Kryptonit von Ur (Jeder Held hat eine Schwäche) ================================================================================ Kapitel 40: Sehnsucht --------------------- Hier melde ich mich schon mit dem nächsten Kapitel aus Chris' Sicht :) Wir nähern uns langsam aber sicher dem Ende dieser Geschichte, da ich mir vorgenommen habe, sie noch vor dem 24.10. fertig zu schreiben. Das Kapitel ist für Aye, der ich mal eine ganze Geschichte mit vielen Umarmungen schreiben wollte und es nicht gemacht habe. Weil ich weiß, dass sie Umarmungen sehrsehr mag, kriegt sie das hier :) Ich wünsche euch allen Spaß beim Lesen! Liebe Grüße! ____________________________ »Ist das eigentlich dauerhaft?« Ich tue so, als hätte ich die Stimme nicht gehört und beuge mich etwas tiefer über die Unterlagen. »Natürlich nicht.« »Er wohnt seit zwei Wochen praktisch hier.« Ja, ich kann nachvollziehen, wieso Leon mürrisch, schlecht gelaunt und abweisend ist. Würde mir wahrscheinlich auch so gehen, wenn ich an seiner Stelle wäre. »Du würdest das für Nicci auch machen«, kommt Felix‘ sture Antwort. Leon hat am Anfang nichts gesagt, aber mittlerweile geht ihm meine dauernde Anwesenheit in Felix‘ Wohnung erheblich auf den Senkel. »Du kannst Nicci aber wenigstens leiden«, gibt Leon prompt zurück. Ich seufze und sehe mich dazu gezwungen, aufzublicken. Felix‘ Miene schwankt zwischen Resignation und Ärger. Ich glaube, er wird sich nie daran gewöhnen, dass sein Freund und sein bester Freund sich nicht ausstehen können. »Die Herbstferien sind vorbei, ab morgen bist du mich wieder los«, informiere ich Leon. Er hebt die Augenbrauen und auch wenn ich Leon für einen ziemlichen Trottel halte, scheint er diesmal zwei und zwei zusammen zählen zu können. »Herbstferien«, wiederholt er und verschränkt die Arme vor der Brust. »Achso. Du nimmst Reißaus vor dem Knirps.« Felix runzelt die Stirn und öffnet den Mund, um etwas zu sagen. Aber dann scheint ihm klar zu werden, dass Leon vollkommen Recht hat. Ich weiß selber auch, dass er Recht hat. Ich verkrieche mich seit Tagen in der Uni und in Felix‘ Wohnung, weil ich Anjo nicht sehen kann. »Schon mal drüber nachgedacht, auch nach dem Kram zu handeln, den du selber anderen predigst?«, erkundigt sich Leon gespielt beiläufig bei mir und es ist wirklich noch nie vorgekommen, dass er mehrere Sätze hintereinander an mich gerichtet hat. Andersrum genauso. Wir reden nicht miteinander. Wir tolerieren uns. Oder etwas Ähnliches. Leons Brauen haben sich zusammen gezogen und Felix sieht uns abwechselnd an. Mir ist vollkommen klar, dass er denkt, dass Leon Recht hat. Sonst wäre er schon längst dazwischen gegangen. Ich erinnere mich daran, wie ich Leon gesagt habe, er soll sich zusammen reißen und die Sache mit Felix endlich klären. Ich bin versucht zu antworten, dass das etwas anderes war. Aber die Wahrheit ist, dass das nicht stimmt. Immerhin mir selber kann ich das ja eingestehen. Leon ist… oder war… eigentlich genauso beziehungsunfähig wie ich. Und er hat am Ende sogar über seine sexuelle Identitätskrise hinweg gesehen. Ich lege den Ordner beiseite, der bisher auf meinen Knien lag, und starre Leon schweigend an. Es gibt nichts, was ich sagen könnte. Felix beobachtet uns, während wir uns anschauen. Auch das ist neu. Wir meiden für gewöhnlich den direkten Augenkontakt. »Weißt du noch, wie du Benni angegangen bist, dass er dem Knirps nicht mehr wehtun soll? Alter, du bist so ein Heuchler.« »Noel«, zischt Felix. Leon zuckt mit den Schultern und verschwindet im Flur. »Ich geh nach Hause. Wenn der Arsch endlich wieder ausgezogen ist, kannst du mich ja anrufen«, ruft er noch und dann ist er einfach weg. Es kommt selten genug vor, dass Leon sich gegen Felix auflehnt, aber offenbar hat er jetzt die Schnauze voll. Felix seufzt und starrt die Wohnzimmertür an, wo Leon noch eben im Türrahmen gestanden hat. Dann wirft er mir einen Blick zu, den ich nur kurz erwidere. Dann sehe ich aus dem Fenster. Es ist bereits dunkel draußen und im Licht einer Straßenlaterne erkenne ich feinen Nieselregen. »Chris?« Felix hat sich neben mich gehockt und seine dunklen Augen mustern mich ein wenig besorgt. Normalerweise ist Felix immer darum bemüht, mich in die richtige Richtung zu schieben, aber diesmal ist ihm nach mehrmaligem Nachfragen klar geworden, dass ich mich von ihm nicht schieben lasse. »Was ist denn passiert?« »Ich will nicht drüber reden.« »So schlimm kann’s doch nicht gewesen sein!« »Felix…« »Sag schon.« »Nein.« Ich hab in den letzten anderthalb Wochen gefühlt mehr für die Uni gemacht, als in den letzten vier Semestern. Und all die Arbeit ist nicht mal besonders fruchtbar, weil ich sowieso dauernd nur an Anjo denke. Manchmal auch an Anjo und Benni. Ich hab meine Fähigkeit mich zu verlieben schon tausend Mal verflucht, aber noch nie so sehr wie im Moment. Nach dem denkwürdigen Abend auf dem Sofa bin ich geflohen. Immer, wenn ich Anjo ansehe, drehe ich beinahe durch, weil ich ihn nicht haben darf. Kann. Wie ich auch immer. Ich kann nicht in seiner Nähe sein, ohne mich im wahrsten Sinne des Wortes auf meine Hände setzen zu müssen. Und das Nervigste an der ganzen Sache ist, dass ich ihn so wahnsinnig vermisse, wie ich sehr wahrscheinlich noch nie jemanden vermisst habe. Es ist mir vor mir selbst fast ein bisschen peinlich. »Was?«, gebe ich zurück und klappe den Ordner zu. Es bringt ja doch nichts. Oh man, ich will Anjo küssen. Vielleicht würde Felix mir die Zunge abschneiden, wenn ich ihn darum bitte? »Du bist gruselig, wenn du Liebeskummer hast«, erklärt Felix mir. Ich starre ihn an. »Was? Liebeskummer?«, gebe ich verwirrt zurück. Liebeskummer ist für Leute, deren Gefühle nicht erwidert werden. Das ist nicht wirklich mein größtes Problem. »Sicher, was sonst? Darf ich dich darauf hinweisen, dass du in den letzten zehn Tagen so gut wie nichts gegessen hast, keinen Bock auf Sport hattest und deswegen alles in allem unausstehlich bist? Du machst immer Sport, wenn es dir mies geht. Diesmal nicht«, erwidert Felix. »Ich hab nur wegen des Unikrams…« Felix‘ Blick bringt mich zum Schweigen. Ich hätte eigentlich wissen sollen, dass ich ihn nicht wirklich anlügen kann. Er kennt mich einfach zu gut. »Du vermisst ihn«, sagt Felix und er lächelt. Ich finde das überhaupt nicht zum Lächeln! »Na und?«, schnappe ich und stopfe den Ordner in meinen Rucksack. Wieso versteht kein Mensch unter dieser Sonne – mal abgesehen von Linus, mit dem ich in den letzten Tagen fünf Mal telefoniert habe –, dass es nun mal nicht geht? Ich kann Anjo nicht haben und dann alles falsch machen und ihn in hundert kleine Teile zerbrechen. Felix verdreht die Augen und steht auf. »Du bist mein bester Freund, aber wenn du deinen Heldenkomplex nicht bald unter Kontrolle kriegst, dann werde ich wahnsinnig sauer«, informiert er mich. Ich erhebe mich ebenfalls und hebe meinen Rucksack vom Boden auf. »Heldenkomplex?«, frage ich müde. »Du hast das Gefühl, dass du Anjo wie Glas behandeln musst, weil er so zerbrechlich war, als du ihn kennen gelernt hast. Aber er ist so viel gewachsen in den letzten Monaten, das solltest du doch am besten wissen. Du kannst ihn nicht in Watte packen und wegstecken und jeden anfauchen, dass er ihn in Frieden lassen soll, wenn du selber eigentlich derjenige bist, der ihn viel zu vorsichtig anpackt. Du glaubst, dass er dir kaputt geht, wenn du ihn zu fest hältst, aber er wird dir auch kaputt gehen, wenn du ihn fallen lässt«, sagt Felix. »Sehr poetisch«, nuschele ich und schultere meinen Rucksack. Ich weiß das alles. Aber schließlich steckt keiner von denen in meiner Haut. Ist ja schön für die ganze Welt, dass sie ohne Bindungsängste dahin lebt, aber ich fürchte, ich habe einen zu großen Knacks in dieser Abteilung. »Es ist vor allem sehr wahr«, meint Felix nachdrücklich. »Ja, du und dein Stecher, ihr habt Recht. Weiß ich«, gebe ich knapp zurück. »Aber das ändert nichts dran, wie ich ticke.« Ich stapfe in den Flur und ziehe mir meine Schuhe und meine Winterjacke an. Felix folgt mir und ich höre ihn leise seufzen. »Ich will nicht, dass es dir weiter so mies geht. Tu endlich was«, sagt Felix zum Abschied und ich kassiere einen ziemlich kräftigen Schlag gegen die Schulter. Dann schließt Felix die Tür hinter mir. Wahrscheinlich ruft er jetzt bei Leon an. Ich kann es nicht so richtig fassen, dass der Idiot Recht hat und mir indirekte Lebensberatung an den Kopf geknallt hat. Eine verdrehte Welt ist das. Ich krame mein Handy aus der Hosentasche und sehe drei SMS auf meinem Display. »Bist du ausgezogen und ich weiß noch nichts davon?« Von Sina. Ich seufze leise und öffne die nächste Nachricht. »Ich kann mich nicht entscheiden, ob ich den brünetten Mathematiker oder den rothaarigen Juristen vögeln will. Ob sie sich auf nen Dreier einlassen?« Von Linus. Ich muss grinsen. »Komm bitte wieder nach Hause. Wenn du willst, zieh ich aus…« Ich starre auf die SMS. Das ist das erste Mal, dass Anjo mir in den letzten Tagen schreibt. Er hat mich kein einziges Mal darauf angesprochen, dass ich dauernd verschwunden bin. Ich starre auf mein Handy und biege beinahe falsch ab, während ich mich so schlecht fühle, wie nicht ein einziges Mal in den letzten Tagen. Großartig, Chris. Jetzt will er schon ausziehen, weil er denkt, dass er irgendwas falsch gemacht hat. Ich bin einfach der Knüller. Fast traue ich mich nicht, die Wohnungstür aufzuschließen, als ich davor angekommen bin. Ich hab auf Linus‘ SMS geantwortet und jetzt stehe ich im Flur und ziehe hastig meine Jacke und meine Schuhe aus. In Anjos Zimmer brennt kein Licht mehr. Ich bin erleichtert und beunruhigt zugleich. Ich muss wohl mit ihm reden, wenn ich nicht will, dass er auszieht. Und das will ich wirklich nicht. Die Vorstellung, dass er dann womöglich komplett aus meinem Leben verschwindet, fühlt sich grauenhaft an. Oh klasse, mein Herz hat gerade beschlossen, dass es joggen gehen will. Es hämmert nämlich auf einmal doppelt so schnell wie noch vor zwei Sekunden. Und das nur, weil ich nicht will, dass Anjo auszieht. Herzlichen Glückwunsch, Chris. Es hat dich furchtbar erwischt. Du bist so Hals über Kopf verliebt in den Knirps, dass alles an und in dir Kopf steht. Wie sagte Sina, ich sollte das mit dem Verliebtsein auch mal probieren? Da haben wir es. Und ich kann nicht sagen, dass ich es genieße. Allein neben Anjos Zimmertür zu stehen und nicht einzutreten und Anjo anzusehen – oder Schlimmeres – kostet mich alles an Überwindung, was ich habe. Wann genau ist das passiert? Es ist schon länger da, aber der Knoten ist offensichtlich geplatzt, als wir zusammen auf dem Sofa gehockt haben. Scheißdreck. Ich gehe in mein Zimmer und lasse gleich das Licht aus. Schlecht gelaunt ziehe ich mir meinen Pullover über den Kopf und werfe ihn auf den Schreibtischstuhl. Dann klopft es und ich merke spätestens jetzt, dass ich momentan ein emotionales Wrack bin, weil ich so heftig zusammenzucke, als hätte man mir mit einem Megaphon ins Ohr geschrien. Ich sage keinen Ton, aber die Tür öffnet sich trotzdem und einen Moment hoffe ich, dass es Sina ist. Aber natürlich ist sie es nicht. Anjo trägt den Pulli, den ich ihm geschenkt habe und darunter schaut nur noch der Saum einer Boxershorts hervor. Seine Haare stehen ihm zu Berge und er sieht aus, als hätte er schon geschlafen und wäre extra noch mal aufgestanden. In mir zieht sich alles zusammen, während mein Herz gleich noch einen Zahn zulegt. Wie konnte Sina nur behaupten, dass diese Gefühle irgendwas Positives sind? Ich fühle mich, als wäre ich wieder ein fünfzehnjähriger Teenager. Anjo schließt die Tür leise hinter sich und ich möchte ihm eigentlich sagen, dass ich müde bin und schlafen will. Aber ich bringe es nicht über mich. Meine Stimmbänder scheinen sich ohnehin verdünnisiert zu haben. Anjo sagt kein Wort. Ich sehe sein Gesicht kaum in der Dunkelheit meines Zimmers, die nur vom Licht anderer Fenster im Haus gegenüber erhellt wird. Und dann passiert etwas Furchtbares, da Anjo es offensichtlich für eine gute Idee hält, mir ganz nah zu kommen und seine Arme um mich zu schlingen. Ich stehe stocksteif in seiner Umarmung und seine Finger auf meinem nackten Rücken verursachen ein übermäßig starkes Kribbeln. Als wäre ich noch nie angefasst worden. Oh Gott, kann mich irgendwer erschießen? Anjo riecht nach sich selbst und ich schließe die Augen, um nicht die Beherrschung zu verlieren, ihn zu packen und einfach besinnungslos zu küssen. Aber meine Beherrschung reicht nicht aus, um die Umarmung unerwidert zu lassen. Ich hebe meine Arme und drücke Anjo an mich, als hätte ich ihn seit Jahren nicht gesehen und als hätten wir nur eine Minuten Zeit, um die Abwesenheit des anderen aufzuholen. Wann genau habe ich mich dermaßen in Anjo verliebt? Wann hat er meine Gefühlswelt so komplett umgekrempelt, sodass ich jetzt nicht mehr weiß, wo oben und unten ist? Er drückt sich so nah an mich, als müsste ich ihn vorm Ertrinken retten und ich vergrabe mein Gesicht in seinen zerwuschelten Haaren. Er ist immer noch so schmal. Nicht mehr so schmal wie vor einem halben Jahr, aber immer noch zerbrechlich. Da ist es wieder. Die Zerbrechlichkeit. Anjos Finger zittern auf der nackten Haut meines Rückens und es kostet mich alles an Überwindung, ihn nicht zu küssen. Ich hebe den Kopf ein Stück und Anjo tut es mir gleich. Unsere Augen finden sich und ich lehne meine Stirn an seine. »Tut mir leid«, murmelt Anjo kaum hörbar. Ich kann es kaum ertragen, dass er sich für etwas entschuldigt, wofür er nichts kann. »Dir muss nichts leidtun«, erkläre ich genauso leise wie er. Die Luft um uns herum sprüht förmlich Funken. Wir stehen so dicht beieinander, dass ich Anjos rasenden Herzschlag spüren kann. »Kommst du wieder zurück?«, will er wissen. Eigentlich war ich ja nicht wirklich weg, aber ich weiß, was er meint. Ich schlucke. »Ich versuch’s.« Das ist die Wahrheit. Ich werd’s probieren, aber ich weiß nicht, ob ich es kann. »Ich hab dich vermisst.« Oh, verfluchte Scheiße. Er kann mir sowas doch nicht einfach so sagen. Nicht, wenn er so dicht bei mir steht und seine Fingerspitzen kaum merklich über meinen nackten Rücken streichen und er so nach Anjo riecht und ich ohnehin schon am Rande eines emotionalen Kollapses stehe. »Dito.« Oh, wunderbar. Meine Stimmbänder und meine Zunge haben sich gegen mich verschworen. Anjos Augen weiten sich ein wenig und ich höre überdeutlich, wie er schluckt. Ich zwinge meinen Blick dazu, auf Anjos Augen haften zu bleiben und nicht zu seinem Mund hinunter zu huschen. Ich drücke ihn noch einmal kurz an mich, dann lasse ich los, bevor ich durchdrehe. »Zieh bitte nicht aus«, murmele ich, während ich mich abwende, um meine Bettdecke zurückzuschlagen. »Du auch nicht«, gibt er zurück. Und im nächsten Moment höre ich meine Zimmertür gehen. Dann ist Anjo verschwunden und ich bleibe mit meinem hämmernden Herzen allein. Super. Wenn das so weiter geht, dann zertrümmert Anjo garantiert auch noch den letzten Rest meiner Selbstbeherrschung. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)