Kryptonit von Ur (Jeder Held hat eine Schwäche) ================================================================================ Kapitel 41: Hilfe ----------------- Hallo ihr Lieben! Dieses Kapitel sollte ursprünglich noch einen anderen Handlungsblock enthalten, aber stattdessen hab ich es mal wieder geteilt. Das nächste wird also auch aus Anjos Sicht geschrieben sein. Das Kapitel ist für My, die meinen Kram immer so fleißig korrigiert und sich sehr an Jana und ihrer besten Freundin erfreut hat. Für Sanja, die schon Fan von Jana und ihrer besten Freundin war, bevor irgendjemand sonst Fan davon hätte sein können und für Lisa, weil in diesem Kapitel viel Liebe für Chris steckt. Viel Spaß beim Lesen! ________________________________________ Das Klingeln meines Handys reißt mich aus dem Schlaf. Verwirrt von Träumen und vollkommen verschlafen taste ich auf meinem Nachtschrank herum, um das Vibrieren, das Leuchten und das schrille Piepen abzuschalten. Wer würde mich nachts um diese Uhrzeit anrufen? Es ist unter der Woche… Meine Gedanken sind träge und ziellos vom Tiefschlaf, aber als ich aufs Display starre, bin ich so schnell hellwach, als hätte man mir einen Faustschlag in die Magenkuhle verpasst. Ich setze mich hastig auf und mir fällt beinahe das Handy aus der Hand. »Was ist los?« Ich halte mich nicht mit einer unwichtigen Begrüßung auf. Was immer es ist, es muss schlimm sein. »Du kannst immer anrufen… wenn du was brauchst.« »Ich weiß.« »Ich mein das ernst. Auch nachts. Oder früh morgens. Oder wenn ich–« »Dann müsste schon die Welt untergegangen sein. Ich bin bisher auch ohne Hilfe ausgekommen.« Stille am anderen Ende, als hätte Benni nicht erwartet, dass ich tatsächlich abhebe. Aber was für ein Unsinn, natürlich hebe ich ab und… meine Finger zittern, weil ich mir jetzt schon solche Sorgen mache, obwohl ich noch gar nicht weiß, was eigentlich los ist. »Ich… wir sind…« Ok, denke ich mir und schließe kurz die Augen. Er kann normal reden, er kann anrufen, das heißt, dass er nicht komatös in einem Haufen Scherben liegt und einen Krankenwagen braucht. »Ich bin dran. Und ich lege nicht auf«, murmele ich. Irgendwie hab ich das Gefühl, es noch mal sagen zu müssen. Ich höre überdeutlich, wie Benni am anderen Ende zitternd einatmet. »Wir sind draußen«, sagt er. Ich blinzele. »Wie… draußen?« Vielleicht bilde ich es mir nur ein, aber eigentlich bin ich ziemlich sicher, dass ich Jana im Hintergrund leise weinen höre. Mein Brustkorb scheint sich zusammenzuziehen. »Wir sind abgehauen«, erklärt Benni. Seine Stimme wankt. Ich schlucke und werfe einen Blick auf meinen Wecker. Kurz vor zwei. »Ok… wo seid ihr?« Ich hab das Gefühl, ich sollte nicht zu viele Fragen stellen. Benni räuspert sich. »Das ist… wir…« Ich presse die Lippen aufeinander, um nicht das Drängeln anzufangen. »Ok, wir haben ziemlich überstürzt den letzten Elfer-Bus genommen und jetzt stehen wir an der Endhaltestelle… und…« Ich atme tief durch. »Es fährt keiner mehr zurück und ihr steht jetzt irgendwo in der Walachei im eiskalten Novembernebel und… was ist passiert?«, frage ich und strampele die Bettdecke von meinen Beinen, um aufzustehen. Fahrig krame ich im Dunkeln nach meinen Klamotten und wecke Parker auf, der verschlafen hechelnd auf seiner Decke liegt. Ich stelle mir vor, wie er mir einen vorwurfsvollen Blick zuwirft. »Ich kann’s dir jetzt grad nicht sagen«, nuschelt Benni. Ich möchte schon protestieren, aber dann ertönt Janas leise Stimme im Hintergrund. »Schon ok«, sagt sie. Ihre Stimme klingt wie zerbrechendes Glas. Egal wie furchtbar es bei ihnen zu Hause war, plötzlich sind sie obdachlos. Einfach so. »Ok… meine Rippen sind noch nicht wieder heil und er hatte wohl einen schlechten Tag in der Arbeit und ich hab… ich hab Jana ins Zimmer geschickt, aber sie wollte nicht gehen und dann hat sie… sie…« Benni bricht ab, als wäre das, was passiert ist, zu schrecklich, um es auszusprechen. Ich halte in meinen Bewegungen inne und wage es kaum zu atmen. »Sie wollte mich beschützen, das ist alles«, murmelt Benni kaum hörbar. Furchtbare Bilder huschen durch meinen Kopf und Janas Gesicht – verschlossen und schüchtern und verletzlich – taucht vor meinem inneren Auge auf. »Sie hat doch nicht etwa–«, beginne ich entsetzt. »Nein… Nein! Sie hat nur… das nächstbeste Küchenmesser genommen, das sie gefunden hat. Und ihm gesagt, dass er… dass er die Finger von mir lassen soll«, erzählt Benni stockend und seine Stimme ist tonnenschwer, aus Blei, taub, aufgewühlt wie das Meer bei Sturmwind, alles auf einmal. Benni hatte immer Angst, dass er eines Tages die Nerven verliert und sich gegen seinen Erzeuger wehrt. Er hatte Angst, dass er durchdreht und ihn vielleicht sogar aus lauter angestauter Wut umbringt. Das hat er mir erzählt. Aber im Traum wäre ihm nicht eingefallen, dass Jana diejenige ist, die es nicht mehr aushält. Nicht auf diese Art und Weise. Ich hab sie kennen gelernt, ich weiß, dass sie keiner Fliege was zuleide tun würde. »Er hat sie erst nicht ganz ernst genommen… aber dann… ich glaube, er hatte echt Schiss, als sie ihm gesagt hat, dass sie ihn umbringt, wenn er mich noch einmal anrührt.« Und dann sind sie getürmt. Aus Angst vor den Konsequenzen. Um Himmels Willen, was soll ich jetzt machen? Ich bin immer so hastig dabei meine Hilfe anzubieten, ohne mir richtig klar zu machen, dass ich kaum irgendwas tun kann. »Ok… also… Ich brauch den genauen Namen der Haltestelle«, sage ich und knipse endlich das Licht an, ehe ich hastig einen Zettel hervorkrame und mir einen Bleistift schnappe. »Ähm«, sagt Benni und ich höre ihn ein paar Schritte gehen. »Hadenbergstraße.« Ich notiere mir den Namen und atme tief durch. »Ok, ich hab keine Ahnung, wie lang die Fahrt dahin dauert, aber… egal. Ich gehe jetzt Chris wecken«, Benni atmet zischend ein und ich ignoriere ihn und seine Abscheu gegen Chris‘ Hilfe. Allein kann ich nun mal nicht helfen. »Und ich muss ihm wenigstens die halbe Geschichte erzählen, sonst wird er eventuell nicht fahren wollen…« Stille am anderen Ende. Bennis Schweigen zieht sich so lang, dass ich Angst habe, dass er gleich sagt, er könne auf die Hilfe verzichten und würde das schon allein hinkriegen. Ich bin mir sicher, dass jede Faser seines Gehirns genau das denkt. Er hat zugegeben, dass er erst lernen muss, Hilfe von außen anzunehmen, weil er das einfach nicht gewöhnt ist. »Ok«, kommt es schließlich vom anderen Ende der Leitung und ich atme erleichtert auf. »Ich schreib dir, wenn wir losfahren, und sag dir, wie lang das ungefähr dauert«, verspreche ich. »Danke.« »Kein Problem.« Wir legen auf und ich schlucke. Dann verlasse ich mit klopfendem Herzen und eiskalten Füßen mein Zimmer. Ich habe keine Zeit darüber nachzudenken, dass ich Chris umarmt habe und dass es komisch zwischen uns ist und dass ich sicherlich bald durchdrehe, weil ich viel zu verliebt in ihn bin. Vor seiner Tür halte ich kurz inne und wappne mich für das Schlimmste. Dann trete ich leise ein und finde im Dunkeln meinen Weg hinüber zu Chris' Bett. Er liegt auf der Seite und seine dunklen Haare fallen ihm wirr in die Stirn. Ich muss lächeln, als ich sehe, dass er seine Bettdecke umarmt. Er sieht fast ein bisschen aus wie ein kleiner Junge. Behutsam strecke ich die Hand nach seiner Schulter aus und stupse ihn sachte an. Er murmelt wortlos und dreht sich ein Stück zur Seite, aber er wacht nicht auf. »Chris«, flüstere ich und tippe ihm erneut auf die nackte Schulter. Meine Fingerspitzen kribbeln bei der Erinnerung an die Umarmung. Chris‘ braunen Augen öffnen sich abrupt und er setzt sich hastig auf. Sein nackter Oberkörper hilft mir nicht wirklich dabei, mich zu konzentrieren. »Was ist passiert? Alles ok?« Oh Gott, er sieht so umwerfend aus, wenn er verpennt ist. Ich räuspere mich und schüttele den Kopf. Chris wird garantiert sauer sein, wenn ich ihm sage, was los ist… Also beschließe ich, alles schnell hinter mich zu bringen. »Benni und seine kleine Schwester sind von zu Hause abgehauen, weil ihr Vater Benni schon seit Jahren verprügelt und seine Rippen waren immer noch nicht wieder ganz heil und dann sind sie getürmt und jetzt stehen sie an der Endhaltestelle der Elfer-Linie und kommen da nicht weg, weil kein Bus mehr zurückfährt«, leiere ich hastig in einem Stück herunter ohne Luft zu holen und Chris‘ verschlafener Blick klärt sich ein wenig. Seine Miene verfinstert sich und ich wappne mich schon für das Schlimmste… »Manche Leute sollten einfach keine Kinder in die Welt setzen«, grollt er und erhebt sich in einer fließenden Bewegung. Hatte ich erwähnt, dass er viel zu gut aussieht, wenn er nur Boxershorts trägt? Unpassende Gedanken, wirklich, Anjo. »Weck Sina«, weist er mich an und stapft an mir vorbei in Richtung Bad. Bei der Tür drückt er auf den Lichtschalter und ich kneife kurz die Augen von dem unerwarteten Licht zusammen. »Wieso?«, frage ich verwirrt. Chris dreht sich um. »Junges, verängstigtes Mädchen mit einem gewalttätigen Vater zu Hause? Ich bin sicher, dass eine andere Frau nicht schaden kann«, sagt er und mir wird wieder klar, dass Chris in seiner freien Zeit mit instabilen Jugendlichen zusammenarbeitet und tatsächlich Ahnung von solchen Sachen hat. Wenn es möglich ist, habe ich mich gerade noch ein bisschen mehr in ihn verliebt. Ich husche also zu Sinas Zimmer, doch ich muss gar nicht eintreten, weil die Tür aufgerissen wird und Sina mit abstehenden Haaren und in ein übergroßes Shirt von Chris gekleidet den Flur betritt und mich verschlafen ansieht. »Ist alles ok?«, fragt sie besorgt und reibt sich mit der rechten Hand Schlaf aus dem Auge. Ich räuspere mich, schüttele den Kopf und erkläre kurz, was los ist. Sina sieht mich einen Moment lang schweigend an, dann nickt sie. »Geh Tee kochen, ich zieh mich an«, sagt sie. Ich frage nicht, wozu ich noch Tee kochen soll, aber während ich den Wasserkocher aufsetze und eine Thermoskanne aus dem Schrank ziehe, wird mir klar, dass Jana und Benni wahrscheinlich schon lange in der Kälte stehen. Ich höre Chris durch den Flur gehen. Zwei Minuten später habe ich den Tee fertig und Sina kommt angezogen und mit Pferdeschwanz aus ihrem Zimmer. Chris hat bereits seine Schuhe an und ich nehme die Wolldecke, die Sina mir in die Hand drückt, damit sie sich ebenfalls ihre Schuhe und ihre Jacke anziehen kann. »Ist das Navi noch im Auto?«, fragt Sina und Chris nickt abwesend, während er nach dem Schlüssel an der Wand greift und die Tür öffnet. Parker steht ein wenig verwirrt im Flur und ich werfe einen letzten Blick auf ihn, bevor die Wohnungstür hinter uns zugeht und wir die Treppen hinunter eilen. »Was für ein Scheißplan, mitten in der Nacht den letzten Bus in die Pampa zu nehmen«, brummt Chris am Steuer vor sich hin. Er sieht wahnsinnig müde aus. Sina hockt auf dem Beifahrersitz und hat die Augen geschlossen. Ich hab ein schlechtes Gewissen. »Tut mir Leid… wenn ich einen Führerschein hätte–« »Unsinn«, unterbricht Chris mich harsch. »Das ist doch nicht deine Schuld.« Dann fährt er fort sich über den Mangel an Sinn und Verstand bei dieser Aktion aufzuregen. »Dir ist schon klar, dass das kein geplanter Ausbruch, sondern eine Affekthandlung war, ja?«, nuschelt Sina müde vom Beifahrersitz. Chris schnaubt und grummelt wortlos weiter vor sich hin. Das Navi sagt mir, dass wir etwa zwanzig Minuten fahren müssen. Ich schreibe Benni eine SMS und bekomme lediglich ein ›Ok‹ zurück. Hoffentlich haben sich die beiden nicht schon total verkühlt, wenn wir ankommen. Die Thermoskanne fühlt sich übermäßig warm in meinen Händen an und ich starre aus dem Autofenster in die Dunkelheit. Wie geht es mit den beiden jetzt weiter? Ich wünschte, ich hätte Ahnung. Ich wünschte, ich wäre zehn Jahre älter und Anwalt. Aber ich bin neunzehn, habe keine Ahnung vom echten Leben und ich kenne nur einen Jurastudenten, der dabei auch nicht helfen kann. Die Elfer-Linie verlässt die Stadt und wir folgen den Haltestellen hinaus aufs Dorf, über mehrere Dörfer sogar, an Feldern vorbei und ich stelle fest, dass es hier draußen tatsächlich neblig ist. Die letzte Haltestelle ist schwach erleuchtet von einer einzigen Straßenlaterne und ich weiß, dass sich das Bild, was ich dort entdecke, für immer in meine Netzhaut brennen wird. Jana steht mit dem Rücken zur Straße und Benni hat in einer Umarmung einen Arm um ihre Schultern gelegt. Sein völlig versteinertes Gesicht schwebt neben Janas Hinterkopf und sein anderer Arm liegt fest auf Janas Rücken. Seine Augen sprechen mit mir – ich weiß nicht, ob Chris und Sina das auch sehen können – und sie sagen »Finger weg von ihr«, obwohl niemand da ist. Es sieht aus, als würde er sie von aller Welt abschirmen wollen. Und er sieht dabei so wahnsinnig verloren aus, dass meine Augenwinkel anfangen zu brennen. Chris parkt das Auto und steigt als erstes aus. Jana dreht sich zu uns um, sie sieht vollkommen aufgelöst aus. Ihre Augen sind verweint und gerötet, sie ist blass und ihre Lippen sehen von der Kälte ein wenig blau aus. Chris ist immer noch sauer. »Was für ein blöder Plan! Ehrlich! Hättest du dir das mit dem Bus nicht vorher überlegen können? Ich kann’s nicht fassen…« Mittlerweile bin ich viel zu gut darin, Benni zu lesen. Seine ganze Körperhaltung wird abwehrend und er drückt Jana unweigerlich näher an sich, auch wenn von Chris selbstredend keine Gefahr ausgeht. Janas Gesicht jedoch stürzt in sich zusammen und sie starrt Chris mit aufgerissenen Augen panisch an, als wäre er das Schrecklichste, was sie jemals gesehen hat. Chris hat diesen Blick auch gesehen und er stoppt im Gehen, unterbricht sich und sein wütendes Gebaren fällt von ihm ab, als ihm klar wird, dass Jana Angst vor ihm hat. »Hey«, sagt Sina behutsam, die sich den beiden genähert hat, und sie streckt vorsichtig einen Arm nach Jana aus. Bennis Hand zuckt, als wollte er Sinas Arm wegschlagen, aber Jana schreckt so heftig zusammen, als würde jede Berührung, die nicht von Benni kommt, ihr wehtun wollen. Wahrscheinlich lässt sie sich tatsächlich von niemandem anfassen. Ich weiß noch, wie viel Überwindung es sie gekostet hat, meine Hand anzufassen. Chris steht da und sieht Bennis kleine Schwester an und dann wieder Benni. Ich weiß in etwa, was in seinem Kopf vor sich geht. Schließlich ist er genau wie Benni ein großer Bruder, der sein letztes Hemd für seine kleinen Geschwister geben würde. Vielleicht sind die beiden sich doch ähnlicher, als sie jemals zugeben würden. »Ich hab Tee und eine Decke. Ihr könnt hinten einsteigen«, sage ich leise und Benni sieht mich an und nickt. Seine Augen sagen Danketutmirleidichweißnichtwasichsagensoll. Chris und Sina steigen ebenfalls wieder ein. Sie sehen beide völlig erschüttert aus. Kein Wunder. In mir drin ist alles ganz kalt geworden und das liegt nicht an den Temperaturen im November. Ich reiche Jana einen Becher mit gezuckertem Früchtetee und beobachte, wie Benni sie sorgfältig in die Wolldecke einwickelt, die wir mitgebracht haben. Er ist selber auch eiskalt und ich zupfe an der Decke herum, bis sie auch über seinem Schoß liegt. Die beiden teilen sich den Becher mit Tee und ich sehe, dass Chris sie im Rückspiegel beobachtet. »Wohin soll ich euch fahren?«, fragt Chris. Benni sieht auf. Ich glaube, ich zerbreche gleich in tausend kleine Teile. Es gibt kein ›wohin‹ für Benni. Ich will schon den Mund aufmachen und sagen, dass sie mit zu uns kommen sollen, da meldet sich Jana mit winzig kleiner Stimme. »Ich will zu meiner besten Freundin… bitte.« Benni sieht sie von der Seite an und nickt. Ihm ist es egal, wo er bleiben soll. Solange sie irgendwo ist, wo sie sich sicher fühlt. »Ok, dann gib mir die Adresse«, sagt Chris und diesmal ist seine Stimme ganz behutsam. »Grünewaldstraße 4.« Chris und Sina stutzen. Mir kommt die Adresse irgendwie bekannt vor… »Bist du sicher?«, fragt Chris verwirrt. »Wie heißt deine beste Freundin?« Jana schaut drein, als wolle Chris sie verschaukeln. »Franzi. Franziska Sandvoss.« Stille senkt sich über das Auto, während Sina und Chris einen Blick tauschen und ich ungläubig zu Jana und Benni hinüber starre. Es gibt Zufälle, die es einfach gar nicht geben kann. »Hab ich irgendwas verpasst?«, fragt Benni verunsichert. »Franzi ist Chris‘ kleine Schwester«, erklärt Sina und Chris startet den Wagen und wendet. Für seine eigene Adresse braucht er das Navi nicht. »Du bist Chris?«, fragt Jana völlig entgeistert, als hätte sie sich Franzis großen Bruder sehr anders vorgestellt. Sina muss schmunzeln. Chris wirkt verlegen. »Ähm… ja?«, gibt er zurück. Benni sieht aus, als könnte er es nicht recht fassen, dass seine kleine Schwester und Chris‘ kleine Schwester so eng miteinander sind. Jana reicht Benni den Tee und betrachtet Chris nun weniger ängstlich von ihrem Platz auf dem Rücksitz aus. »Franzi hat viel von dir erzählt«, sagt sie leise. Chris schafft ein Lächeln. »Hoffentlich keine peinlichen Kindheitsgeschichten, in denen es um mich und Erdnüsse und aggressive Tauben geht«, erwidert er und Jana muss tatsächlich ein wenig erstickt lachen. Benni entspannt sich sichtlich neben mir. Es ist wirklich bemerkenswert, wie sehr sein Gemütszustand von Janas Wohlergehen abhängt. »Nein… nein, sowas nicht. Nur gute Sachen, wirklich«, gibt sie schüchtern zurück und Benni sieht aus, als würde er zwischen Abneigung gegen Chris und Dankbarkeit ihm gegenüber schwanken, weil er Jana ein wenig ablenkt. Und das tut er, denn er erzählt die Geschichte von den Tauben und den Erdnüssen und bringt Jana damit erneut zum Kichern. Sina ist auf dem Beifahrersitz eingeschlafen und ich taste vorsichtig nach Bennis Hand, die auf der Wolldecke liegt. Er wirft mir einen kurzen Blick zu und seine Mundwinkel zucken müde. Mir fällt auf, dass Chris‘ Stimme sehr beruhigend sein kann. So in etwa stelle ich es mir vor, wenn er seinen kleinen Geschwistern früher vorgelesen hat. Ich gieße den beiden noch einen zweiten Becher Tee ein und Jana sieht bei weitem nicht mehr so durchgefroren aus, als wir in die Grünewaldstraße einbiegen und Chris den Wagen direkt vor dem Haus parkt. Alles ist dunkel, aber oben in einem der Zimmer brennt Licht. »Weiß Franzi, dass du kommst?«, erkundigt Chris sich und Jana nickt. Ihr Blick haftet an dem erleuchteten Fenster und ein beinahe friedvoller Ausdruck legt sich über ihr blasses Gesicht. Benni entgeht das nicht, als er ihre Hand nimmt und Sina folgt, die den anderen voran den Gartenweg hinauf geht. Die Hunde sind nachts im Haus und als Chris seinen Schlüssel ins Schloss steckt, fängt zunächst einer und dann auch die beiden anderen laut zu bellen an. Jana sieht aus, als hätte sie ein wahnsinnig schlechtes Gewissen. Jetzt gehen überall im Haus die Lichter an und Benni sieht unheimlich nervös aus. Franzi ist die erste im Flur und ihre dunklen, kinnlangen Haare werden von einem Haarreif zurückgehalten. Sie trägt einen übergroßen Schlafanzug mit Katzenmuster und sieht wahnsinnig besorgt aus. Bevor irgendjemand etwas sagen kann, hat sich Jana von Benni gelöst und in Franzis ausgebreitete Arme geworfen, als wäre Franzi ihr Rettungsring im Ozean. Auf den Gesichtern der anderen sehe ich die Verwunderung darüber, dass Jana sich von Franzi berühren lässt – und nicht nur das. Es sieht aus, als würde sie in ihre beste Freundin hinein kriechen wollen und sich dort zusammenrollen, um nie wieder heraus zu kommen. »Was ist denn hier los?«, kommt die verschlafene Stimme von Chris‘ Mutter und einen Moment später stehen auch Eileen, Chris‘ Oma und sein Vater im Flur. Chris schließt die Tür hinter sich und sperrt die Kälte aus. Benni sieht zerrissen aus. Zerrissen zwischen Freude und Erleichterung, dass Jana hier mehr als offensichtlich ein zweites zu Hause gefunden hat, und dem Neid und der Enttäuschung darüber, dass er nicht dazugehören kann. »Jana, Schatz, ist alles in Ordnung?«, fragt Chris‘ Mutter. Jana schüttelt an Franzis Schulter den Kopf. Chris räuspert sich. »Das hier ist Benni, Janas Bruder«, sagt er und wedelt mit der Hand in Bennis Richtung. »Es gab ein paar… Probleme bei ihnen zu Hause.« Chris‘ Mutter ist studierte Psychologin. Sie wusste wahrscheinlich schon lange, dass bei Jana zu Hause irgendetwas nicht stimmt, wenn Jana hier so oft ein- und ausgeht. »Sie können bleiben, so lange sie mögen«, sagt Chris‘ Vater ruhig. Er trägt Wollsocken und sieht unheimlich zerknittert aus. Bennis Augen weiten sich, als er den Plural hört. »Ich geh mal Tee machen«, sagt Eileen und ihre Oma folgt ihr in die Küche. Benni steht unschlüssig da und sieht vermutlich zum ersten Mal eine sehr heile Familie aus der Nähe, die nicht aus dem Fernsehen oder aus Büchern stammt. Jana hebt den Kopf und sieht Benni an. »Du solltest bei Anjo bleiben«, sagt sie. Ich blinzele. Ich hätte nicht gedacht, dass sie sich von ihrem Bruder trennen will, aber es sieht so aus, als würde Jana heute Nacht ohnehin zu Franzi ins Bett steigen und sich dort neben ihrer besten Freundin zusammenrollen. »Du kannst bei Anjo im Zimmer schlafen. Ich hab eine Extra-Matratze«, sagt Sina freundlich zu Benni. Ich sehe, dass ihr diese ganze Geschwisterdramatik unheimlich an die Nieren geht und sie schreckliches Mitleid mit Benni und Jana hat. Benni sieht mich fragend und unsicher an, Chris tut so, als würde er nicht zuhören und hat sich zu Mogli auf den Boden gehockt, der zu ihnen in den Flur gekommen ist. »Es wird Zeit, dass ihr einen Anwalt engagiert«, sagt Chris‘ Vater ernst zu Benni. Er starrt den großen, schlaksigen Mann an. »Wir haben kein Geld«, gibt er verwirrt zurück. Chris‘ Vater lächelt. »Mein Sohn, unsere Familie ist ziemlich groß. Mir fallen spontan mindestens drei sehr gute Anwälte ein, die ich anrufen kann und die kein Geld nehmen, wenn es um Familie oder mittellose Extremfälle geht. Mach dir darüber mal keine Sorgen«, sagt er und stapft in die Küche, um dort Eileen und Chris‘ Oma beim Herumwerkeln zu helfen. Tim kommt völlig verschlafen in den Flur geschlurft. »Alter, es ist halb drei. Was geht hier ab?«, will er wissen. Dann sieht er Jana. »Hey Kleines«, nuschelt er und bringt ein breites, verschlafenes Grinsen zustande. Benni schließt einen Moment die Augen, dann streckt er zögerlich die Arme nach Jana aus und sie umarmt ihren Bruder. »Ich ruf dich morgen an, ja? Schlaf gut«, flüstert sie und wirft mir einen Blick über Bennis Schulter zu, ehe sie lautlos ein ›Danke‹ mit den Lippen formt. Ich lächele ihr zu und Chris erhebt sich. »Entschuldigt das Wecken«, sagt er und umarmt seine Mutter. »Das ist überhaupt kein Problem«, gibt sie nachdrücklich zurück und wirft Jana einen Blick zu. »Kommt gut nach Hause«, fügt sie an uns gewandt hinzu und winkt uns noch von der Tür aus, als wir zu viert das Haus verlassen und zurück zum Auto gehen. Benni sagt kein Wort, aber ich hoffe, dass er später noch reden wird. Wenn wir bei mir im Zimmer sind. Wir hocken uns zu zweit auf den Rücksitz und Benni starrt die ganze Fahrt über schweigend aus dem Fenster. Er hat sicher Angst, seine Schwester jetzt doch noch zu verlieren. Aber die Worte von Chris‘ Vater haben mir Mut gemacht. Irgendwie muss doch alles gut werden. Als wir schließlich vor unserem Wohnhaus halten und aussteigen, nimmt Sina mir die Decke und die Thermoskanne ab, während Chris aufschließt. Benni starrt seinen breiten Rücken an, dann öffnet er den Mund. »Danke… für die Hilfe.« Chris hält in seiner Bewegung inne und Sina wirft ihm einen raschen Seitenblick zu. Ich kann Chris‘ Gesicht nicht sehen, aber dann dreht er den Kopf und mustert Benni mit leicht verengten Augen. »Kein Problem«, gibt er zurück. Ein Zögern. Dann… »Immer wieder gerne.« Benni sieht ihn an, als hätte Chris sich gerade in ein rosa Plüschhäschen verwandelt. Sina lächelt und dann schiebt sie Benni Chris hinterher ins Haus und ich folge ihnen die Treppe hinauf, meine Augen abwechselnd auf Bennis und Chris‘ Rücken gerichtet. Von jetzt an muss alles besser werden. Es muss einfach. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)