ich bin wochenlang weg und du lässt mich hier stehen?“ „Einen Augenblick noch.“ Um alle Gegenstände, die er mitnehmen wollte, an ihren Platz zu räumen, fehlte ihm die Zeit. Er riss den Kleiderschrank auf und stülpte sich das erste Kleid über, das ihm unter die Finger kam. Hinter sich hörte er Flügelschläge, fuhr herum und bekam eben noch mit, wie ein großer Adler durch das Fenster flatterte und sich in Mai verwandelte. Er schwankte zwischen Schrecken und Staunen. Dass sie Tiergestalt annehmen konnte, hatte sie ihm nie gesagt. „Ich habe mich in einen Adler verwandelt, um schneller heimzukommen. Es gab beim Kongress ein paar Komplikationen und –“ Sie brach ab und sah sich um. Ihr Blick blieb an Joey hängen, der es nicht mehr geschafft hatte, in den linken Kleiderärmel zu schlüpfen. „Was ist hier los?“ „Mai, ich … es ist so, dass ich … Als du weg warst …“, stammelte er hilflos. Er hatte Stunden gebraucht, sich seine Worte zurechtzulegen und jetzt, da er sie brauchte, waren sie weg. Mai hob seinen Rocksaum an. „Woher hast du die Hose? Ich will eine Antwort.“ Joey blieb stumm. Sie schaute weiter, entdeckte den Rucksack und den Brief, riss diesen auf und überflog stumm die Zeilen. In ihre Augen traten Tränen. „Du willst weg?“, fragte sie, ihm den Rücken zugewandt. „Habe ich nicht immer alles für dich getan?“ „Schon, nur … ich bin jetzt erwachsen, Mai, und ich möchte mir mit Bakura zusammen ein neues Leben aufbauen.“ „Ich habe dir gegeben, was du wolltest.“ Ihre Hand krampfte sich um den Brief und zerknitterte ihn. „Und du wirfst dich einem Dahergelaufenen an den Hals, der behauptet, ein Prinz zu sein. Willst mich Hals über Kopf verlassen. Habe ich das etwa verdient?“ „So versteh doch –“ „DU verstehst nicht!“ Sie fuhr zu ihm herum und schritt auf ihn zu, einen Ausdruck in den Augen, der sich mit vollem Schmerz in Joeys Brust brannte. „So dankst du es mir, dass ich mich all die Jahre um dich gekümmert habe. Deine Eltern wollten dich nicht, ich habe dich zu mir genommen und für dich gesorgt, als wärst du mein eigen Fleisch und Blut. Du bist ein sehr undankbarer Junge.“ „Das stimmt nicht, ich bin dir ja dankbar, nur … Mein Leben gehört mir. Lass mich das doch erklären.“ „Ich will deine Ausflüchte nicht hören!“ Joey schluckte, der zusammengeknüllte Brief in ihrer Hand ging in Flammen auf. So zornig hatte er Mai nie zuvor erlebt, er hatte auch nie gesehen, dass sie so ihre Kräfte einsetzte. „Du wirst diesen Mann nie wieder treffen. Ich bringe dich von hier weg.“ „Mai, bitte!“ „Joey, bist du fertig?“, erklang Bakuras Stimme von draußen. Er öffnete den Mund, wollte seinen Liebsten warnen, doch Mai war schneller. Auf eine Handbewegung von ihr schossen ein paar der Weinranken, die sich die Mauer hoch wanden, zum Fenster herein, wickelten sich um Joeys Handgelenke, das Küchenhandtuch schlang sich um seinen Mund. Er konnte nur flehend den Kopf schütteln, als sie seine Haare um die Spindel wickelte und sie zu einem langen Zopf wachsen ließ. Die Zauberin nahm eine Schere und schnitt ihm diesen ab, kaum dass er ausgewachsen war. Sie befestigte ihn am Fenster und warf ihn nach unten. Bakura war erstaunt, sonst benutzten sie die bequemer zu handhabende Strickleiter, machte sich aber an den Aufstieg. Ohne auf Joeys stummen Protest zu achten, stieß Mai ihn in den Besenschrank und schloss die Tür hinter ihm ab. „Wir können gehen. Joey?“ Bakura sah sich um und bemerkte die festgeknoteten Haare. „Er ist nicht mehr hier.“ Mai stand hinter ihm, er fuhr herum. „Du bist diese Zauberin, Mai, richtig?“ Er tastete nach dem Schwert an seiner Hüfte. „Wo ist Joey? Was hast du mit ihm gemacht?“ „Du wirst ihn nie wiedersehen“, zischte Mai. „Er gehört mir.“ „Er ist nicht dein Eigentum. Ob er bei dir bleibt oder mit mir geht, ist seine Entscheidung. Nicht meine und nicht deine.“ Wenn sie es auf einen Kampf ankommen lassen wollte, bitte, den sollte sie haben. Er dachte nicht daran, ohne Joey zu gehen. In einer einzigen fließenden Bewegung zog er das Schwert aus der Scheide, riss es hoch und stürmte auf sie zu. Sein Hieb traf ins Leere, er blinzelte verwirrt. Eben hatte sie doch noch da gestanden. „In diesem Fall hat Joey nicht zu entscheiden.“ Er wandte sich ihr zu, machte sich für einen zweiten Angriff bereit. „Wo hast du ihn hingebracht?“, donnerte er. „Du wirst ihn nicht finden. Vergiss ihn.“ Sie verschwand vor ihm, Sekunden bevor das Schwert sie berührt hätte. Bakura, vom Schwung seiner Waffe getragen, konnte nicht bremsen und stolperte über den quer liegenden Zopf. Scheiß Haare!, dachte er noch und stürzte aus dem Fenster. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)