Clover von -Moonshine- (Three leaves are lucky enough) ================================================================================ - 2 - ----- "Was?", kreischte Lucy entsetzt. "Du hast ein Date mit unserem Lehrer?!" Hannah steckte ihr Portemonnaie in ihre Handtasche und verdrehte die Augen. "Erstens hab ich kein Date mit ihm. Wir haben uns schon lange nicht mehr gesehen und wollen uns nur unterhalten. Und zweitens ist er gar nicht euer Lehrer. Das hat er mir vorhin erzählt." "Trotzdem ist er ein Lehrer an unserer Schule", beharrte Lucy trotzig und verschränkte die Arme vor der Brust, starrte Hannah provokant an. "Und das ist total peinlich, da mit ihm aufzutauchen. Willst du meinen guten Ruf ruinieren?" Hannah hätte gerne aufgelacht, doch sie gab sich Mühe, ihr Grinsen zu unterdrücken. Ob die Kleine wirklich wusste, wovon sie da redete? "Ja", sagte sie stattdessen ungerührt und beobachtete, wie Lucy beleidigt davon stürmte. Das ist doch kein Date, sagte sie sich kopfschüttelnd. Sie war bloß neugierig... Als es klingelte, warf Hannah unbewusst einen kurzen Blick in den Spiegel, doch sie war nicht schnell genug, denn Luke brauste schon zur Tür und riss sie auf. "Hey Mr. C.!" begrüßte er Nathan aufgeregt. Im Gegensatz zu seiner Schwester fürchtete er ganz offensichtlich nicht um seinen "guten Ruf". "Im Nachbardorf ist ein Jahrmarkt. Kommen Sie mit? Bitte, bitte! Tante Hannah hat gesagt, wenn Sie nicht wollen, gehen wir nur Eis essen. Bitte. Sie wollen doch, oder?" Mit großen Hundeaugen sah er zu ihm auf, und Nathan, völlig überrumpelt und verwirrt, starrte den Jungen bloß an und rang sich dann zu einem hilflosen Nicken durch. Luke jubelte und verschwand wieder. "Zieh dir 'ne ordentliche Hose an, Luke!", rief Hanna ihm hinterher. "Eine ohne Löcher!" Dann wandte sie sich an Nathan, der noch immer wie bestellt und nicht abgeholt im Türrahmen stand. "Hallo, Nathan." Sie lächelte. "Komm doch rein. Und danke." Er trat hinein, schloss vorsichtig die Tür hinter sich und blieb stehen. "Wofür?" "Dass du nicht nein gesagt hast. Wir haben dich ja praktisch überfallen." "Hm. Das ist schon in Ordnung." Er schaute sich interessiert um. "Schön hast du's hier. Gemütlich." Hannah lachte. "Das ist Tess' Haus. Ein richtiges Familiennest, was?" Fröhlich deutete sie auf die vielen Porträts und Bilder, die die Familie oder vereinzelte Familienmitglieder zeigten, allen voran die Kinder: Die Kinder als Babies, die Kinder im Kindergartenalter, im Vorschulalter, im Grundschulalter, und so weiter, und so fort. Am Kühlschrank hingen Bilder, die die Kinder in der Schule oder in ihrer Freizeit gemalt hatten - es waren vorrangig ältere, da Luke und Lucy nun, da sie schon in der Junior High waren, nicht mehr so am Malen interessiert waren wie früher. "Ja. Aber es ist trotzdem sehr nett." Hannah legte den Kopf schief und sah Nathan an. Sein Haar schien nicht mehr so wirr und er trug eine Jeans und ein T-Shirt - viel legerer und lockerer als sein Aufzug am Nachmittag, als sie ihn vor der Schule getroffen hatte. Ein reiner Glückstreffer. Sie hatte plötzlich das Bedürfnis, ihm durch die Haare zu fahren und es wieder unordentlich zu machen, aber über diesen Gedanken lächelte sie nur. "Wo wohnst du?", wollte sie neugierig wissen. "In der Stadt?" Unter ihrem prüfenden, interessierten Blick wurde er fast schon ein wenig nervös. "Nein. Ein bisschen außerhalb. Ich hab das Haus meiner Großeltern geerbt und... ja. Da wohne ich jetzt. Die Spring Road, wenn dir das etwas sagt", fügte er noch schnell hinzu. Hannah nickte. "Ja, klar. Die kenn ich. Das ist ja am anderen Ende der Welt." Nathan musste lächeln. "So ganz weit nun auch wieder nicht." Beide drehten sich um, als sie ein Geräusch an der Treppe hörten. Lucy stand auf der untersten Stufe und beäugte Nathan argwöhnisch. "Haben Sie eigentlich eine Freundin, Mr. C.?", fragte sie lauernd. Hannah warf ihm einen neugierigen Seitenblick zu. Seltsam. Genau das Gleiche hatte sie sich auch schon gefragt. Aber wenn Lucy diese Frage für sie klärte, war das absolut in Ordnung für sie. "Ähm... nein", antwortete Nathan verwirrt und warf Hannah einen fragenden Blick zu. Diese zuckte nur unbeteiligt mit den Schultern, obwohl sie gebannt auf die Antwort gewartet hatte. "Ach so." Lucy ließ sichtlich enttäuscht die Schultern sinken und bückte sich anschließend hinunter, um ihre Schuhe anzuziehen. "Du hast aber nicht vor, mir die ganze Zeit hinterher zu spionieren, oder, Tante Hannah? Da kommen auch ein paar Freunde von mir, und-" "Bloß keine Panik", unterbrach Hannah sie. "Ich bin die coole Tante, schon vergessen?" Lucy warf einen skeptischen Blick zu Nathan hinüber, als ob sie damit sagen wollte 'So cool, dass du meinen Lehrer mitschleppst?!' und murmelte schließlich ein unverbindliches "Mhm". Sie war sichtlich unzufrieden mit der Situation, aber Hannah wusste, sobald sie erst einmal da waren, war alles vergeben und vergessen. Und sie könnte ein bisschen Zeit mit Nathan verbringen und ihn über alles ausquetschen, was sie schon immer wissen wollte. Nicht, dass sie es nicht schon damals versucht hätte - sie war ja nicht auf den Mund gefallen - aber er war immer so kühl und professionell gewesen und redete so selten über sich selbst und sein Privatleben, dass sie bald frustriert feststellen musste, dass sie sich an ihm lediglich die Zähne ausbiss, ohne viel schlauer zu werden. Jetzt allerdings waren die Karten neu gemischt, und darauf freute sie sich schon. Es war schon fast dunkel, als sie auf dem Jahrmarkt ankamen, und alles leuchtete und blinkte in lustigen Farben und Formen. Überall waren Menschen; sie standen herum, liefen hin und her, warteten in Schlangen, unterhielten sich oder aßen. Wie es nicht anders zu erwarten war, waren überall Essstände aufgebaut. Es gab Pommes Frites, Hamburger, Hot Dogs, Chili con Carne, Pizza und anderes, beliebtes Fast-Food. Die Süßigkeitenstände, mit Zuckerwatte, Popcorn und anderen Leckereien, verbreiteten ihre süßen Düfte auf dem ganzen Platz und ließen vor allem Kindern das Wasser im Munde zusammenlaufen. "Boah, guck mal!", rief Luke alle fünf Sekunden begeistert, als wäre er noch nie auf einem Jahrmarkt gewesen, und zeigte in irgendeine x-beliebige Richtung - überall gab es etwas zu sehen. "Ein Riesenrad!", schwärmte Lucy. "Gehen wir drauf? Da kann man sich einen guten Überblick verschaffen. Es ist fast wie fliegen." Hannah steckte sich nervös eine Haarsträhne hinter das Ohr. "Du und Luke, ihr könnt zusammen drauf gehen. Aber macht keinen Unsinn, klar?" "Du musst unbedingt auch drauf", bestand Lucy und schaute ihre Tante vorwurfsvoll an. "Du verpasst ja sonst den ganzen Spaß." "Ja, komm schon, Tante Hannah. Von oben sehen alle aus wie Ameisen", pflichtete Luke seiner Schwester bei, was nur etwa alle tausend Jahre in der Geschichte der Menschheit passierte. "Das müssen wir sehen." "Nein, wirklich-" "Du wirst doch nicht etwa alt?", stichelte Lucy. "Alt und eine Spaßbremse." Hannah funkelte ihre kleine Nichte vernichtend an. Das wäre ja noch schöner, wenn sie sich von einem Kind provozieren lassen würde. Auf eine so primitive und einfache Art und Weise. "Mögen Sie Riesenräder, Mr. C.?", fragte Lucy dann engelsgleich. Hannah grollte. Sie wusste, wo das hinführen sollte. Nathan, wie immer etwas verwirrt von der fruchtlosen Unterhaltung, nickte irritiert. "Ja, ich denke schon." "Können Sie Tante Hannah nicht überreden? Sie wollen doch auch drauf, oder?" Hannah seufzte auf, bevor Nathan irgendetwas zu ihr sagen konnte. Diese Blagen hatten wirklich alle Register gezogen. "Ist gut. Nur eine Runde", brummte sie erbost. "Du musst keine Angst haben", versicherte Luke ihr ernst. "Da kann nichts passieren." "Ich habe keine Angst", knurrte sie. "Hannah." Das war Nathan. Besorgt sah er sie an. "Du musst nicht, wenn du nicht willst." Sie hätte fast laut aufgelacht. Das klang ja fast so, wie vor dem ersten Mal. 'Du musst das nicht tun, wenn du es nicht wirklich willst.' Belustig sah sie ihn an. Und fragte sich gleichzeitig, warum sie diesen Gedanken in Zusammenhang mit ihm hatte. "Schon gut. Bringen wir es hinter uns." Hm. Und auch das klang wie vor dem ersten Mal. Zumindest vor ihrem. "Aber kein Rumgeschaukle!" "Hört auf, rumzuschaukeln!" Panisch krallte Hannah sich an der Sitzkante fest und traute sich kaum, einen Blick über Bord zu werfen. Sie saßen in einer Riesenradkabine mit vier Plätzen, jeweils zwei lagen sich gegenüber und in der Mitte befand sich ein kleines tischähnliches Gebilde, an dem man sich ebenfalls festhalten konnte. Aber dafür hätte sie die Sitzfläche loslassen müssen. Lucy und Luke hatten beide die Köpfe über die Brüstung gesteckt, lachten, und hielten die Kabine gut in Schwung. Hannah starb fast vor Angst. Mit ihrer Höhenangst hatte sie schon immer zu kämpfen gehabt, aber in einer offenen Riesenradkabine zu sitzen, die Tiefe so präsent und nah vor Augen zu haben, das war für sie die Hölle schlechthin. Wieso hatte sie sich nur breitschlagen lassen? Es war zum Verzweifeln. "Schau mal runter, Tante Hannah. Alles ist so schön bunt", schwärmte Lucy. "Oh, ich glaube, da ist Bobby." Sie streckte einen Arm raus und zeigte nach unten in die Menge. "Hm, oder doch nicht. Oder warte, doch!" Hannah musste sich stark darauf konzentrieren, nicht einfach in Panik auszubrechen. Ein Blick nach unten ließ ihren Kopf schwirren und sie musste sich zwingen, gleichmäßig zu atmen, sonst hätte sie womöglich hyperventiliert. So hoch oben konnte die Luft unmöglich noch gut genug sein, als dass sie ihren gesunden Geisteszustand behalten hätte. Allen anderen hingegen ging es ziemlich gut, stellte sie von Neid erfüllt fest. Als eine Windböe aufkam und die Kabine noch mehr zum Schaukeln brachte, schloss sie die Augen. Dann spürte sie zu ihrer großen Überraschung zaghaft eine warme Hand an ihrer eigenen. Und eine leise Stimme ganz nah neben ihr, die die beiden plappernden Kinder kurz ausblendete. "Schon gut, Hannah. Luke hat recht. Es kann nichts passieren. Die Sicherungstechniker sind vor allem bei den Riesenrädern besonders genau, und bevor sie in Betriebnahme genommen werden, wird alles auf Funktionalität und Sicherheit geprüft. Das Gütesiegel des NRTLs ist da sehr gründlich und genau. Schau einfach nicht runter." Sie öffnete die Augen und starrte auf Nathan’s Hand, die auf ihrer lag. Es war eine schöne, große Hand. Eine sichere Hand. Sein Gerede beruhigte sie zwar nicht unbedingt - Angst ließ sich nun mal nicht rational wegdiskutieren -, aber er bewirkte immerhin, dass sie sich nicht mehr allzu sehr auf die Höhe konzentrierte, sondern vielmehr auf ihn. "Und auch", redete er weiter, "wenn es einen Stromausfall gibt und wir ganz oben stehen bleiben, dann-" "WAS?!", fuhr sie dazwischen. "So etwas kann passieren?!" Sie musste sich korrigieren. Die Hölle war es nicht, in einem Riesenrad festzusitzen. Die Hölle war es, in einem unbeweglichen Riesenrad mit offenen Kabinen bei Stromausfall festzusitzen! "Oh, äh... das hätte ich nicht sagen sollen", entschuldigte Nathan sich hastig. "Das war dumm. Ich hab dir Angst gemacht, bitte entschuldige." Sie schloss wieder die Augen und senkte den Kopf. Gott. Der Typ war unglaublich. Unglaublich süß. Wie konnte sie sich dabei überhaupt noch auf Höhe und Riesenräder und den ganzen blöden Kram konzentrieren?! Sie musste sich strengstens zur Ordnung rufen, denn sie verspürte das unbändige Verlangen, ihm einfach um den Hals zu fallen. Schon allein, weil er solche Sachen sagte. Er hielt ihre Hand unter dem Tisch fest, verborgen vor allen Blicken, was fast schon etwas Verbotenes hatte, bis sie wieder unten angekommen waren, und verlor kein Wort mehr darüber. Obwohl sie wieder sicheren Boden unter den Füßen hatte, war Hannah's Magen fröhlich dabei, sich um seine eigene Achse zu drehen und auch ihr Herz schlug schneller, machte zusammen mit ihrem Verdauungsorgan ein paar Purzelbäume und hinterließ ein zutiefst verstörendes Gefühl, das sie nicht zu deuten wusste. "Schau mal." Lucy zeigte auf eine Gruppe Jugendlicher in etwa ihrem Alter. "Das sind ein paar Leute aus der Schule. Ich geh mal zu denen rüber." "Ooh", machte Luke provokant und lächelte garstig, wie nur ein kleiner Bruder es konnte. "Ist da auch dein geliebter Patrick dabei?" Lucy wurde rot und funkelte Luke wütend an, doch bevor sie ihm etwas nicht besonders Nettes an den Kopf werfen konnte, mischte Hannah sich ein. "Aber kein Rumgeknutsche", verlangte sie streng, alles daran setzend, nicht in Lachen auszubrechen. "Tante Hannah!", quietschte das Mädchen aufgebracht und entsetzt. "Iiih!", brüllte Luke verzückt. "Halt die Klappe, Lucky", ermahnte Hannah ihn, winkte der zornigen Lucy mit der Hand, als Zeichen dafür, dass sie entlassen war, und zwinkerte Luke dann verschwörerisch zu. "Geh und spionier deiner Schwester ein wenig nach." So hatte sie zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen und war beide Kids losgeworden. "Lucky?", hakte Nathan nach, als Luke sich begeistert davonmachte, um Detektiv zu spielen, und ihn und Hannah alleine ließ. Hannah nickte. "Ja. Ich finde, er sieht aus, wie ein Kobold, der am Ende des Regenbogens mit dem Goldtopf auf dich wartet. Also Lucky." Nathan musste widerwillig schmunzeln. Hannah war - in seinen Augen - eine selbstbewusste und temperamentvolle Frau - und trotzdem redete sie über solche kitschigen Sachen wie Regenbögen und Kobolde, als ob sie tatsächlich daran glaubte. Er fand es faszinierend, diese kleinen Eigenheiten an ihr zu entdecken. Die kleinen Risse in der Fassade. Ihre Höhenangst, ihre - wenn er denn mit seiner Vermutung richtig lag - fast schon romantische Ader. Was würde er im Laufe der Zeit noch alles entdecken können? "Du bist also Lehrer geworden", setzte Hannah das Gespräch vom Nachmittag fort, während sie langsam über den Jahrmarkt schlenderten. "Das passt du dir. Ich weiß noch, wie du damals warst." Er warf ihr einen kurzen Seitenblick zu. "Ach ja?" "Natürlich. Immer sehr ordentlich und sorgfältig und alles musste zu 100 Prozent stimmen." Sie lachte bei der Erinnerung daran, wie ernst Nathan ihre Nachhilfestunden genommen hatte. Ganz im Gegensatz zu ihr. Für sie waren sie nur eine Möglichkeit gewesen, ihn 60 Minuten lang anzuschmachten. Und das hatte sie voll und ganz ausgenutzt und genossen. Er lächelte entschuldigend. "Du warst furchtbar genervt, oder?" "Oh ja." Sie grinste. Aber nicht von deinem Anblick, fügte sie in Gedanken hinzu. "Trotzdem. Du warst gut. Du hast mich immerhin durch die Prüfung geboxt. Sonst hätte ich nie von Zuhause weggehen können. Und das war damals dringend nötig." "Hm", machte Nathan leise, da er nicht wusste, was er dazu sagen sollte. Sie nach den Gründen zu fragen erschien ihm zu privat und er wollte nicht aufdringlich oder indiskret sein. Aber das war auch nicht nötig, denn Hannah lieferte sie ihm schon von selbst. "Ich musste einfach mal raus. Einen anderen Teil der Welt sehen, als immer dieses Vorstadtloch hier. Ich war schwer gelangweilt." Überrascht wandte er sich an sie. "Und jetzt bist du trotzdem wieder da?" Sie lachte fröhlich. "Ja, meine ganze Familie wohnt hier. Ich hatte irgendwie... Heimweh." Nathan hätte gerne gefragt, wie lange sie bleiben würde, aber er wagte es nicht. Die Antwort hätte er vielleicht gar nicht hören wollen. Es passte zu Hannah's Art, nicht an einem einzigen Ort gefangen sein zu wollen. "Was hast du gemacht?", wollte er stattdessen wissen. "Nach der Schule?" "Oh, ich hab Graphikdesign studiert und hab mir dann Berufserfahrung angeeignet. Mittlerweile kann ich von zu Hause aus arbeiten, dank dem großen weltweiten Netzwerk, auch bekannt als WWW oder das Internet. Super, was die ganze Technik heutzutage alles möglich macht, oder? Aber eigentlich wollte ich ja Kunstgeschichte studieren." Nathan horchte auf. Schon wieder so ein kleiner Teil von ihr, den er aufgedeckt hatte. "Warum hast du es nicht getan?" "Ich wusste damals einfach nicht, was ich später damit anfangen sollte. Also hab ich mich für etwas Handfesteres mit mehr Zukunft entschieden. Dafür beleg ich aber jetzt die Kurse in Kunstgeschichte an der Abendschule. Heute hab ich geschwänzt." Sie grinste ihm verschwörerisch zu. "Aber verpetzen Sie mich nicht, Herr Lehrer." Er lächelte irritiert. Dass sie ihn so nannte, machte ihn nervös. Er wusste, dass sie nur Spaß machte, aber trotzdem wollte er nicht als eine Autoritätsperson von ihr gesehen werden. Das hatte er schon einmal gehabt... "Und weißt du jetzt, was du damit anfangen willst?" "Nein. Ich weiß es noch immer nicht. Aber es macht mir viel Spaß." Nathan lächelte die Wiese unter seinen Füßen an. "Ich wünschte, alle meine Schüler hätten diese Einstellung." Hannah klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. "Ich bin sicher, du machst das toll. Was denkst du, sollen wir wieder fahren? Es ist schon nach neun Uhr. Tess würde mich umbringen, wenn sie wüsste, was ich mit ihren - ihrer Meinung nach - wohlerzogenen Gören anstelle." Er zuckte mit den Schultern und achtete darauf, nicht zufällig ihre Hand zu berühren. "Ganz, wie du willst, Hannah." Sie verspürte wieder so ein Flattern im Bauch, als er ihren Namen aussprach, und musste sich daran hindern, laut aufzuseufzen. "Danke noch mal, dass du mitgekommen bist, das war sehr nett von dir. So hatte ich ein bisschen Gesellschaft." Hannah und Nathan standen vor Tess' Haustür, die Kinder waren schon drin und sollten sich bettfertig machen - Hannah wusste, dass sie alles andere taten, nur nicht das, worum sie sie gebeten hatte. Sie würde sich noch mindestens eine halbe Stunde lang ihr Maulen und ihr Gezanke anhören müssen. "Das hab ich gern gemacht", erwiderte Nathan, wohlerzogen, wie er war. Es verschlimmerte die tobende Unruhe in ihrem Inneren. Sie beugte sich ein wenig zu ihm herunter, da sie auf einer Treppenstufe stand. "Ich würde dich ja gerne noch auf einen Kaffee reinbitten, aber ich fürchte, dann wäre ich kein gutes Vorbild für die Kinder." Vielsagend grinste sie ihn an. Nathan schluckte und seine Kehle wurde ganz trocken. "Ich hatte nicht die Absicht... Ich würde niemals denken, dass...", stammelte er verlegen. "Ich weiß, Nathan", unterbrach Hannah ihn amüsiert, gab ihm einen kurzen Kuss auf die Wange und verweilte mit ihrem Mund etwas länger an seinem Ohr. "Aber vielleicht hatte ich ja die Absicht?", wisperte sie ihm leise zu. Nathan wagte es nicht einmal, zu atmen. Er hätte niemals gedacht, dass Hannah so über ihn dachte. Eigentlich... konnte er im Moment gar nicht denken. "Gute Nacht, Nathan", wünschte sie ihm, belustigt über seinen verdatterten Gesichtsausdruck. Er sah aus, als hätte er gerade eine Horde Elefanten durch seinen Vorgarten vorbeitrampeln sehen. Dann ging sie ins Haus und schloss leise die Tür hinter sich. Verwirrt blieb Nathan noch eine Weile vor dem Haus stehen, denn erst nach einigen Sekunden gehorchten alle seine Gliedmaßen wieder, um dem Befehl zum Rückzug, den der noch intakte, weder halluzinierende, noch UV-Strahlen-verseuchte Teil seines Gehirns aussendete, Folge zu leisten. "Gute Nacht, Hannah", murmelte er noch der geschlossenen Tür zu. _____ NRTL = amerikanisches Äquivalent zum TÜV-Gütesiegel. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)