Geheimnisse in Paris von CaptainCalvinCat ================================================================================ Kapitel 2: Tonys Ultimatum -------------------------- Die Tür öffnete sich und Alain, sowie die anderen Beiden, die ihm Gesellschaft leisteten, blickten die rothaarige Schönheit an, die das Büro von Chefredakteur Chailleau verlassen hatte. Tony seufzte leicht genervt auf und fokussierte den dunkelhaarigen Typen, der auf ihrem Platz saß und sie anblickte, als habe sie ihn mit der Hand in der Keksdose erwischt. „Gut.“, sagte sie und trat auf ihn zu. Er runzelte verwirrt die Stirn. „Gut?“, garagentorquietschte er und schaute sie verdattert an, „Was meinen Sie mit Gut?“ Ein Augenrollen verunstaltete für einen Bruchteil einer Millisekunde Tonys wunderschönes Gesicht, ehe sie ihn erneut anschaute: „Zwei Tage.“ Erneut blickte André sie verwundert an. Man konnte förmlich hören, wie die Zahnräder in seinem Gehirn arbeiteten, aber offenbar kam kein verwertbares Ergebnis heraus. Theresa war schneller. Mit einem mittellauten „Juhu“ machte sie ihrer Freude Ausdruck, umarmte erst Tony, dann Alain, der ein wenig rot anlief und sich ein amüsiert-tadelndes „Alain, wo schaust Du wieder hin?!“ von Tony einfing. Anschließend umarmte Theresa ihren Freund, der sie immer noch verdattert anblickte und nun mit einer Spur von Missbilligung die Stimme erhob. „Hättest Du was dagegen, mir nicht so ins Ohr zu brüllen?“, fragte er und seine Stimme garagentorquietschte nicht mehr. Sie zeigte neben dem, dass sie sich in den Tenor herüber wandelte, auch noch eine Spur Schärfe. Theresa erwiderte seinen Blick und grinste amüsiert. „Du hast es immer noch nicht verstanden, oder?“, fragte sie und ihre Stimme klang samtweich. Sie kam ein wenig näher, beugte sich über ihn und flüsterte: „Wir sind angenommen worden.“ Diese Information brauchte ein paar Sekunden, um verarbeitet zu werden und Theresa bewegte sich schon in einen gewissen Sicherheitsabstand. Offenbar wusste sie, was nun kam, denn André stieß ein lautes „YES!“ aus, sprang vom Sitzplatz auf und rief nochmal „YES!“. Dann folgte er dem Beispiel seiner Freundin und nahm Tony in die Arme, während er Alain die Hand reichte. Die Reporterin und der Fotograf wechselten einen verdatterten Blick. Nach ein paar Takten des Einarbeitens setzte sich Tony an ihre Schreibmaschine und begann ihren Artikel fortzusetzen. Doch als sie tippte, bemerkte sie, dass dort einige Wörter standen, die sie gar nicht geschrieben hatte. Verärgert blickte sie zu André: „Warst Du das?“ Der Praktikant schien plötzlich den Pariser Abendhimmel sehr interessant zu finden, denn er wandte sich von ihr ab und warf einen Blick nach draußen, ehe er leise, kaum hörbar, mit einem verschämten „Ja“ antwortete. Seufzend machte die Frau sich daran, das Blatt aus der Maschine auszuspannen, als sie den Text las, den er dazu geschrieben hatte. Und mit einem nicht ganz so wütenden Ruck wie vorher, hatte sie das Blatt aus der Maschine geholt, um ein Neues einzuspannen. Das Alte faltete sie zusammen und steckte es in ihre Brusttasche. Er hatte nicht allzu schlecht geschrieben – aber es bedurfte der journalistischen Übung, um den Praktikanten wirklich zu einem Journalisten werden zu lassen. Aber das gewisse Grundtalent war da. Sich wieder mit der Reportage beschäftigend, wandte sie sich – sie war eine Frau, sie konnte mehrere Dinge gleichzeitig tun – an André: „Ich werde mir mal zu Hause durchlesen, was du da verzapft hast – aber tu so etwas nie wieder, ohne zu fragen, klar?“ Der Praktkant drehte sich zu ihr um, strahlte plötzlich und nickte. „Gut, dann kannst Du mir über die Schulter schauen.“ Wie unerträglich gönnerhaft das klang, merkte sie erst, als sie es gesagt hatte und schüttelte über sich den Kopf. „Ich wollte sagen, wenn Du magst, kannst Du mir über die Schulter schauen.“, verbesserte sie sich und André nickte begeistert: „Klar, wenn Sie mir ein paar Tipps und Kniffe beibringen könnten, wäre ich wirklich begeistert!“ Die Frau schaute ihn an und lächelte kurz. „Wenigstens einer hat hier seinen Spaß.“, schoss es ihr durch den Kopf. Es war nicht einer, es waren zwei, die Spaß hatten. Theresa schaute Alain über die Schulter, während er mit seiner Kamera ein bisschen „herumspielte“. Den Blick durch den Sucher der Kamera gerichtet, versuchte er nämlich, von der konzentrierten Tony ein weiteres Foto zu machen – nicht, dass er es unbedingt machen müsste, er hatte schließlich einige Exemplare dieses Motives, aber, es gab an jedem Bild einige kleine Unterschiede. Mal hob sie ihre Augenbraue anders, mal funkelten die Augen als solche richtig lebendig und mal hatte sie den Mund zu einem Lachen geöffnet oder schmollend geschlossen. Er war Fotograf mit Leib und Seele und wollte dieses überirdisch-schöne Wesen, das seine Freundin war, unbedingt in allen Lebenslagen auf Film gebannt haben. Theresa schaute ihn an und grinste. „Sie sind wirklich sehr in Tony verschossen, nicht wahr?“, fragte sie mit einem neckischen Grinsen und einem leisen Flüstern, was Alain beinahe die Kamera aus der Hand hätte fallen lassen. „Wie kommen Sie darauf?“, fragte er und schaute sie verblüfft an. Das Lachen Theresa Samedis war glockenhell und lies André kurz zu ihr blicken. Dann schaute der junge Praktikant Alain an und fixierte ihn mit einem finsteren Blick, in dem mehr als deutlich geschrieben stand: ‚Pack meine Freundin nicht an, Kerl.’ Das auch Tony Alain einen warnenden Blick sandte, bekam der Praktikant gar nicht mit. Alain schien diesen Blick jedoch auch nicht unbedingt wahrzunehmen, denn er wandte sich an Theresa und lächelte: „Also, was wissen Sie denn über Fotografie?“ „Nun“, begann Theresa und ratterte schnell einige Fakten herunter – inklusive einer fotografischen Zeitleiste. Dabei begann sie beim Araber ibn al-Haitham, der für eine der ersten Lochkameras, beziehungsweise „Camera obscura“ verantwortlich zeichnete. Auch die Chemie, die mit der Fotografie zu tun hatte, sparte sie nicht aus, erwähnte die beiden Herren Schulze und Scheele, zwei Deutsche, die indirekt für das bildgebende Verfahren als solches verantwortlich waren – sie fanden nämlich heraus, dass gewisse Stoffe bei Belichtung dunkel wurden. Und natürlich erwähnte sie die Namen Daguerre und Niépce – beide dafür bekannt, dass sie die ersten „Lichtbilder“ gemacht hatten. Natürlich nannte sie noch andere Namen und Fakten, die mit der Fotografie direkt – oder indirekt – zu tun hatten, und André schaute seine Freundin mehr als nur baff an. „Nicht schlecht“, meinte Alain lächelnd und schaute sie an, „Gut wiedergegeben, sehr gut. Dann weißt du vermutlich, dass das Bild von Niépce den Blick aus seiner Dachkammer in Saint-Loup-de-Varennes zeigt?“ Theresa legte den Kopf schief. „Tut sie das?“, fragte sie und man konnte ihr ansehen, das sie mehr als nur überrascht war. „Ja“, lächelte Alain und schaute zuerst sie an, anschließend die Kamera. Nun zog er seine Stirn kraus und man konnte deutlich erkennen, dass er über einer Frage brütete. „Hmmm, kannst Du mir sagen, was eine Belichtungsreihe ist?“ Als der Redaktionsschluss nahte, hatte Tony ihren Artikel fertig geschrieben und zog ihn aus ihrer Olivetti. Jeder, der sich mit ihrer Gefühlslandschaft auskannte, wusste, dass sie momentan sehr besorgt war – Madame Lapin war auf der Flucht, vermutlich würde sie wieder versuchen, Tony ein Schnippchen zu schlagen. Das hatte sie schließlich nicht zum ersten Mal gemacht – einmal hatte die Madame Tony entführen lassen, dann war es eine Halskette gewesen, die sie vorher gestohlen hatte und die Tony als die Diebin hätte darstehen lassen sollen. Irgendwie würde es Madame Lapin einfach immer schaffen, sich der Verhaftung zu entziehen und Tony war kurz davor, aufzugeben. Dann fiel ihr Blick zu Alain, der Theresa gerade erklärte, wie diese Kamera funktionierte und was sie beim Umgang mit einer Kamera wissen musste. Dieses Bild – normalerweise wäre es eine Situation unter vielen gewesen. Nichts besonders Aufregendes, außer der Tatsache, dass ihr Freund es schaffte, sich für das Fotografieren dermaßen zu begeistern. Aber, er war, das wusste Tony, Fotograf mit Leib und Seele. Und während sie Alain so betrachtete, blickte er auf und ihre Blicke trafen sich. Sie spürte, wie seine Nähe sie elektrisierte. Und ohne, dass sie wusste, weswegen, stahl sich ein Lächeln auf ihre Lippen. Nein, sie würde die Jagd auf Madame Lapin nicht aufgeben. Nicht um Alles in dieser Welt. Diesen Wunsch in ihrem Herzen festhaltend, wandte sie sich wieder zum Büro Chailleaus um, ging zu ihm und klopfte höflich. Redaktionsschluss. André Lachat warf einen Blick auf die Uhr, die gerade 9 Uhr anzeigte und lächelte. Wie gut, dass er und Theresa es nicht so weit zu ihrer momentanen Bleibe hatten. Der junge Praktikant wandte sich dann verstohlen zur Schreibmaschine um, spielte für den Bruchteil einer Millisekunde mit dem Gedanken, ein Blatt einzuspannen und über seinen ersten Tag zu berichten, aber – er zog es dann doch vor, einen Schreibblock und einen Stift zu bemühen. Dann, diesen Beschluss gefasst, wandte er sich zu Alain und Theresa um. Der Fotograf erklärte ihr gerade irgendwelchen Fotografischen Krimskrams, den er sowieso nicht verstand, aber er merkte, wie es in ihm rumorte. Und das lag nicht an dem Baguette, das er sich in der Bäckerei schräg gegenüber zum Abendessen gegönnt hatte, es lag schlicht und ergreifend an dem Fakt, dass seine Theresa von diesem Typen offenbar so blendend unterhalten wurde, dass sie ihn scheinbar vergessen hatte. Das ärgerte Lachat und er räusperte sich. „Hey Theresa, es ist gleich Feierabend.“, lächelte er, „Wollen wir dann gleich nach Hause, oder möchtest Du dich hier noch ein wenig umschauen?“ Die junge Frau hob den Kopf, doch gerade, als sie antworten wollte, meldete sich Alain zu Worte: „Was willst Du hier in diesem Quartier sehen? Hier gibt es nicht viel Interessantes – aber wenn Ihr mögt… ahm, es gibt in der Nähe ein kleines Bistro…“ Gerade, als er weitersprechen wollte, öffnete sich die Tür des Chefredakteurs und Tony verließ den Raum. Ihr Gesicht spiegelte gute Laune und Ausgeglichenheit wieder – offenbar war der Artikel angenommen worden und Tony froh, diesen Artikel los zu sein. „Was haltet Ihr davon“, begann Tony, „Wenn wir uns die Band noch anhören?“ „Die Band“, echote André fragend und die junge Rothaarige nickte: „Ja, Alain und seine Freunde haben eine Band und die müsste heute spielen. Das träfe sich, dann könnte ich mal wieder Saxophon spielen.“ Der Praktikant schaute sie an und hob fragend eine Augenbraue. „Wollten Sie uns nicht vor knapp 2 Stunden noch am Liebsten wieder los sein?“, fragte er, wenngleich er dabei ein wenig zögerlich klang. Tony blickte ihn an und lächelte: „Entschuldigung, wenn ich so grob war. Aber – die Sache mit Madame Lapin ist mir ein wenig nahe gegangen.“ „Das verstehen wir doch“, mischte sich Theresa ein und warf einen warnenden Blick zu André herüber, „oder?“ „Ja, ja das tun wir.“, schaute der Praktikant erst zu Theresa, und dann, sich an den Kragen greifend, zu Tony herüber. „Dann ist es abgemacht.“ André und Theresa standen in der Tür des Bistros, in dem die Band um Tony und Alain noch einen kleinen „Rausschmeißer“ spielte – den Reporter Blues, den die Band zu Tonys Geburtstag komponiert hatte. „Ihr spielt wirklich toll.“, meinte die rothaarige Schönheit in der Tür und wandte sich zu André um, „Wollen wir dann?“ „Ja, klar.“, sagte er, aber verharrte noch einen Moment in der Tür, um die vollkommen von sich losgelöste Tony näher zu betrachten, die auf der Bühne herumwirbelte und nebenbei das Saxophon spielte, als habe sie die Bedienung dieses Instrumentes mit der Muttermilch eingesogen. Gerade, als Tony einen Satz nach links machte, packte den Journalistenpraktikanten die Hand seiner Freundin und zog ihn mit sich in die Nacht hinein. „Ich finde Tony richtig nett“, lächelte André, als er mit Theresa durch die Straßen der Hauptstadt schlenderte. Die Antwort, ein „Das kann ich mir denken!“, kam eine Spur zu schnell und vor allem eine Spur zu schnippisch. Er runzelte die Stirn und schaute seine Freundin an. „Sag mal“, begann er und blieb auf dem Gehweg stehen, „Is was?“ „Meinst Du ich habe nicht gesehen, wie Du sie anblickst? Wie deine Augen ihre langen Beine bis zu ihrem Hintern hochfahren? Und das nur, weil sie einen Anzug anhat. Sie sieht aus wie ein Mannweib!“ André schaute die junge Frau verblüfft an: „Halt, warte mal, eine Sekunde – willst Du… willst Du etwa sagen, dass Du eifersüchtig bist?“ „Und wenn schon!“, machte sie und drehte sich weg. Der junge Mann schloss die Augen. ‚Na, das ist ja ein starkes Stück’, dachte er sich und schaute die Frau an, „Hey.“ Er trat auf sie zu und legte ihr die Hand auf die Schulter. „Ja, ich gebe zu, Tony ist attraktiv.“ „Danke sehr!“, schoss Theresa und André rollte mit den Augen, „Du könntest mich ruhig ausreden lassen. Ja, Tony ist attraktiv, aber Du, meine Liebe, bist die Frau, in die ich mich verliebt habe. Ich gehöre dir. Und außerdem – du hast gerade reden. Wer flirtete denn die ganze Zeit mit Alain.“ „Ich habe nicht geflirtet“, gab die Frau zurück. André knirschte mit den Zähnen, „Ach nee, und was sollte das mit der Belichtungsreihe?“ „Hey, sie ist für Fotografen ein Handwerkszeug!“ „Handwerkszeug?“ Gut, die Frage war ein wenig unintelligent gestellt, aber sie hatte, so dachte sich André, zumindest eine Daseinsberechtigung. „Natürlich. Eine Blenden- und eine Belichtungsreihe brauchen Fotografen, damit man auf den Bildern auch was erkennen kann.“, lächelte Theresa und schaute ihn an, ehe sie den Kopf schüttelte, „Sind wir etwa eifersüchtig?“ „Du doch auch!“, machte André und Theresa seufzte, wieder lächelnd, „Ja, aber – wenn du so vertraut mit Tony tust… du kennst sie doch erst ein paar Stunden.“ „Das ist wahr – aber ich habe bei ihr das Gefühl, als könnte ich ihr alles sagen.“ „Merkwürdig, das gleiche Gefühl habe ich bei Alain.“, sagte die junge Praktikantin und ihr Freund runzelte die Stirn, ehe er fragte: „Ist dir übrigens aufgefallen, dass mich die Beiden, in ihren Manierismen et cetera, an irgendwen erinnern?“ „Ja, jetzt wo du es sagst – aber ich habe keine Ahnung, an wen.“ „Vielleicht können wir helfen“, mischte sich eine Stimme in ihr Gespräch ein. André drehte sich zur Stimmquelle um und kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf. Das, was sich ihnen da gegenübergestellt hatte, sprach einen bedrohlichen Bass und war nicht alleine. Der Typ hatte mindestens drei Kumpane dabei und es hätte André nicht verwundert, wenn nicht noch mehr aus dem kleinen Café herauskommen würden, dass sie gerade passiert hatten. „Wenn Sie mich so fragen“, begann André und legte den Kopf schief, um die Augen zu schlitzen zu verengen, „Nein, uns geht es gut. Aber was wollen Sie?“ In dem Moment hatte der Andere das Klappmesser gezogen und ausgeklappt. André schaute zu Theresa herüber, beide nickten einander zu und warteten. Dann begann der Angriff. Als Chailleau am nächsten Morgen in die Redaktion kam, konnte er seinen Augen kaum trauen. Alain hing über dem Schreibtisch, offenbar war er eingeschlafen. Und kurz bevor er die Tür zu seinem Büro öffnete, war er sich sicher, dass er Tony auf seiner Couch finden würde, die Gesichtszüge entspannt und dem Bildnis eines schlafenden Engels gleichend. Er hätte wetten sollen, als er die Tür öffnete, fand er genau dieses Bild vor und musste lächeln. Es war so typisch für die Beiden, bis spät in die Nacht zu arbeiten und dann hier einzuschlafen, das es für ihn schon mehr oder weniger zum normalen Bild der Redaktion gehörte. Vorsichtig, um die schöne Rothaarige nicht zu wecken, hing er seinen Mantel über den Kleiderhaken und schaltete leise das Radio an. Vielleicht würde ein wenig Musik sie ja sanfter aus dem Schlaf holen, als ein gebrülltes „MORGEN“. Aus dem Empfänger ölte leiser Blues in seine Ohren. Er ließ sich in seinen Sessel sinken und schloss kurz die Augen. Blues – Tony spielte diese Musikrichtung mit der Band um Alain selbst und er erinnerte sich daran, wie er sie einmal beim Spielen gesehen hatte. Wer diese Frau dabei beobachtete, wie sie sich beim Bluesspielen in ein komplett von sich selbst und der Welt entrücktes Wesen verwandelte, der würde dieses Bild nicht so schnell vergessen. Und wie er so zu ihr herüberblickte, sah er, wie der Blues offenbar durch ihre vom Schlaf blockierten Ohren in ihr Hirn drang. Sie wippte mit den Füßen und öffnete die Augen. Realisierend, wo sie sich befand, zog sie sich schnell ihre Schuhe an und blickte ihren Chef an: „Entschuldigung, ich wollte hier nicht eindringen – aber wir haben bis spät in die Nacht gespielt und der Morgen hat uns überrascht und ich wollte mich noch für ungefähr eine Stunde hinlegen und…“ „Es ist in Ordnung“, lächelte Chailleau, „Das machen Sie in letzter Zeit ja öfter. Hoffentlich kommt Madame Leontine nicht auf die Idee Calvignac anzurufen, weil sie denkt, man habe Sie mal wieder verschleppt.“ Die junge Frau schaute ihren Boss entgeistert an, der jetzt laut lachen musste: „Keine Sorge, ich rufe bei Leontine an und sage ihr Bescheid, dass sie hier geschlafen haben.“ Tony nickte nur, stand auf und streckte sich einmal, ehe sie einen Blick auf die Uhr warf: „Ist es schon halb 9?“ Der Chefredakteur nickte bestätigend und schaute die junge Frau an: „Ja, ich habe mich selbst verspätet. Irgendeine polizeiliche Ermittlung. Ich habe einen Krankenwagen gesehen, der aus der Rue De Stockholm gekommen ist.“ Tony schaute ihren Chef an: „Rue De Stockholm? Aber das ist doch auf halbem Weg zwischen der Redaktion und der Kneipe.“ „Ja, das ist richtig“, sagte Chailleau, „Ich bin natürlich sofort zu dem Polizisten gegangen, der die Passanten befragt hat und mir wurde gesagt, dass dort ein junges Pärchen gefunden wurde. Beide waren tot – offenbar hat man sie abgestochen.“ „Abgestochen?“, fragte Tony, „Aber wer macht denn sowas?“ „Gute Frage“, zuckte Chailleau mit den Achseln, „Ich weiß es auch nicht, aber vielleicht setzt ihr euch da mal dran. Das könnte doch etwas für euch sein, ihr löst den Fall doch wahrscheinlich mit links.“ „Naja, so würde ich das auch nicht sagen.“, murmelte die junge Reporterin. Erneut packten Selbstzweifel, ob sie nicht lieber eine einfache Reporterin sein sollte, denn eine Ermittlerin, ihren Geist und schüttelten sie durch. „Und wo wir gerade beim ‚zu spät kommen’ sind“, leitete Chailleau seine Frage ein, „Wo sind eigentlich LaChat und Samedi?“ Tony zuckte mit den Schultern: „Soweit ich weiß, wollten sie, nachdem sie mit uns in die Kneipe gegangen sind, nach Hause gehen.“ Kurz runzelte sie die Stirn: „Wo wohnen die Beiden eigentlich?“ „In einem kleinen Hotel am Gare Saint-Lazare.“, sagte der gerade hereinkommende Alain und gab Tony einen kurzen Kuss auf die Wange, „Entschuldigung, dass ich so reinplatze, aber ich wurde von eurer Unterhaltung geweckt.“ „Der Bahnhof ist doch keine 6 Minuten von hier entfernt, nicht wahr?“, fragte die junge Frau und Alain schüttelte den Kopf, „Nein, du hast recht.“ In dem Moment, in dem Alain dies sekundierte, schaute Chailleau die Beiden an: „Und vom Bahnhof ist es keine 7 Minuten zur Kneipe.“ Alain zuckte mit den Schultern: „Das mag sein, aber … Tony, was ist los? Du siehst gerade ein wenig bleich aus.“ Die junge Frau wandte sich ihm zu: „Der Chef hat gerade erzählt, dass man ein Pärchen auf der Rue De Stockholm gefunden hat. Beide tot. Brutal abgestochen.“ „Die Rue De Stockholm?“, echote Alain und schaute Tony überrascht an, „Aber muss man nicht dann durch diese Straße, wenn man zum Bahnhof will?“ „Ja, das muss man.“ Alains Augen weiteten sich: „Du willst doch wohl nicht sagen…“ „Ich will es garantiert nicht sagen.“, meinte Tony, „und außerdem haben wir noch gar keine Beweise, aber es könnte sein, dass André und Theresa gestern Nacht ermordet worden sind.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)