Geheimnisse in Paris von CaptainCalvinCat ================================================================================ Kapitel 1: A fall from grace ---------------------------- Es war ein wunderschöner Sommertag im Paris des Jahres 1925. Die Vögel zwitscherten und wie es in Paris so üblich ist, lustwandelten verliebte Pärchen durch die verschiedenen malerischen Gassen und Straßen der französischen Hauptstadt. Niemand ahnte, dass in den nächsten Tagen eine Reihe von ungewöhnlich spektakulären Diebstählen die sonst so ruhige Nacht in den Arrondissement genannten Stadtbezirken rund um das Arrondissement du Louvre stören würde. Die Sonne schien es gut mit der Stadt der Liebe zu meinen, verwöhnte sie sie in diesen letzten Juli-Tagen doch sehr stark mit ihrer Präsenz, aber die Betreiber der Straßencafés freute es und das sollte doch auch schon mal eine Nachricht wert sein. Und wo wir gerade bei Nachrichten sind: In der Redaktion der Zeitung „La Voix de Paris“ – also der „Die Stimme von Paris“ – begab sich gerade eine junge Reporterin in den Kampf mit ihrer alten Olivetti-Schreibmaschine. “Madame Lapin immer noch auf freiem Fuß!” Diese Schlagzeile setzte eine schöne rothaarige Frau gerade eben noch über ihren Artikel, ehe sie ihn noch einmal korrekturlas. Die grünen Augen beobachteten jede Satzstellung, jedes Kommata mit der gewohnten Kritik einer Lektorin und je mehr sie las, desto mehr furchte sich ihre Stirn, ehe sie den Zettel mit ihrer zarten Hand in eine handliche Kugel verwandelte und in den ohnehin schon vollen Papierkorb – Zeugnis einer sehr langen und sehr harten kreativ-journalistischen Phase des Kampfes mit Schreibmaschine und Worten – warf. Sie schüttelte den Kopf, stützte sich auf ihre Ellbogen und ließ den Kopf auf beide Handinnenflächen sinken, ehe sie trübsinnig ihre Schreibmaschine anstarrte. Der dunkelhaarige Mann, der ihr gegenübersaß, runzelte die Stirn, erhob sich und trat auf sie zu. „Tony?“, fragte er. Die grünen Augen, die gerade eben noch gedankenverloren in der Gegend herumgeblickt hatten, fixierten die braunen Augen des Mannes und ein Hauch von Ärgernis funkelte in ihnen. Doch dieser Funken verglomm rasch, als die Angesprochene ihn anblickte und sich ihr sinnlicher Mund zu einem sanften Lächeln verzog. Mit einer sanften Stimme fragte sie: „Ja, Alain?“ „Bist – bist Du sauer?“ Sie atmete tief durch, schloss kurz die Augen und ihre ebenen Gesichtszüge entspannten sich, ehe sie den Blick wieder auf Alain richtete. Mit einem Gesichtsausdruck, der eine Mischung aus Resignation, Liebe und Amüsement darstellte, schüttelte sie den Kopf: „Nein, Alain – nur einfach genervt.“ Der junge Alain wusste natürlich auch wieso. Der Artikel, den die Frau gerade eben mit einem gekonnten Wurf in den Papierkorb versenkt hatte, ging in die Details einer Polizeiaktion ein und schilderte diese leider nicht positiv. Sie, Antoinette Dubois, die von allen Tony genannt wurde, hatte eine vitale Rolle in dieser Aktion gespielt – wie eigentlich immer, wenn es gegen Madame Lapin ging. Diese Meisterdiebin war ihr das erste Mal begegnet, als sie ihren ersten Auftrag für die „Voix“ hatte – damals war sie zu einer Modenschau geschickt worden und verschiedene Wertgegenstände waren abhanden gekommen. Gestohlen von Madame Lapin – und seit diesem Zeitpunkt beschrieb es eine gewisse Konstante, dass sie sich immer wieder trafen. Sie hatte eigentlich gehofft, der Meisterdiebin eine Falle stellen zu können, aber wie so oft erwies sich Madame Lapin als gewitzte Gegenspielerin, welche Fallen offenbar im entscheidenden Moment erkannt und sich ihnen entziehen konnte. Sie war – das musste Tony ihr einfach anerkennen – zweifelsohne gut und geübt darin, Leuten, die hinter ihr her waren, zu entkommen. Jedes mal, wenn die Reporterin sich an ihre Fersen setzte, entkam sie durch irgendeinen ominösen Trick. Das diese Tatsache der jungen Frau sehr an die Nieren ging, war eigentlich verständlich. Erneut glitten die Hände zum Papierstapel, erneut spannte sie das Blatt in die Maschine ein und begann, zu tippen. Während Tony schrieb, verzog sie ihre Brauen, ihr schöner Mund wurde schmal und die Lippen wurden aufeinandergepresst. Alain, ihr Freund, warf einen Blick zu ihr und schluckte heftig. ‚Oha,’ schoss es ihm durch den Kopf, ‚sie ist wütend – wer kann es ihr verübeln?’ Er selbst erinnerte sich nicht an das letzte Zusammentreffen, denn Madame Lapin hatte ihn schnell und einfach überwältigt. Es war auf einem Staatsempfang gewesen – der japanische Botschafter hatte Geburtstag gehabt und man hatte den Saphir von Tokyo – einen wertvollen Edelstein – präsentieren wollen. Jeder, der etwas auf sich hielt, war da gewesen – die Polizei war mit beeindruckender Truppenstärke angetreten und – was niemand hätte wissen sollen – der Saphir von Tokyo war von Inspecteur Gustave Calvignac gegen eine Kopie ausgetauscht worden. Es hatte nur eine Hand voll Leute gegeben, die diese Information gehabt hatten – unter ihnen auch Antoinette. Sie hatte sich diesen Plan schließlich, zusammen mit Madame Calvignac, des Inspecteurs Frau, ausgedacht und ihn zusammen mit der Frau des japanischen Botschafters ausgeführt. Auch Alain war die Information geläufig gewesen und der junge Fotograf war sich sicher, dass er heute das Foto machen könnte, auf das er so lange gewartet hatte – das Foto seiner Freundin, wie sie Madame Lapin festnahm. Doch offenbar hatte die Meisterdiebin davon gewusst – denn sie hatte entsprechende Gegenmaßnahmen eingeleitet. Tony hatte ihm nachher von allem erzählt. Die Madame hatte sich offenbar als Kellnerin ausgegeben. Tony und Alain mussten offenbar sofort von ihr erkannt worden sein und so war sie vermutlich gezwungen gewesen, ihren Ursprungsplan abzuändern. Als sie ihm das alles erzählt hatte, war ihm die Kellnerin in Erinnerung gekommen, die ihm und ihr ein Glas Champagner gegeben hatte. „Tony, auf dich!“, hatte er gelacht und das Glas in einem Schluck leer getrunken. Seine Freundin jedoch hatte nur kurz am Champagner genippt und das Glas dann erstmal fortgestellt, ehe sie ihm ins Ohr geflüstert hatte: „Wir müssen nüchtern bleiben – du weißt doch, das wir einen großen Fisch fangen wollen.“ Ihre Nähe, ihr Körper hatte ihn sich von jetzt auf gleich extrem entspannt fühlen lassen. Er hatte gelächelt, war gegen sie gesunken und dann auf einen Sessel. Das wiederrum hatte, so hatte sie ihm nachher erzählt, Tony alarmiert und sie hatte die Verbrecherin zu stellen versucht – aber der Schlag in den Magen, den der Bodyguard der Madame ihr verpasst hatte, hatte auch sie zu Boden gehen lassen. Verständlicherweise war Tony wütend und sie hämmerte auf ihre Tastatur ein, dass es durch die komplette Redaktion hallte. Das lies Monsieur Chailleau auf den Plan treten. Der Chefredakteur der „Voix“ öffnete die Tür seines Büros und schaute mit einem verwunderten Blick auf die rothaarige Frau, die normalerweise mit aufrechtem Rücken dort saß und sich auch in größter Wut derart unter Kontrolle hatte, die Tasten nicht zu ruinieren. Diesesmal flogen die Finger über die Tasten und sie trafen zwar jeden Buchstaben, auch mit der nötigen Wucht die dahinter saß, aber Chailleau hatte das Gefühl, das mit der jungen Frau irgendwas nicht stimmte. Das verriet ihm ihre gesamte Körperhaltung – normalerweise saß sie, wie schon gesagt, mit aufrechtem Rücken dort, den Blick fokussiert und die Finger in angemessenem, sanften, beinahe Tänzerischen Rhythmus über die Tastatur gleitend. Wenn die Tony, die normalerweise schrieb, mit einer Ballerina verglichen werden konnte, erinnerte diese Tony an einen Neanderthaler. Das Kreuz gebeugt, die Stirn kraus gezogen und der Rhythmus lies ihn an seine Zeit vor ungefähr 6 Jahren denken, in der er als Kriegsberichtserstatter im großen Krieg die Schrecken des Grabenkrieges portraitiert hatte. Das selbe Stakatto, das Tony ihrer Schreibmaschine zumutete, brachte in seinem Kopf die Erinnerung an das Rattern des Maschinengewehres zurück, das dicht neben ihm losgegangen war. Der Chefredakteur räusperte sich und trat auf Tony zu – auch wenn Alain ihm einen warnenden Blick zuwarf. Doch er war der Chefredakteur, er musste handeln. „Tony“, setzte er an und lächelte, als sie aufhörte und sich zu ihm umdrehte. „Was ist?“ Auch das war Chailleau neu – schlechte Laune kannte er bei ihr nicht. Sie war mitunter nachdenklich, aber niemals offen-feindselig. „Dein Artikel – ich brauche ihn bis spätestens heute abend.“, erklärte der ältere Mann und drehte sich um, um in sein Büro zu gehen. Dort angekommen, schloss er die Tür und seufzte. Tony hatte schlechte Laune – nicht, das es ungewöhnlich wäre, aber so dermaßen sichtbar, hatte sie noch nie schlechte Laune gehabt. Nicht einmal, als sie von den Handlangern Madame Lapins betäubt und in ein Sanatorium entführt worden war. Diese feindselige Tony – sie machte ihn grübeln. Als es klopfte, wandte sich der Chefredakteur erneut der Tür zu. „Ja, bitte?“ Die Tür ging auf und Bricolage kam herein – er war sowas wie Tonys väterlicher Freund und hatte einen sehr besorgten Gesichtsausdruck aufgelegt. „Tony ist zur Zeit nicht sie selbst.“, eröffnete er den Dialog, nachdem er die Tür geschlossen hatte. Chailleau zuckte mit den Schultern: „Wem sagen Sie das, Bricolage? Haben Sie Vorschläge, was man tun könnte?“ „Nun, ich weiß es nicht – ich vermute aber, ihre Laune hat den Ursprung darin, dass sie diese madame Lapin nicht zu fassen bekommt.“ Der Chefredakteur nickte: „Aber es ist doch nicht ihre Aufgabe, die Polizistin zu spielen – sie soll ordentliche Artikel abliefern. Ich bezahle sie doch nicht dafür, dass sie Verbrecher fängt.“ „Sie wissen schon, Monsieur, dass Tony sich die Schuld für den Fehlschlag der Mission gibt?“ Erneut nickte der Chefredakteur und wandte sich von Bricolage ab, um die Skyline Paris zu bewundern – wann immer er hier stand und die Stadt sah, wie sie in der untergehenden Abendsonne golden schimmerte, fühlte er sich wieder wie der kleine, verliebte Schuljunge, der damals, vor knapp 60 Jahren am Montmatre gestanden hatte und auf Evelyn gewartet hatte. ‚Evelyn’, schoss ihm der Gedanke durch den Kopf,`Du wärest heute auch noch bei mir, wenn nicht…’ Wenn diese Krankheit nicht gewesen wäre, die sie aus seinen Armen gerissen hatte. Chailleau musste sich zusammenreißen, um nicht zu schlucken. Er warf einen Blick aus dem Fenster und wandte sich dann an den anderen Mann. „Sie muss sich die Schuld nicht geben.“, erklärte er, was ihm nun von Bricolage ein Schulternzucken einbrachte und die Antwort: „Sagen Sie ihr das – sie macht sich schreckliche Vorwürfe.“ Tony hämmerte immer noch auf ihre Schreibmaschine ein. Es gab Tage, da konnte sie ineinemdurch Schreiben, ohne das sie etwas blockierte – und dann gab es eben auch schlechte Tage. Man verschrieb sich – das war nicht schlimm, dann x-te man das Wort durch und schrieb es erneut, das allerdings brachte sie aus dem Gedankenfluss – oder man konnte gar nichts zu Papier bringen. Sie war der Meinung, das man ihren Artikeln durchaus ansehen konnte, wann sie gute Tage hatte und wann nicht. Heute war einer der schlechten Tage. Der Kopf schwirrte ihr vor Selbstvorwürfen. „Warum habe ich nicht besser aufgepasst?“, dachte sie sich, „Ich hätte sie doch erkennen müssen!“ Wenigstens wurde nur die Kopie gestohlen, nicht das Original – und auch wenn dies der Hauptgrund für diesen Einsatz war, war das Nebenziel doch gewesen, Madame Lapin zu verhaften, was nicht erfüllt wurde. Ihre Finger glitten in einem abgehackten Stakkato über die Tastatur der Olivetti – die Sätze, die sie produzierte, ergaben mal mehr und mal weniger Sinn und irgendwann erkannte Tony, was sie da schrieb. Ein Armutszeugnis. Sie hatten sich vorführen lassen, wie die Frischlinge. Kaum, das sie diese Erkenntnis traf, riss sie auch schon das Blatt in einer einzigen, wütenden Bewegung aus der Schreibmaschine, zerknüllte und warf es mit einem gezielten Wurf in den Papierkorb. Erneut ließ sie den Kopf auf die Hände sinken und starrte gedankenverloren nach draußen. Was hatte sie getan? Sie hatte versagt – eindeutig. Die Madame hatte sie vorgeführt, hatte mit ihr gespielt und hatte am Schluss gewonnen. Als ob Alain es gewusst hätte, trat er auf sie zu und legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter. „Tony“, setzte er an und lächelte, „Es ist nicht so, als ob Du daran die Schuld hättest. Gib sie dir nicht.“ Die Frau schloss die Augen und ließ ihren Kopf gegen seinen Torso sinken. „Ich weiß, dass ich nicht an allem die Schuld trage – aber… ich hätte es wissen müssen. Ich hätte sie erkennen können.“ Alain setzte sich neben sie, griff ihre Hand und schaute ihr in die Augen: „Ich hätte sie auch erkennen können – erkennen müssen – und ich hab mich gleich selbst ausser Gefecht gesetzt. Das war nicht unbedingt eine Glanzstunde von mir – aber du weißt doch: Es gibt Tage, da gewinnt man und Tage, da verlieren die Anderen.“ Ein Lächeln zeichnete sich auf Tonys Mund ab und Alains Herz hüpfte vor Freude. Er hatte es geschafft, er hatte seine Freundin aus ihrem Jammertal herausgeholt, er… Doch dann gefror ihr Lächeln, als sie einen Blick auf die Schreibmaschine warf. Erneut seufzte sie. Die Redaktion war im achten Arrondissement, oder dem Arrondissement de l'Élysée zu finden. Sie lag an der Rue du Rocher und war fußläufig sieben Minuten vom Gare Saint-Lazare entfernt. Dies erlaubte natürlich den Journalisten, bei Bedarf schnell nach Le Havre, Dieppe, Cherbourg oder in die Normandie zu fahren. Das kleine Hotel in der Nähe, ließ Reisende, die den Gare Saint-Lazare als Wechselbahnhof verwendeten, bei Bedarf ausruhen und ihnen ein paar Stunden oder Tage Freizeit gönnen. In diesem Hotel hatten sich die beiden Personen einquartiert und waren nun auf dem Weg zum Redaktionsgebäude der „Voix“. Lachen füllte die Straßen, Wärme ebenfalls. Da traf es sich sehr gut, dass sie ein Kleid angezogen hatte, das sich recht sonnennah ausnahm, wenngleich es immer noch züchtig wirkte. Er hingegen schwitzte jetzt schon in seinem Anzug und hoffte, es endlich hinter sich bringen zu können. Sie schauten sich um, die Frau ließ sich für jede Besonderheit der Umgebung einen Ausruf des Erstaunens über ihre Lippen kommen, während der Mann, sei es ob der Hitze oder sonstigen Faktoren, still blieb und sich nichts sehnlicher wünschte, als endlich diese Kleidung ausziehen zu können. Nach knappen Sieben Minuten hatten sie das Gebäude endlich erreicht und machten sich daran, die Stufen im Redaktionsgebäude zu der Etage hinaufzusteigen, in der Tony gerade ihren dritten Versuch der Reportage in Angriff nahm. Die Tür ging und den beiden Besuchern wallte als erstes eine Geräuschkulisse entgegen, wie die beiden sie vermutlich noch nie erlebt hatten. Der abgehackte Stakkattorhythmus der Olivetti-Schreibmaschine, das leichte Klingeln der Glocke, wenn der Schlitten am Ende der Zeile angekommen war und natürlich das das reißende Geräusch von Papier aus einer Schreibmascine – all dies war in diesem Raum zu hören. „Entschuldigung.“, sagte sie mit einer angenehmen Stimmfärbung und einem Dialekt, der ihre Heimatwiege eher ins südliche Frankreich rückte, „Wir suchen Monsieur Chailleau.“ Alain drehte sich um, Tony tat dasselbe und beide erstarrten. Sie betrachteten die Neuankömmlinge, dann stand der junge Mann auf und deutete auf die Tür des Chefredakteurbüros: „Er ist da drin.“ „Danke.“, garagentorquietschte der Mann, was Tony dazu veranlasste, die Augenbrauen zu heben. Beide Personen kamen ihr sehr vertraut vor – er war ein Mann um die 1,73, hatte dunkle Haare und Braune Augen, sie mochte ungefähr einen Halben Kopf größer als er sein, hatte feuerrote Haare und grasgrüne Augen. „Hast Du das gesehen?“, riss Alains aufgeregte Stimme sie in die Gegenwart zurück. Sie schüttelte den Kopf, schaute ihn an und fragte: „Hm?“ „Na, hast Du das gesehen? Dieser Typ und diese langbeinige Göttin?“ „Soso, Göttin ja?“, fragte Tony und diesesmal klang es teils verärgert, aber größtenteils amüsiert. Alain redete sich gerne mal in Schwierigkeiten und es machte ihr einen Heidenspaß, ihn mit diesen Äußerungen aufzuziehen. Sie drehte den Kopf von ihm weg – gespielt beleidigt – was Alain dazu veranlasste, zu realisieren, was er da gerade gesagt hatte. Doch kurz bevor er sich entschuldigen konnte, ging die Tür auf und die langbeinige Göttin im Kleid, sowie der Mann im Anzug verließen mit Bricolage das Büro des Chefredakteurs. „Dann setzt euch mal da rüber.“, sagte der alte Mann und der Anzugträger, sowie die Göttin traten auf Tony und Alain zu, lächelten freundlich, wenngleich Tony in seinen Augen eine gewisse Unsicherheit erkennen konnte. Als er zu sprechen begann, klang es zwar nicht mehr ganz so, als würde sich ein Garagentor, das schon lange nicht mehr geölt wurde, öffnen, aber die Stimme war definitiv merkwürdig. „Entschuldigung, können wir – können wir uns zu ihnen setzen?“, fragte er und Tony zuckte mit den Schultern: „Meinetwegen.“ Sie wandte sich wieder um und begann ihre Olivetti zu bearbeiten, als sie plötzlich merkte, das ihr jemand über die Schulter schaute. Und dieser jemand war nicht Alain, das bemerkte sie, als sie nach links blickte und ihren Freund sich mit der Göttin unterhalten sah. Na das war ja ein starkes Stück. Was nur bedeuten konnte, das Garagentorstimme ihr über die Schulter blickte. Sie seufzte, wandte sich zu ihm um: „Haben Sie nichts besseres zu tun?“ „Momentan nicht.“, kam es als Antwort. Er zuckte mit den Schultern: „Was schreiben Sie denn da?“ „Einen Artikel.“, war die Antwort und sie hatte das Gefühl, dass sie ihre Wut auf die Situation und auf Madame Lapin nicht mehr länger unterdrücken konnte. Bei der Antwort merkte sie schon, wie die Wut sich durch ihre Schichten der Selbstbeherrschung leckte und hoffte, dass der Mann genug Grips hatte, um sich von ihr fernzuhalten. Sie wandte sich wieder ihrer Schreibmaschine um, spürte aber wieder, wie er sich hinter ihr positionierte. „Es ist einer Ihrer Artikel über diese Person, nicht wahr? Diese Madame Lapin?“, fragte der Mann und sie drehte sich um, erhob sich und funkelte ihn an: „Ja, es ist einer der Artikel und ich wäre sehr erfreut, wenn Sie mich in Ruhe weiterschreiben ließen, denn ich habe einen Abgabetermin und sollte ihn wirklich einhalten!“ Erneut tropfte etwas Wut durch die Ummantellung aus Indifferenz der Situation gegenüber, aber der Mann verschränkte die Hände hinter dem Rücken: „Darf ich ihn lesen, wenn sie fertig sind?“ „Was? Nein! Wer sind Sie eigentlich?“ Mehrere Antwortmöglichkeiten, mehrere Antworten, zwei Fragen. Der Mann schaute sie verdattert an: „Haben Sie es vergessen? Meine Freundin und ich haben uns hier als Praktikanten beworben und sind angenommen worden. Andrè Lachat ist mein Name.“ Jetzt strahlte er: „Sie wurden – oder besser gesagt ich wurde Ihnen zugeteilt, weil ich in den Journalismus gehen will – meine Freundin will Fotografin werden. Deswegen sind wir hier. Tadaaa!“ Tony schaute ihn an – und für einige Minuten war sie wie vor den Kopf geschlagen. „Bitte?“, fragte sie und schaute ihn an, „Sie sind mein … Praktikant, ja?“ André nickte begeistert: „ja, und ich freu mich schon darauf mit Ihnen Madame Lapin zu jagen. Die schnappen wir uns, was?“ Als Chailleau gerade das Radio anschalten wollte, flog die Tür auf und Tony stand im Raum, die Arme in die Hüften gestemmt. „Das ist doch wohl ein schlechter Scherz!“, sagte sie mit einer Stimme, die nun gar nichts Nettes mehr an sich hatte. „Ich verstehe nicht?“ „Diese Praktikanten? Ich kann für die beiden keine Verantwortung übernehmen!“ Chailleau nickte: „Ah, ich verstehe – nein, sie sollen auch nicht für Beide die Verantwortung übernehmen. Nur Lachat ist ihr Praktikant. Madame Samedi ist die Verantwortung Alains.“ „Nichts gegen Alain, aber der Mann hat sich gestern von Madame Lapin betäuben lassen – ich bezweifele, dass er dazu in der Lage ist, auf eine Praktikantin aufzupassen.“ „Wenn Sie diese Aufgabe nicht erfüllen wollen, so ist das verständlich – nur haben sich die beiden Praktikanten wirklich darauf gefreut, von den Besten übernommen zu werden. Geben Sie ihnen ein paar Tage Zeit – wenn sie dann nicht mit ihnen Arbeiten wollen, teile ich die beiden anderen Journalisten zu.“ Die junge Frau seufzte: „Wirklich?“ „Ja – aber versuchen Sie wenigstens für zwei Tage mit ihnen auszukommen.“, lächelte Chailleau. „Das dürfte sich einrichten lassen.“, murmelte Tony, wandte sich um und verlies das Büro. Der Chefredakteur schaute ihr hinterher. „Vielleicht beruhigt das unsere Tony wieder.“, murmelte nun er und wandte sich wieder dem Radio zu, das er anschaltete, aus dem Erik Saties La diva de l’empire den Raum beschallte. Chailleau lehnte sich zurück und lies sich in die Welt des Musikers entführen. Kapitel 2: Tonys Ultimatum -------------------------- Die Tür öffnete sich und Alain, sowie die anderen Beiden, die ihm Gesellschaft leisteten, blickten die rothaarige Schönheit an, die das Büro von Chefredakteur Chailleau verlassen hatte. Tony seufzte leicht genervt auf und fokussierte den dunkelhaarigen Typen, der auf ihrem Platz saß und sie anblickte, als habe sie ihn mit der Hand in der Keksdose erwischt. „Gut.“, sagte sie und trat auf ihn zu. Er runzelte verwirrt die Stirn. „Gut?“, garagentorquietschte er und schaute sie verdattert an, „Was meinen Sie mit Gut?“ Ein Augenrollen verunstaltete für einen Bruchteil einer Millisekunde Tonys wunderschönes Gesicht, ehe sie ihn erneut anschaute: „Zwei Tage.“ Erneut blickte André sie verwundert an. Man konnte förmlich hören, wie die Zahnräder in seinem Gehirn arbeiteten, aber offenbar kam kein verwertbares Ergebnis heraus. Theresa war schneller. Mit einem mittellauten „Juhu“ machte sie ihrer Freude Ausdruck, umarmte erst Tony, dann Alain, der ein wenig rot anlief und sich ein amüsiert-tadelndes „Alain, wo schaust Du wieder hin?!“ von Tony einfing. Anschließend umarmte Theresa ihren Freund, der sie immer noch verdattert anblickte und nun mit einer Spur von Missbilligung die Stimme erhob. „Hättest Du was dagegen, mir nicht so ins Ohr zu brüllen?“, fragte er und seine Stimme garagentorquietschte nicht mehr. Sie zeigte neben dem, dass sie sich in den Tenor herüber wandelte, auch noch eine Spur Schärfe. Theresa erwiderte seinen Blick und grinste amüsiert. „Du hast es immer noch nicht verstanden, oder?“, fragte sie und ihre Stimme klang samtweich. Sie kam ein wenig näher, beugte sich über ihn und flüsterte: „Wir sind angenommen worden.“ Diese Information brauchte ein paar Sekunden, um verarbeitet zu werden und Theresa bewegte sich schon in einen gewissen Sicherheitsabstand. Offenbar wusste sie, was nun kam, denn André stieß ein lautes „YES!“ aus, sprang vom Sitzplatz auf und rief nochmal „YES!“. Dann folgte er dem Beispiel seiner Freundin und nahm Tony in die Arme, während er Alain die Hand reichte. Die Reporterin und der Fotograf wechselten einen verdatterten Blick. Nach ein paar Takten des Einarbeitens setzte sich Tony an ihre Schreibmaschine und begann ihren Artikel fortzusetzen. Doch als sie tippte, bemerkte sie, dass dort einige Wörter standen, die sie gar nicht geschrieben hatte. Verärgert blickte sie zu André: „Warst Du das?“ Der Praktikant schien plötzlich den Pariser Abendhimmel sehr interessant zu finden, denn er wandte sich von ihr ab und warf einen Blick nach draußen, ehe er leise, kaum hörbar, mit einem verschämten „Ja“ antwortete. Seufzend machte die Frau sich daran, das Blatt aus der Maschine auszuspannen, als sie den Text las, den er dazu geschrieben hatte. Und mit einem nicht ganz so wütenden Ruck wie vorher, hatte sie das Blatt aus der Maschine geholt, um ein Neues einzuspannen. Das Alte faltete sie zusammen und steckte es in ihre Brusttasche. Er hatte nicht allzu schlecht geschrieben – aber es bedurfte der journalistischen Übung, um den Praktikanten wirklich zu einem Journalisten werden zu lassen. Aber das gewisse Grundtalent war da. Sich wieder mit der Reportage beschäftigend, wandte sie sich – sie war eine Frau, sie konnte mehrere Dinge gleichzeitig tun – an André: „Ich werde mir mal zu Hause durchlesen, was du da verzapft hast – aber tu so etwas nie wieder, ohne zu fragen, klar?“ Der Praktkant drehte sich zu ihr um, strahlte plötzlich und nickte. „Gut, dann kannst Du mir über die Schulter schauen.“ Wie unerträglich gönnerhaft das klang, merkte sie erst, als sie es gesagt hatte und schüttelte über sich den Kopf. „Ich wollte sagen, wenn Du magst, kannst Du mir über die Schulter schauen.“, verbesserte sie sich und André nickte begeistert: „Klar, wenn Sie mir ein paar Tipps und Kniffe beibringen könnten, wäre ich wirklich begeistert!“ Die Frau schaute ihn an und lächelte kurz. „Wenigstens einer hat hier seinen Spaß.“, schoss es ihr durch den Kopf. Es war nicht einer, es waren zwei, die Spaß hatten. Theresa schaute Alain über die Schulter, während er mit seiner Kamera ein bisschen „herumspielte“. Den Blick durch den Sucher der Kamera gerichtet, versuchte er nämlich, von der konzentrierten Tony ein weiteres Foto zu machen – nicht, dass er es unbedingt machen müsste, er hatte schließlich einige Exemplare dieses Motives, aber, es gab an jedem Bild einige kleine Unterschiede. Mal hob sie ihre Augenbraue anders, mal funkelten die Augen als solche richtig lebendig und mal hatte sie den Mund zu einem Lachen geöffnet oder schmollend geschlossen. Er war Fotograf mit Leib und Seele und wollte dieses überirdisch-schöne Wesen, das seine Freundin war, unbedingt in allen Lebenslagen auf Film gebannt haben. Theresa schaute ihn an und grinste. „Sie sind wirklich sehr in Tony verschossen, nicht wahr?“, fragte sie mit einem neckischen Grinsen und einem leisen Flüstern, was Alain beinahe die Kamera aus der Hand hätte fallen lassen. „Wie kommen Sie darauf?“, fragte er und schaute sie verblüfft an. Das Lachen Theresa Samedis war glockenhell und lies André kurz zu ihr blicken. Dann schaute der junge Praktikant Alain an und fixierte ihn mit einem finsteren Blick, in dem mehr als deutlich geschrieben stand: ‚Pack meine Freundin nicht an, Kerl.’ Das auch Tony Alain einen warnenden Blick sandte, bekam der Praktikant gar nicht mit. Alain schien diesen Blick jedoch auch nicht unbedingt wahrzunehmen, denn er wandte sich an Theresa und lächelte: „Also, was wissen Sie denn über Fotografie?“ „Nun“, begann Theresa und ratterte schnell einige Fakten herunter – inklusive einer fotografischen Zeitleiste. Dabei begann sie beim Araber ibn al-Haitham, der für eine der ersten Lochkameras, beziehungsweise „Camera obscura“ verantwortlich zeichnete. Auch die Chemie, die mit der Fotografie zu tun hatte, sparte sie nicht aus, erwähnte die beiden Herren Schulze und Scheele, zwei Deutsche, die indirekt für das bildgebende Verfahren als solches verantwortlich waren – sie fanden nämlich heraus, dass gewisse Stoffe bei Belichtung dunkel wurden. Und natürlich erwähnte sie die Namen Daguerre und Niépce – beide dafür bekannt, dass sie die ersten „Lichtbilder“ gemacht hatten. Natürlich nannte sie noch andere Namen und Fakten, die mit der Fotografie direkt – oder indirekt – zu tun hatten, und André schaute seine Freundin mehr als nur baff an. „Nicht schlecht“, meinte Alain lächelnd und schaute sie an, „Gut wiedergegeben, sehr gut. Dann weißt du vermutlich, dass das Bild von Niépce den Blick aus seiner Dachkammer in Saint-Loup-de-Varennes zeigt?“ Theresa legte den Kopf schief. „Tut sie das?“, fragte sie und man konnte ihr ansehen, das sie mehr als nur überrascht war. „Ja“, lächelte Alain und schaute zuerst sie an, anschließend die Kamera. Nun zog er seine Stirn kraus und man konnte deutlich erkennen, dass er über einer Frage brütete. „Hmmm, kannst Du mir sagen, was eine Belichtungsreihe ist?“ Als der Redaktionsschluss nahte, hatte Tony ihren Artikel fertig geschrieben und zog ihn aus ihrer Olivetti. Jeder, der sich mit ihrer Gefühlslandschaft auskannte, wusste, dass sie momentan sehr besorgt war – Madame Lapin war auf der Flucht, vermutlich würde sie wieder versuchen, Tony ein Schnippchen zu schlagen. Das hatte sie schließlich nicht zum ersten Mal gemacht – einmal hatte die Madame Tony entführen lassen, dann war es eine Halskette gewesen, die sie vorher gestohlen hatte und die Tony als die Diebin hätte darstehen lassen sollen. Irgendwie würde es Madame Lapin einfach immer schaffen, sich der Verhaftung zu entziehen und Tony war kurz davor, aufzugeben. Dann fiel ihr Blick zu Alain, der Theresa gerade erklärte, wie diese Kamera funktionierte und was sie beim Umgang mit einer Kamera wissen musste. Dieses Bild – normalerweise wäre es eine Situation unter vielen gewesen. Nichts besonders Aufregendes, außer der Tatsache, dass ihr Freund es schaffte, sich für das Fotografieren dermaßen zu begeistern. Aber, er war, das wusste Tony, Fotograf mit Leib und Seele. Und während sie Alain so betrachtete, blickte er auf und ihre Blicke trafen sich. Sie spürte, wie seine Nähe sie elektrisierte. Und ohne, dass sie wusste, weswegen, stahl sich ein Lächeln auf ihre Lippen. Nein, sie würde die Jagd auf Madame Lapin nicht aufgeben. Nicht um Alles in dieser Welt. Diesen Wunsch in ihrem Herzen festhaltend, wandte sie sich wieder zum Büro Chailleaus um, ging zu ihm und klopfte höflich. Redaktionsschluss. André Lachat warf einen Blick auf die Uhr, die gerade 9 Uhr anzeigte und lächelte. Wie gut, dass er und Theresa es nicht so weit zu ihrer momentanen Bleibe hatten. Der junge Praktikant wandte sich dann verstohlen zur Schreibmaschine um, spielte für den Bruchteil einer Millisekunde mit dem Gedanken, ein Blatt einzuspannen und über seinen ersten Tag zu berichten, aber – er zog es dann doch vor, einen Schreibblock und einen Stift zu bemühen. Dann, diesen Beschluss gefasst, wandte er sich zu Alain und Theresa um. Der Fotograf erklärte ihr gerade irgendwelchen Fotografischen Krimskrams, den er sowieso nicht verstand, aber er merkte, wie es in ihm rumorte. Und das lag nicht an dem Baguette, das er sich in der Bäckerei schräg gegenüber zum Abendessen gegönnt hatte, es lag schlicht und ergreifend an dem Fakt, dass seine Theresa von diesem Typen offenbar so blendend unterhalten wurde, dass sie ihn scheinbar vergessen hatte. Das ärgerte Lachat und er räusperte sich. „Hey Theresa, es ist gleich Feierabend.“, lächelte er, „Wollen wir dann gleich nach Hause, oder möchtest Du dich hier noch ein wenig umschauen?“ Die junge Frau hob den Kopf, doch gerade, als sie antworten wollte, meldete sich Alain zu Worte: „Was willst Du hier in diesem Quartier sehen? Hier gibt es nicht viel Interessantes – aber wenn Ihr mögt… ahm, es gibt in der Nähe ein kleines Bistro…“ Gerade, als er weitersprechen wollte, öffnete sich die Tür des Chefredakteurs und Tony verließ den Raum. Ihr Gesicht spiegelte gute Laune und Ausgeglichenheit wieder – offenbar war der Artikel angenommen worden und Tony froh, diesen Artikel los zu sein. „Was haltet Ihr davon“, begann Tony, „Wenn wir uns die Band noch anhören?“ „Die Band“, echote André fragend und die junge Rothaarige nickte: „Ja, Alain und seine Freunde haben eine Band und die müsste heute spielen. Das träfe sich, dann könnte ich mal wieder Saxophon spielen.“ Der Praktikant schaute sie an und hob fragend eine Augenbraue. „Wollten Sie uns nicht vor knapp 2 Stunden noch am Liebsten wieder los sein?“, fragte er, wenngleich er dabei ein wenig zögerlich klang. Tony blickte ihn an und lächelte: „Entschuldigung, wenn ich so grob war. Aber – die Sache mit Madame Lapin ist mir ein wenig nahe gegangen.“ „Das verstehen wir doch“, mischte sich Theresa ein und warf einen warnenden Blick zu André herüber, „oder?“ „Ja, ja das tun wir.“, schaute der Praktikant erst zu Theresa, und dann, sich an den Kragen greifend, zu Tony herüber. „Dann ist es abgemacht.“ André und Theresa standen in der Tür des Bistros, in dem die Band um Tony und Alain noch einen kleinen „Rausschmeißer“ spielte – den Reporter Blues, den die Band zu Tonys Geburtstag komponiert hatte. „Ihr spielt wirklich toll.“, meinte die rothaarige Schönheit in der Tür und wandte sich zu André um, „Wollen wir dann?“ „Ja, klar.“, sagte er, aber verharrte noch einen Moment in der Tür, um die vollkommen von sich losgelöste Tony näher zu betrachten, die auf der Bühne herumwirbelte und nebenbei das Saxophon spielte, als habe sie die Bedienung dieses Instrumentes mit der Muttermilch eingesogen. Gerade, als Tony einen Satz nach links machte, packte den Journalistenpraktikanten die Hand seiner Freundin und zog ihn mit sich in die Nacht hinein. „Ich finde Tony richtig nett“, lächelte André, als er mit Theresa durch die Straßen der Hauptstadt schlenderte. Die Antwort, ein „Das kann ich mir denken!“, kam eine Spur zu schnell und vor allem eine Spur zu schnippisch. Er runzelte die Stirn und schaute seine Freundin an. „Sag mal“, begann er und blieb auf dem Gehweg stehen, „Is was?“ „Meinst Du ich habe nicht gesehen, wie Du sie anblickst? Wie deine Augen ihre langen Beine bis zu ihrem Hintern hochfahren? Und das nur, weil sie einen Anzug anhat. Sie sieht aus wie ein Mannweib!“ André schaute die junge Frau verblüfft an: „Halt, warte mal, eine Sekunde – willst Du… willst Du etwa sagen, dass Du eifersüchtig bist?“ „Und wenn schon!“, machte sie und drehte sich weg. Der junge Mann schloss die Augen. ‚Na, das ist ja ein starkes Stück’, dachte er sich und schaute die Frau an, „Hey.“ Er trat auf sie zu und legte ihr die Hand auf die Schulter. „Ja, ich gebe zu, Tony ist attraktiv.“ „Danke sehr!“, schoss Theresa und André rollte mit den Augen, „Du könntest mich ruhig ausreden lassen. Ja, Tony ist attraktiv, aber Du, meine Liebe, bist die Frau, in die ich mich verliebt habe. Ich gehöre dir. Und außerdem – du hast gerade reden. Wer flirtete denn die ganze Zeit mit Alain.“ „Ich habe nicht geflirtet“, gab die Frau zurück. André knirschte mit den Zähnen, „Ach nee, und was sollte das mit der Belichtungsreihe?“ „Hey, sie ist für Fotografen ein Handwerkszeug!“ „Handwerkszeug?“ Gut, die Frage war ein wenig unintelligent gestellt, aber sie hatte, so dachte sich André, zumindest eine Daseinsberechtigung. „Natürlich. Eine Blenden- und eine Belichtungsreihe brauchen Fotografen, damit man auf den Bildern auch was erkennen kann.“, lächelte Theresa und schaute ihn an, ehe sie den Kopf schüttelte, „Sind wir etwa eifersüchtig?“ „Du doch auch!“, machte André und Theresa seufzte, wieder lächelnd, „Ja, aber – wenn du so vertraut mit Tony tust… du kennst sie doch erst ein paar Stunden.“ „Das ist wahr – aber ich habe bei ihr das Gefühl, als könnte ich ihr alles sagen.“ „Merkwürdig, das gleiche Gefühl habe ich bei Alain.“, sagte die junge Praktikantin und ihr Freund runzelte die Stirn, ehe er fragte: „Ist dir übrigens aufgefallen, dass mich die Beiden, in ihren Manierismen et cetera, an irgendwen erinnern?“ „Ja, jetzt wo du es sagst – aber ich habe keine Ahnung, an wen.“ „Vielleicht können wir helfen“, mischte sich eine Stimme in ihr Gespräch ein. André drehte sich zur Stimmquelle um und kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf. Das, was sich ihnen da gegenübergestellt hatte, sprach einen bedrohlichen Bass und war nicht alleine. Der Typ hatte mindestens drei Kumpane dabei und es hätte André nicht verwundert, wenn nicht noch mehr aus dem kleinen Café herauskommen würden, dass sie gerade passiert hatten. „Wenn Sie mich so fragen“, begann André und legte den Kopf schief, um die Augen zu schlitzen zu verengen, „Nein, uns geht es gut. Aber was wollen Sie?“ In dem Moment hatte der Andere das Klappmesser gezogen und ausgeklappt. André schaute zu Theresa herüber, beide nickten einander zu und warteten. Dann begann der Angriff. Als Chailleau am nächsten Morgen in die Redaktion kam, konnte er seinen Augen kaum trauen. Alain hing über dem Schreibtisch, offenbar war er eingeschlafen. Und kurz bevor er die Tür zu seinem Büro öffnete, war er sich sicher, dass er Tony auf seiner Couch finden würde, die Gesichtszüge entspannt und dem Bildnis eines schlafenden Engels gleichend. Er hätte wetten sollen, als er die Tür öffnete, fand er genau dieses Bild vor und musste lächeln. Es war so typisch für die Beiden, bis spät in die Nacht zu arbeiten und dann hier einzuschlafen, das es für ihn schon mehr oder weniger zum normalen Bild der Redaktion gehörte. Vorsichtig, um die schöne Rothaarige nicht zu wecken, hing er seinen Mantel über den Kleiderhaken und schaltete leise das Radio an. Vielleicht würde ein wenig Musik sie ja sanfter aus dem Schlaf holen, als ein gebrülltes „MORGEN“. Aus dem Empfänger ölte leiser Blues in seine Ohren. Er ließ sich in seinen Sessel sinken und schloss kurz die Augen. Blues – Tony spielte diese Musikrichtung mit der Band um Alain selbst und er erinnerte sich daran, wie er sie einmal beim Spielen gesehen hatte. Wer diese Frau dabei beobachtete, wie sie sich beim Bluesspielen in ein komplett von sich selbst und der Welt entrücktes Wesen verwandelte, der würde dieses Bild nicht so schnell vergessen. Und wie er so zu ihr herüberblickte, sah er, wie der Blues offenbar durch ihre vom Schlaf blockierten Ohren in ihr Hirn drang. Sie wippte mit den Füßen und öffnete die Augen. Realisierend, wo sie sich befand, zog sie sich schnell ihre Schuhe an und blickte ihren Chef an: „Entschuldigung, ich wollte hier nicht eindringen – aber wir haben bis spät in die Nacht gespielt und der Morgen hat uns überrascht und ich wollte mich noch für ungefähr eine Stunde hinlegen und…“ „Es ist in Ordnung“, lächelte Chailleau, „Das machen Sie in letzter Zeit ja öfter. Hoffentlich kommt Madame Leontine nicht auf die Idee Calvignac anzurufen, weil sie denkt, man habe Sie mal wieder verschleppt.“ Die junge Frau schaute ihren Boss entgeistert an, der jetzt laut lachen musste: „Keine Sorge, ich rufe bei Leontine an und sage ihr Bescheid, dass sie hier geschlafen haben.“ Tony nickte nur, stand auf und streckte sich einmal, ehe sie einen Blick auf die Uhr warf: „Ist es schon halb 9?“ Der Chefredakteur nickte bestätigend und schaute die junge Frau an: „Ja, ich habe mich selbst verspätet. Irgendeine polizeiliche Ermittlung. Ich habe einen Krankenwagen gesehen, der aus der Rue De Stockholm gekommen ist.“ Tony schaute ihren Chef an: „Rue De Stockholm? Aber das ist doch auf halbem Weg zwischen der Redaktion und der Kneipe.“ „Ja, das ist richtig“, sagte Chailleau, „Ich bin natürlich sofort zu dem Polizisten gegangen, der die Passanten befragt hat und mir wurde gesagt, dass dort ein junges Pärchen gefunden wurde. Beide waren tot – offenbar hat man sie abgestochen.“ „Abgestochen?“, fragte Tony, „Aber wer macht denn sowas?“ „Gute Frage“, zuckte Chailleau mit den Achseln, „Ich weiß es auch nicht, aber vielleicht setzt ihr euch da mal dran. Das könnte doch etwas für euch sein, ihr löst den Fall doch wahrscheinlich mit links.“ „Naja, so würde ich das auch nicht sagen.“, murmelte die junge Reporterin. Erneut packten Selbstzweifel, ob sie nicht lieber eine einfache Reporterin sein sollte, denn eine Ermittlerin, ihren Geist und schüttelten sie durch. „Und wo wir gerade beim ‚zu spät kommen’ sind“, leitete Chailleau seine Frage ein, „Wo sind eigentlich LaChat und Samedi?“ Tony zuckte mit den Schultern: „Soweit ich weiß, wollten sie, nachdem sie mit uns in die Kneipe gegangen sind, nach Hause gehen.“ Kurz runzelte sie die Stirn: „Wo wohnen die Beiden eigentlich?“ „In einem kleinen Hotel am Gare Saint-Lazare.“, sagte der gerade hereinkommende Alain und gab Tony einen kurzen Kuss auf die Wange, „Entschuldigung, dass ich so reinplatze, aber ich wurde von eurer Unterhaltung geweckt.“ „Der Bahnhof ist doch keine 6 Minuten von hier entfernt, nicht wahr?“, fragte die junge Frau und Alain schüttelte den Kopf, „Nein, du hast recht.“ In dem Moment, in dem Alain dies sekundierte, schaute Chailleau die Beiden an: „Und vom Bahnhof ist es keine 7 Minuten zur Kneipe.“ Alain zuckte mit den Schultern: „Das mag sein, aber … Tony, was ist los? Du siehst gerade ein wenig bleich aus.“ Die junge Frau wandte sich ihm zu: „Der Chef hat gerade erzählt, dass man ein Pärchen auf der Rue De Stockholm gefunden hat. Beide tot. Brutal abgestochen.“ „Die Rue De Stockholm?“, echote Alain und schaute Tony überrascht an, „Aber muss man nicht dann durch diese Straße, wenn man zum Bahnhof will?“ „Ja, das muss man.“ Alains Augen weiteten sich: „Du willst doch wohl nicht sagen…“ „Ich will es garantiert nicht sagen.“, meinte Tony, „und außerdem haben wir noch gar keine Beweise, aber es könnte sein, dass André und Theresa gestern Nacht ermordet worden sind.“ Kapitel 3: Idioten bei der Arbeit --------------------------------- Ein Räuspern lies die Drei herumfahren. In der Tür standen André und Theresa, einander stützend. Blaue Flecken verzierten ihre Haut, beide hatten je ein blaues Auge und Andrés Lippe blutete. „Ich würde noch nicht anfangen, unsere Nachrufe zu schreiben.“, schlug er vor, dann sank er auf die Knie und klappte in sich zusammen. Theresa rollte mit den Augen. „Ich hab ihm dreimal gesagt, dass er zum Arzt gehen soll, aber offenbar findet er es toll, immer wieder ohnmächtig zu werden. Oder er will vor einer gewissen Person hier angeben“, sagte sie spitz und fixierte Tony mit den Augen, die mit den Schultern zuckte: „Ich weiß nicht, wovon du redest, Theresa. Aber du könntest erzählen, was passiert ist.“ „Wie schon gesagt, wir wurden überfallen.“ „Wie ist denn das passiert?“, fragte Tony und ging besorgt zu Theresa herüber, „Geht es euch gut?“ „Meine Ehre ist ein wenig angeknackst“, meinte die Praktikantin, während André vom Boden murmelte: „Mir geht’s gut!“ „Das glauben wir Dir“, seufzte Theresa und schaute dann wieder zu Tony herüber: „Nun, wie schon gesagt, wir waren auf dem Rückweg von der Feier und plötzlich waren diese Typen da. Der Eine zog ein Messer und ließ es aufschnappen. Naja – ich…“ „Das hättest Du sehen müssen, Tony“, murmelte André, der sich gerade aufrappelte: „Poesie in Bewegung. Sie hat Karate gelernt und kann sich entsprechend gut verteidigen.“ „Ach was“, machte Theresa mit wegwerfenden Handbewegungen, „ich kann mich leidlich meiner Haut erwehren.“ „Quatsch“, machte ihr Freund und schaute zu Tony und Alain herüber. In den Augen des Praktikanten funkelte Begeisterung und Liebe, „Die Frau ist gut. Ich habe selten jemanden gesehen, der sich so geschickt und gut bewegen kann.“ Alain räusperte sich: „Das mag schon sein, aber Tony ist auch nicht schlecht. Sie hat Karate bei Bricolage gelernt und der hat immerhin den schwarzen Gürtel.“ „Nicht übel“, meinte André, „Aber gegen meine Theresa hat sie keine Schnitte.“ Theresa und Tony schauten einander an und beide Frauen wussten, was im Kopf ihrer jeweiligen Freunde vorging. Typisches Erpelgebahren – aufplustern, um nicht als ‚inferior’, also minderwertig, da zu stehen. Einander zulächelnd, wandten sich die beiden Frauen voneinander ab, gingen zu ihrem jeweiligen Arbeitsplatz und ließen sich nieder. Währenddessen waren die beiden Männer aufeinander zu gegangen. „Meine steckt deine locker in die Tasche“, meinte André gerade, während Alain mit einem „Das glaubst Du doch selbst nicht.“ konterte. Dabei wunderte er sich, warum er sich auf diese Art des Konkurrenzkampfes einließ. Er war doch normalerweise recht zurückhaltend? „Nun“, meinte Tony plötzlich von ihrem Sitzplatz her, „Vielleicht sollten wir den Hahnenkampf bis nach der Arbeit vertagen, wie wäre es damit?“ Alain und André schauten einander an, überlegten und nickten dann: „Gute Idee.“ Das hatten beide in derselben Wortwahl, demselben Duktus und derselben Stimmmodulation gesagt, sodass sich Tony erneut die Frage, woher ihr dieses Verhalten bekannt vorkam, stellen musste. Nachdem sich André zu ihr gesetzt hatte, und Tony begonnen hatte, einige Zeilen zu Papier zu bringen, stoppte die Journalistin und schaute ihren Praktikanten an. „Wart Ihr eigentlich schon bei der Polizei?“, fragte sie und der junge Mann schüttelte den Kopf: „Tut mir leid, dazu hatten wir keine Zeit.“ „Wie, ihr hattet keine Zeit?“ „Nun, weißt Du, Theresa hat sich und mich nach Hause geschleppt und kaum, dass sie mich ins Bett verfrachtet hatte und ich merkte, wie mein Bewusstsein noch mehr schwand, als es das vorher schon getan hatte, merke ich noch, wie sie sich nicht mehr auf ihren Armen halten kann und neben mir ins Bett sinkt. Ich erinnere mich noch, wie ich sie in die Arme nehme und dann – naja, einschlafe oder ohnmächtig werde, ich glaube, das kann man so und so sehen.“ Die Journalistin schüttelte ungläubig den Kopf: „Und dann seit Ihr einfach so, als ob nichts gewesen wäre, zur Zeitung gekommen?“ „Ja“, nickte der Mann, „Wir konnten uns doch nicht sofort am zweiten Tag einen Fehltag leisten.“ „Wie kann man nur so dumm sein?!“, entfuhr es Tony und André schaute sie überrascht an, als ihre Stimme – ein Ausdruck der Kraft und der Wut – die angemessene Lautstärke für Raum und Uhrzeit um einige Dutzend Dezibel überstieg. „Bitte?“, fragte André die junge Frau und sie schaute ihn an, als könnte sie gar nicht fassen, was sie da gerade gehört hatte, „Ihr kommt jetzt mit.“ Es war eine Feststellung, keine Bitte, keine Frage. Sie griff Andrès Handgelenk – nicht gerade sanft, wie der Praktikant fand – ging zu Theresas Tisch, griff auch sie und ging dann zum Büro von Monsieur Chailleau. Als das Klopfen erklungen war, öffnete der Redakteur die Tür und schaute die Versammlung verblüfft an: „Was ist los, Tony?“ „Ich bringe die beiden zu Inspecteur Calvignac – sie waren noch nicht bei der Polizei.“ Auch Chailleau war fassungslos: „Dann solltet Ihr das so schnell wie möglich nachholen.“ Gut – die Fassungslosigkeit Chailleaus hielt sich optisch ziemlich in Grenzen, allerdings erkannte Tony, das auch er ziemlich überrascht von der Dummheit der Beiden gewesen war. „Siehst Du, André, ich habe es Dir gesagt. Wir hätten erst zur Polizei und dann ins Krankenhaus gehen sollen.“, zischte Theresa ihm zu und der junge Mann zog schuldbewusst den Kopf ein, „Gut, dann – gehen wir jetzt.“ Das Büro von Gustave Calvignac entsprach im Großen und Ganzen dem Bild, das man in der Regel von einem Polizeibüro hatte. Da war der Schreibtisch, das Fenster mit Blick auf Paris, Fotos die ihn mit seiner Frau zeigten – und da war vor allem die Pfeife, die sich der Schnauzbart, zu dem Calvignac gehörte, gerade anzündete. „So“, meinte er, nahm einen Zug und schaute zwischen Tony, Alain, André und Theresa hin und her – die beiden Praktikanten erinnerten ihn an wen. Wenn er jetzt nur wüsste, an wen? „Sie sagen also, Sie sind auf der Rue de Stockholm überfallen worden, ja?“ „Das ist richtig“, sagte Theresa und schaute den Polizisten an, der sich räusperte: „Und Sie sind bestohlen worden.“ „Ja.“ „Was genau wurde gestohlen?“ Theresa schaute zu André, räusperte sich dann und wandte dann ihre Aufmerksamkeit voll auf Calvignac auf: „Eine Brosche. Sie war ein Geschenk von Lord MacGuffin.“ Nun hob André eine Augenbraue: „Lord MacGuffin? Mir hast Du gesagt, Du hättest es Dir in diesem neuen Geschäft gekauft – Wollewert , oder wie das heißt.“ Calvignac räusperte sich: „Ich darf Sie bitten, die Befragung nicht zu unterbrechen?“ „Entschuldigung, Monsieur L’inspecteur“, lächelte André freundlich, „Ich wusste nur nicht, dass es sich bei dieser Brosche um ein Geschenk von diesem Schleimbeutel MacGuffin gehandelt hatte.“ „André!“, machte Theresa und schaute ihn böse an: „Lord MacGuffin ist kein Schleimbeutel.“ „Nein, natürlich nicht“, sagte der Journalistenpraktikant und funkelte nun seinerseits ein wenig böse, „Deswegen hast Du mir auch nicht gesagt, von wem das Geschenk ist, nicht wahr?“ „André!“, machte Theresa erneut und der Angesprochene hob die Hände, „Ist ja schon gut. Ich sag ja gar nichts mehr.“ Sie wurden befragt. Theresa und André sagten aus, an was sie sich je erinnern konnten, bei Theresa war die Menge an Erinnerungen eindeutig mehr, während André sich nur an die Faust des größten Typen erinnern konnte, die ihm einen Kinnhaken verpasste. Anschließend konnte er noch fragmentarisch beschreiben, wie Theresa gekämpft und ihn dann versucht hatte, zu wecken, um mit ihm ins Hotel zu gehen. Plötzlich schaute Tony zu Alain und bedeutete ihm, mit ihr vor die Tür zu kommen, was dieser, nach einem kurzen, verwirrten Seitenblick auch tat. „Sag mal“, setzte die Frau an, kaum, dass sie draußen waren, „was hältst Du, von der Sache?“ „Ich weiß nicht. Ich meine, so wie Calvignac es gesagt hat, könnten es Mitglieder dieser Bande sein, die Paris in der Nacht unsicher macht – du weißt schon, die ‚terreurs de la nuit’.“ Die Frau nickte: „Das könnte wirklich sein – oder natürlich: Die beiden Herren gehören zu Madame Lapin.“ Der Fotograf legte den Kopf schief: „Meinst Du?“ „Es könnte sein.“, erklärte sie, „Ich meine, wenn die Brosche wirklich ein Geschenk von Lord Archibald MacGuffin ist, dann ist sie sicherlich wertvoll. Und wir wissen, dass Madame Lapin für wertvolle Schmuckstücke schwärmt.“ „Da hast Du recht, das wissen wir wirklich“, nickte der Mann und schaute zu seiner Freundin herüber, „Dann sollten wir uns, nachdem wir Theresa und André eingeweiht haben, auf die Suche machen.“ „Nein“, schüttelte Tony den Kopf, „Du hast doch gehört, wie die Beiden sich in einer Krise verhalten. Er geht fast sofort zu Boden, kann sich selbst also nicht beschützen. Und, so wie ich André einschätze, wird er sich von so etwas wie „Sicherheit“ nicht davon abhalten lassen, uns helfen zu wollen. Besonders, wenn es darum geht, seine Freundin zu verteidigen.“ „Ja, da hast Du recht, Tony“, stimmte der Fotograf zu, „Wir sollten sie wirklich nicht einweihen.“ Und während im Büro von L’Inspecteur Calvignac André und Theresa befragt wurden, machten sich Tony und Alain auf den Weg, ihre eigenen Erkundigungen einzuziehen. „Ah, Mademoiselle Antoinette“, lächelte der ältere Herr und schaute die Frau an, die ihm ein Brötchen reichte, „Es ist immer schön, wenn ich Besuch von ihnen bekomme.“ Direkt vor ihm baute sich eine Weinflaschenlandschaft auf, die ihres Gleichen suchte und der ältere Herr blinzelte ihr mit klugen Augen zu. „Pierre, es ist immer schön, Dich zu sehen“, meinte die Reporterin mit einem sanften Lächeln in der Stimme, was den Angesprochenen dazu bewog, die Augenbrauen amüsiert zu heben. „Wenn Du mich des Öfteren sehen wollen würdest, würdest du mich auch öfter besuchen“, meinte er mit gutmütiger Stimme und schaute die schöne Frau an, „Wie kann ich dir helfen?“ „Freunde von mir hatten gestern einige Schwierigkeiten“, sagte Tony und der Mann schaute zu ihr herüber: „Ach und welche Art von Schwierigkeiten?“ „Die“, grinste Tony, „für die Du der richtige Mann bist.“ „Ach, und wie kann ein einfacher Kreditgeber dir Da helfen? Ich glaube nicht, dass deine Freunde Geldsorgen haben.“, lächelte Pierre und Tony schüttelte den Kopf: „Das nicht, aber – vielleicht kannst Du dich ja mal umhören.“ „Umhören?“, fragte der Mann und überlegte: „Nun, ich könnte meinen Sohn fragen, ob er was gehört hat. Der kleine Francis will ins Familiengeschäft einsteigen – er ist unnachgiebig, wie ein Eispickel.“ „Ich bin sicher, er wird Dich stolz machen, Pierre“, meinte Tony und der Mann nickte: „Ja, das wird er. Meine Zeit endet, Tony – bald wird die Zeit von Francis Hoffstetter anbrechen.“ „Dann weiß ich ja, zu wem ich dann kommen werde“, lächelte Tony und schaute den alten Mann an, „Vorher brauche ich aber deine Hilfe.“ „Natürlich, Tony, alles was Du willst, Liebling.“ „Also – meine Freunde wurden überfallen und meiner Freundin wurde eine wertvolle Brosche gestohlen. Sie gehörte Lord MacGuffin, vielleicht – könntest Du dich mal umhören?“ Pierre Hoffstetter nickte und hörte sich die Beschreibung Tonys an. „Es handelt sich um die Mitglieder einer Diebesbande“, erklärte Tony wenig später dem verdutzten Calvignac, „Sie stehlen Schmuckstücke, um sie auf dem Schwarzmarkt anzubieten. Da dürften Sie keine großartigen Probleme haben, ihrer habhaft zu werden.“ Die junge Frau lächelte den Inspektor freundlich an, der sie komplett verdattert anstarrte, ehe er aufsprang: „Ich habe Ihnen doch schon einmal gesagt, dass Sie sich nicht in Polizeiermittlungen einmischen sollen, Mademoiselle Tony.“ „Ja, aber wenn wir warten, bis Sie den Dieb gefangen haben, Herr Inspektor, hat Theresa ihr Schmuckstück noch nicht mal als alte Großmutter wiederbekommen“, meinte die Frau und zwinkerte dem Polizisten zu: „Außerdem, sehen Sie es als Wiedergutmachung für die Sache mit Madame Lapin.“ Calvignac knurrte. Dann schaute der Tony an und machte eine wegwerfende Handbewegung: „Wir versuchen immer noch, sie zu fangen – aber, bisher: Kein Erfolg.“ „Das hatte ich befürchtet.“, meinte die Frau und schaute zum Inspektor: „Es tut mir leid, wenn ich Ihnen …“ „Schon gut, Mademoiselle Tony, schon gut – wir sind solche Fehlschläge ja leider inzwischen gewöhnt. Es ist nicht so, dass es etwas neues wäre, dass uns Madame Lapin durch die Lappen geht.“ „Schon, aber dennoch, es… es ist frustrierend.“ „Das ist es“, nickte Calvignac und kaute an seiner Pfeife, ehe er zu André und Theresa herübersahen, die immer noch in den beiden Stühlen vor ihm saßen, „Aber das braucht Sie nicht zu interessieren. Ich habe aber eine gute Nachricht für Sie.“ „Die haben wir gerade schon mitbekommen“, schnitt André eine Grimasse und fing sich einen Stoß in die Rippe von Theresa ein, die ihm ein „Nicht so vorlaut“ zu zischte. „Was heißt hier nicht so vorlaut?“, fragte André und stand auf, „Wir wissen, wo die Klamotten sind, gehen wir hin und schnappen uns die Brosche!“ „Das ist nicht so einfach“, schritt Alain ein, „Schließlich müsstet Ihr dafür bei dieser Bande einbrechen und…“ Das „Alain!“ von Tony war eine Spur zu laut und André hörte es auch gar nicht mehr. Er lächelte dem jungen Fotografen zu: „Danke für die Idee.“ „Das werden Sie nicht tun.“, sagte Calvignac und schaute zu André und Theresa herüber, die nun ebenfalls aufstand und einen Arm um Andrés Schultern legte: „Nein, das werden wir nicht tun. Versprochen.“ Kaum, das sie das Gebäude verlassen hatten, schaute der Journalistenpraktikant gen Himmel, breitete beide Arme aus und sprach, in einem extrem leidenden Ton: „So geht unser Rechtsstaat zu Grunde! Armes Frankreich. Justitia ist umsonst verbrannt worden!“ „Da wirfst Du aber einiges durcheinander“, lächelte Tony, „Justitia ist blind, es war Jeanne D’Arc, die verbrannt wurde.“ „Weiß ich.“, sagte André, „ich wollte nur meiner Laune ausdruck verleihen.“ „Dann tu das aber bitte mit Gleichnissen, die auch passen“, meinte nun Theresa und der Praktikant rollte mit den Augen, als auch noch Alain sagte: „Ja, das wäre wirklich besser.“ „Jeanne D’Arc, hol mich ab, ich werde hier inquisitiert, ich bin fertig mit der Welt“, rief André mit theatralisch ausgebreiteten Armen gen Himmel, was ihm ein Gelächter von den drei Leuten eintrug, die mit ihm unterwegs waren. Der Praktikant lächelte kurz, wurde wieder ernst und schaute ins gesellige Rund: „Aber mal so unter uns, ich verstehe das nicht. Dein Freund hat sich umgehört, es hat funktioniert, wir haben die Namen und? Was gibt es Neues? Richtig – nichts. Wir können nichts tun, außer selbst zu handeln.“ „Ja, aber Calvignac hat gesagt, dass wir das nicht machen dürfen.“, wandte Theresa ein, und Alain, der gerade etwas sagen wollte, bekam von Tony, die wusste, was Alain sagen wollte, einen grimmigen Blick. Schließlich musste er den Beiden nicht unbedingt auf die Nase binden, dass ihre Methoden, gegen Madame Lapin zu kämpfen, auch nicht unbedingt legal waren. André warf einen Blick auf die Uhr: „Junge, ist das spät. Kein Wunder, dass ich Hunger habe.“ „Gibt es irgend ein gutes Restaurant hier, dass Ihr uns empfehlen könntet?“, wollte Theresa nun wissen, doch Tony schüttelte den Kopf: „Wir sind in der Nähe meiner Wohnung – und ich bin sicher, dass Madame Leontine uns was Schönes gekocht hat. Schließlich war ich in den letzten Tagen nicht zu Hause und da macht sie sowas.“ Natürlich hatte Tony recht mit ihrer Vermutung, denn kaum, dass sie geklopft hatte, öffnete sich die Tür und eine sympathische ältliche Frau blickte aus großen Augen in die versammelte Reporterschar. „Meine Güte, Kinder“, lächelte sie, „Kommt doch rein. Ich mach euch was Leckeres – Du fällst ja fast vom Fleisch, Tony.“ Damit war Madame Leontine in der Küche verschwunden und André schaute ihr verdattert hinterher. „Sie erinnert mich an Madame Clementine bei uns im Dorf, dich nicht auch, Theresa?“ Die Angesprochene nickte: „Ja, stimmt. Madame Clementine ist auch so hilfsbereit. Ich muss da nur anklopfen, schon heißt es ‚Kommt rein’ und keine halbe Stunde später steht ein großes Quiche auf dem Tisch.“ „Quiche kann ich nicht anbieten“, kam es aus der Küche, „Aber einen Schweinebraten mit Fenchel und Kräutern wollte ich heute sowieso machen. Es macht für mich also keine Umstände.“ Damit kam sie wieder aus der Küche und lächelte – wie es nur alte Frauen können – freundlich in die Runde: „Setzt euch doch, ihr müsst meinetwegen nicht stehen.“ „Madame Leontine, wir wollten eigentlich oben essen – dann können wir noch ein wenig arbeiten.“, lächelte Tony, was bei Madame Leontine ein Lächeln auslöste: „Wieder ein schwieriger Fall, Tony?“ „So kann man es nennen – Theresa ist eine Brosche gestohlen worden und wir wollen versuchen, sie wieder zu beschaffen.“, sagte die rothaarige Reporterin und André schaute sie verblüfft an: „Ich denke, das dürfen wir nicht?“ „Dürfen wir auch nicht – aber es kann nicht schaden, auf alles vorbereitet zu sein, oder?“, fragte Alain grinsend. „Das ist schick hier“, machte Theresa und schaute sich um, „Du hast ja wirklich einen einmaligen Ausblick.“ Sie stand an einem der vier Wohnzimmerfenster und schaute nach draußen in die Straßen Paris, in denen sich langsam das Nachtleben der Hauptstadt seine Wege suchte. Die Dämmerung war schon stark fortgeschritten, unten wurden die Gaslaternen angemacht und das elektrische Licht der Wohnung schien gegen die Scheibe, sodass jemand, der nicht am Fenster stand nur Theresas sanfte Züge erkennen konnte, die sich im Fenster spiegelten. „Ja“, lächelte Tony und holte ihre Reiseschreibmaschine hervor, um wenigstens ein wenig über diesen erlebnisreichen Tag zu schreiben. Sie stockte und schaute zu Alain, der ebenfalls am Fenster stand und nach draußen schaute. Sie wusste, woran er jetzt dachte, wenn er so da stand und in Richtung des Eifelturms blickte. Dort war damals eine sehr verworrene Aktion gelaufen – Madame Lapin hatte versucht, den Eifelturm mit einer Bombe zu sprengen und Tony und Alain hatten es verhindert. Vorher hatte der Fotograf noch ein Foto von der Madame gemacht – so hatte sie es zumindest geglaubt, was in der Entführung von Tony gegipfelt hatte. Sie wusste, dass er dann immer noch das Gefühl hatte, das er Tony verlieren würde. Sie hatten nach der Entführung lange und ausführlich darüber gesprochen – hier in diesem Zimmer, auf dem Fußboden mit je einem Glas Wein in der Hand. Und sie hatte ihm geschworen, dass sie alles tun würde, um die Madame zu fassen. André zog gerade den Stuhl ein wenig zurück, merkte, dass das weiße Kissen, das auf dem Stuhl lag, eine merkwürdige gelbe Mütze trug, ehe er sich auf das Kissen setzen wollte. In diesem Moment hörte er jedoch schon ein Fauchen und spürte Krallen in seinem Allerwertesten. „AU!“, brüllte er und schaute zu dem Sitzkissen, das vom Stuhl gesprungen war und ihn nun warnend anfauchte. „Filippo!“, machte Tony und schaute den Kater mißbilligend an, der Anlauf nahm und ihr auf die Schulter sprang. Sich den Hintern haltend, schaute er zu dem Tier, die nun wieder wohlig schnurrte, als Tony den Kater in den Arm nahm. „Ist das Deine?“, fragte er knurrend, was Filippo wieder zu einem lauten, warnenden Fauchen animierte. „Filippo!“, mahnte die Rothaarige, ehe sie zu André herüber nickte: „Ja, das ist meiner. Ich bin mit ihm vom Land hierher gezogen und kann mir ein Leben ohne Filippo nicht mehr vorstellen.“ Ein leichtes Lächeln legte sich auf ihre Lippen, als sie den Kater griff und ihm sanft über den Kopf kraulte, was diesen wieder zum Schnurren brachte. Auch Theresa lächelte: „Och André, ist er nicht goldig?“ „Mhm“, machte der junge Mann und tastete nach seiner Verwundung, ehe er zusammenzuckte, „Ich werde mich mit ihm anfreunden, sobald ich wieder sitzen kann.“ Damit ließ er sich sachte und vorsichtig auf seinen Platz nieder. Keine Sekunde zu früh, denn es klopfte an der Tür Madame Leontine kam mit einer großen Kasserolle in die Wohnung der Reporterin. „So, Kinder, dann wünsche ich euch einen guten Appetit.“, lächelte sie und wandte sich zum Gehen um. „Madame Leontine?“, fragte Tony und die ältere Frau drehte sich um. „Ja, Tony?“ „Danke“, lächelte die Reporterin mit einem warmen, wirklich dankbaren Lächeln. Madame Leontine machte eine wegwerfende Handbewegung: „Nicht dafür, mein Kind, nicht dafür.“ Und schon ging sie zur Wohnungstür. „Wenn Sie wollen, setzen Sie sich“, bot ihr Tony an, doch die Madame drehte sich lächelnd um: „Nein, Kinder, Ihr müsst noch arbeiten, da würde ich nur stören.“ Alain schüttelte den Kopf: „Unsinn, Madame, kommen Sie.“ „Nein, nein“, schüttelte Madame Leontine den Kopf, „Wenn ihr euch nachher mit mir unterhalten wollt, stehe ich euch gerne zur Verfügung, aber jetzt esst, sonst wird der Braten kalt.“ Während Alain und Tony einander ansahen und dann aßen, während Theresa genießerisch mit den Augen rollend feststellte, dass dies der wohl beste Schweinebraten sei, den sie je gegessen hatte und während André versuchte, sich mit Filippo zu vertragen, was darin endete, dass der Kater ihn mehr als nur einmal kratzte und biss, schloss der Nachtwächter im Petit Palais gerade die Tür und machte sich auf seine erste Runde. Seiner eisernen Routine folgend, machte in seinem kleinen Büchlein schriftlich den Vermerk, dass, seiner Zählung zufolge, alle Ausstellungsstücke - beispielsweise Paul Cézannes „Trois Baigneuses“ - noch vorhanden waren. Auch das Werk „Herculaneum“, ein Gemälde, das die Stadt Herculaneum während des Ausbruchs des Vesuvs zeigte, war noch vorhanden. Doch, als der Nachtwächter seine zweite Runde drehen wollte, war das Bild nicht mehr an seinem Platz. Gerade konnte er noch eine zierliche Gestalt entdecken, die aus dem Fenster kletterte, als ihn eine Faust am Hinterkopf traf und er in Ohnmacht fiel. Und während Alain, Tony, André und Theresa gerade dabei waren, an ihren Artikeln zu arbeiten, ahnten die Vier noch nicht, dass sie bald in eine Verschwörung verstrickt werden würden, die keiner von ihnen auch nur im Ansatz begreifen konnte. TBC Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)