Kryptonit von Ur (Jeder Held hat eine Schwäche) ================================================================================ Kapitel 38: Vertrauen --------------------- Wie gut, dass ich das Kapitel geteilt habe. Das hier ist ja schon lang genug geworden. Wir haben hier wieder Chris' Sicht und ich wünsche euch viel Freude beim Lesen :) Liebe Grüße, PS: Die Widmung geht wie so oft an meine Schäfchen, die die Filmwahl in diesem Kapitel inspiriert haben ;) ________________________ Wie sich herausstellt, werde ich wegen des Anrufs von Fabian nicht in der Hölle landen. Als Sina zwei Stunden später zu mir ins Zimmer kommt ist sie ganz still und starrt mich eine ganze Minute lang nur an. Ich bin ein wenig beunruhigt und räuspere mich verhalten. »Alles in Ordnung?« Ihre langen Haare sind nass und noch ganz zerzottelt. Selbstredend trägt sie nur einen Tanga, aber mich kratzt das ja bekanntlich nicht und ich lasse mich von dem Ausblick auf ihre Brüste nicht von der Tatsache ablenken, dass sie offensichtlich unter Schock steht. »Ich versteh irgendwie die Welt nicht mehr. Grad hat er mir eine SMS geschrieben und gefragt, ob er mich jetzt gleich sehen kann«, erklärt sie. Ich bemühe mich, ein unschuldiges Gesicht zu wahren. »Oh. Das ist… gut, oder?«, gebe ich zurück und schicke Fabian in Gedanken einen Glückwunsch darüber, dass ich seine Wohnung nicht augenblicklich ausfindig machen und in die Luft sprengen muss. Sina nickt und streicht sich die nassen Haare aus dem Gesicht. »Vielleicht will er mir jetzt doch direkt sagen, dass er seine Ruhe vor mir haben will«, meint sie unsicher und ich verdrehe die Augen, stehe auf und breite die Arme aus. Es ist nicht das erste Mal, dass ich meine beste Freundin fast nackt im Arm habe. Ich vergrabe meine Nase an ihrem nach Apfelshampoo riechenden Haar und drücke sie. Sina ist wirklich ziemlich winzig. Manchmal vergesse ich angesichts ihrer Persönlichkeit, dass sie kaum größer als einen Meter und sechzig Zentimeter ist. »Gib ihm einfach die volle Breitseite deiner Gefühle, dann weiß er endlich, woran er ist, und wenn er dich dann nicht haben will, dann ist das sein Problem. Dann kann ich ihn für dich immer noch zu Brei hauen«, biete ich ihr nuschelnd an und sie lacht gedämpft gegen meinen Pullover. »Ich will nicht, dass du ihn haust«, entgegnet sie schließlich und ich muss lächeln. »Dann muss es was Ernstes sein. Alle Kerle, die hier sonst so rumliefen, konnte ich gar nicht schnell genug rausscheuchen«, scherze ich und Sina hebt den Kopf ein wenig, um mich anzulächeln. »Du bist eben der Beste«, sagt sie. Ich drücke ihr einen Kuss auf die Stirn. »Was anderes verdienst du ja auch gar nicht«, gebe ich zurück und Sina betrachtet mich liebevoll, ehe sie mir noch einmal durch die Haare wuschelt und dann – leicht bekleidet wie sie ist – in ihr Zimmer huscht, um sich anzuziehen. »Schreib mir, wenn du über Nacht nicht nach Hause kommst«, rufe ich ihr nach. Ein Lachen antwortet mir. Wehe, dieser Armleuchter versaut es. Es dauert nur noch eine Viertelstunde, dann ruft Sina laut »Bis später vielleicht« durch die Wohnung, ich wünsche ihr viel Erfolg und höre eine Sekunde später die Wohnungstür gehen. Noch zehn Minuten mehr und die Tür wird wieder aufgeschlossen. »Ich bin wieder da«, kommt Anjos Stimme aus dem Flur und ich erhebe mich von meinem Schreibtisch, um dem Knirps im Flur entgegen zu kommen. Er schält sich gerade aus seiner Winterjacke und entwirrt seine Schnürsenkel. Lächelnd schaut er auf, als er mich kommen hört. »Ich habe von Sinas Handy aus bei Fabian angerufen und ihn zusammen geschissen, weil er sie unglücklich gemacht hat, und ich hoffe, dass er jetzt alles in Ordnung bringt«, ist mein Willkommensgruß und Anjo blinzelt einen Augenblick verwundert, doch dann scheint sein Gehirn aufzuholen und zu verarbeiten, was ich ihm gerade erzählt habe. »Oh. Wow. Das hätte in die Hose gehen können«, sagt er und steht auf, nachdem er seine Schuhe losgeworden ist. Mir fällt auf, dass er tatsächlich meinen viel zu großen Kapuzenpulli unter der Jacke trägt und Anjo sieht so… Ich verkneife mir das Wort ›entzückend‹ in Gedanken und ignoriere das Fallgefühl in meinem Magen. »Ja, schon. Ist es aber nicht, glaub ich«, sage ich und fahre mir schief grinsend durch die Haare. Parker kommt bellend in den Flur gestürmt, um seinen Retter zu begrüßen. Mir liegt die Frage auf der Zunge, wie es bei Benni im Krankenhaus war. Er hat diesmal nicht angerufen, damit ich ihn abhole. Offenbar ist er mit dem Bus gefahren. Draußen ist es bereits dunkel, aber ich verkneife es mir, ihn zu rügen. Sina hat Recht, ich sollte ihn nicht immer wie einen schutzlosen Welpen behandeln. Anjo hebt Parker auf seinen Arm und lässt sich unterdrückt lachend und mit zusammengepressten Lippen über das Gesicht lecken. »Abgesehen davon, dass es hätte schief gehen können… ist es ziemlich nett von dir, ihr zu helfen. Sie sah in den letzten Tagen wirklich geknickt aus«, gibt Anjo zurück und krault Parker ein wenig durch das flauschige, karamellfarbene Fell, ehe er ihn wieder absetzt und sich mit dem Ärmel des Pullis übers Gesicht wischt. »Hast du zufällig Lust auf irgendeinen Film und heiße Schokolade? Ich brauch was zum Abschalten«, sagt Anjo und sieht ein wenig verlegen aus. Ich beiße mir auf die Zunge, um nicht laut zu vermuten, dass dieses Bedürfnis vermutlich irgendwas mit seinem Krankenhausbesuch zu tun hat. »Sicher. Du bist ja nicht so der Filmfan, also such du was aus«, meine ich schmunzelnd und Anjo sieht ein wenig ratlos aus, dann huscht er in dem übergroßen Pulli ins Wohnzimmer und ich sehe ihm einen Moment lang nach – mein Herz macht Saltos bei der Aussicht auf einen gemütlichen Filmabend allein mit Anjo auf unserem Sofa. Ich sollte mich darüber nicht allzu sehr freuen. Und meine Idee von sehr engem Körperkontakt während des Films ist absolut unpassend. Aber die Gedanken sind ja bekanntlich frei und machen jeden Scheiß, den sie nur wollen. Auf mein geistiges Wohlbefinden haben sie jedenfalls noch nie Rücksicht genommen. Wie sich herausstellt, ist Anjo weder ein Fan von Sinas Colin-Firth-Sammlung, noch von meinen Sport- und Actionfilmen. Er kramt einen der wenigen Filme hervor, die nicht in unser gewöhnliches Filmschema passen. »Ist der ok für dich?«, fragt er und hält ›Eine Leiche zum Dessert‹ in die Höhe. Ich schmunzele. »Sicher. Ich schau alles, was da unten drin steht. Mit Ausnahme von ›St. Trinian’s‹ und ›Mamma Mia!‹…« Da Sina jeden Film guckt, in dem Colin Firth mitspielt, reiht sich dort unten auch einiges an Filmen, die ich eher gruselig finde. Die beiden aufgezählten waren eindeutig nicht mein Fall und auch ›Bridget Jones‹ gehört nicht zu meinen Lieblingsfilmen. Ich hab ihn mir damals trotzdem mit Sina angeschaut – zugegebenermaßen mit einer Menge Bier dazu. »Ich kann das mit dem Film machen, du bist mit der Schokolade besser betraut als ich«, meine ich und gehe hinüber zum Fernseher. Anjo schmunzelt. »Du meinst, du würdest sogar Kakao im Topf anbrennen lassen?«, will er wissen. Ich zucke amüsiert mit den Schultern. »Ich hab mal ein Ei in die Mikrowelle gelegt«, erwidere ich scheinheilig. Anjos Augen weiten sich. »Oh Gott… ich geh schon«, sagt er, springt eilends auf und verschwindet in der Küche. Eine Sekunde später höre ich ihn im Topfschrank kramen. Grinsend hocke ich mich auf den Teppichboden, schiebe die DVD in den Player und schalte den Fernseher ein. Anschließend ziehe ich die Gardinen zu, drehe die Heizung ein wenig höher und schmeiße die Fernbedienungen aufs Sofa, damit sie für uns in Reichweite sind. »Willst du Schlagsahne drauf?«, ruft Anjo. Mein erster Gedanke zu Schlagsahne ist nicht jugendfrei. Ich räuspere mich. »Ja… bitte«, antworte ich etwas matt und reibe mir kurz die linke Schläfe. Chris, reiß dich zusammen. Freitagabend kannst du dir einen aussuchen, mit zu ihm nach Hause gehen und ihn die ganze Nacht lang in die Matratze vögeln. Zehn Minuten später habe ich eine große Tasse mit heißem Kakao vor mir stehen. Obenauf thront ein sorgfältiges gesprühtes Sahnehäubchen und Anjo hockt jetzt neben mir auf der Couch und rührt in seiner eigenen heißen Schokolade, aus der es dampft. Er hat keine Sahne drauf. »Schreibt Sina dir ‘ne SMS, was mit Fabian ist?«, erkundigt er sich, während ich im Menü auf Play drücke, die Fernbedienung auf den Couchtisch lege und mich mit meiner Tasse zurücklehne. »Hoffe ich doch… Ich hab ihr gesagt, sie soll schreiben, wenn sie über Nacht weg bleibt«, erwidere ich und Anjo quittiert meine Auskunft mit einem lächelnden Nicken. »Willst du auch Decke?«, erkundigt er sich und angelt nach einer der Wolldecken, die am Ende des Sofas gestapelt liegen. »Hmhm«, sage ich und versuche mit meinen Lippen etwas von der Sahne abzuschöpfen. Anjo breitet die Decke sorgsam über uns beiden aus und wirft mir einen Blick zu. Dann lacht er leise. »Du hast da Sahne«, informiert er mich und tippt sich an seine Oberlippe. Ich muss glucksen. »Die kann da bleiben. Solang noch Sahne auf dem Kakao ist, macht’s keinen Sinn das wegzuwischen«, gebe ich zurück und nehme noch einen Happen Sahne. Wir beobachten, wie der blinde Butler Briefmarken auf den Schreibtisch klebt, und ich stelle fest, dass Anjos und meine Knie sich gegeneinander drücken, da wir beide im Schneidersitz auf dem Sofa hocken. Es gab mal eine Zeit in meinem Leben, da war so eine simple Berührung von zwei Körpern keinen Gedanken wert. Dann allerdings stolperte ein grünäugiger Knirps namens Anjo auf meinen Weg und auf einmal bin ich fünfzehn, hormongesteuert und alles in allem peinlich. So bewusst war ich mir meines Körpers noch nie. Zumindest kann ich mich nicht erinnern. Am Abend von Anjos Geburtstagsfeier war zwar auch alles stressig, aber da hatte ich genug Alkohol intus, um mein Gehirn ein wenig zu lähmen. Kurz nachdem alle Detektive im Haus angekommen sind, haben Anjo und ich unsere Schokolade ausgetrunken und die Tassen auf dem Couchtisch abgestellt. Weil ich die Heizung hochgedreht habe und die Decke sehr gemütlich ist, habe ich nach einiger Zeit eindeutig das Gefühl, tiefer ins Sofa zu sinken. Anjo spielt an den Bändchen der Kapuze herum, während er schmunzelnd beobachtet, wie der Butler nicht vorhandene Suppe ausschenkt. Ich strecke unbedacht die Hand aus und halte Anjos Finger fest, damit sie aufhören, in meinem Augenwinkel herum zu wackeln. »Das macht mich unruhig«, sage ich. Dann wird mir klar, dass Anjo auf unsere Hände starrt und dass ich ihn noch nicht losgelassen habe. Großartig, Christian. Manchmal wäre es wirklich gut, erst zu denken und dann zu handeln. Anjos Finger sind sehr viel schmaler als meine. Ok, ich hab eigentlich eher Schaufeln als Hände, was daran liegt, dass ich unheimlich groß bin. Sollte ich tatsächlich darüber nachdenken, dass es sich nett anfühlt, Anjos Hand zu halten? Nein, ich sollte eigentlich loslassen. Tu ich aber nicht. Stattdessen lasse ich unsere Hände gemeinsam sinken und jetzt liegen sie auf der grauen, flauschigen Decke, die über uns ausgebreitet liegt. Mein Herz hat sich in einen nervösen Kolibri verwandelt. Hey, Chris, schön, dass du wieder fünfzehn bist! Ich überlege gerade, ob es nicht nachträglich noch eine gute Idee wäre, so zu tun, als wäre das völlig normal, und die Hand wieder wegzunehmen… da dreht Anjo seine Handfläche nach oben und seine Finger schieben sich ganz vorsichtig zwischen meine. Ich. Krepiere. Händchenhalten mit dem Knirps? Ich meine… wirklich? Anjos Gesicht ist knallrot und er kaut nervös auf seiner Unterlippe herum. Mir wird klar, dass er Schiss hat, dass ich die Hand wegnehme. Angst vor Zurückweisung. Aber ich hab damit angefangen und jetzt komme ich mir vor wie ein aufgeregter, unerfahrener Teenager. Tatsächlich ist das hier sowas wie Neuland. Immerhin habe ich noch nie im Leben mit irgendwem Händchen gehalten, in den ich… der Gedanke ist fast ein wenig erniedrigend. Und deprimierend. Und mein Körper ist sehr zufrieden damit, wie sich das anfühlt, was das alles nicht besser macht. Ich kriege kaum noch mit, wie Peter Falk sich darum herumdrückt, den nackten, toten Butler zu durchsuchen, weil meine komplette Konzentration auf Anjos und meine miteinander verhakten Finger gerichtet ist. Mein Magen fühlt sich an, als wäre er in Alice‘ Kaninchenbau gefallen und der Boden ist eindeutig nicht in Sicht. Ich kann mich nicht dran erinnern, dass es mir so jemals mit Jakob oder Felix gegangen ist. Das Gefühl ist gleichzeitig beunruhigend und berauschend und ich kann meinen Daumen nicht wirklich davon abhalten, ganz behutsam über den von Anjo zu streichen. Wer braucht Drogen, wenn‘s auch sowas gibt? Die Welt wäre so viel friedlicher, wenn nur alle Menschen das mal ausprobieren würden… Ich merke, wie meine Gedanken sehr absurd werden. Herzlichen Glückwunsch Anjo, mein Gehirn läuft, als wäre es ein Kaninchen auf Ecstasy. Ich glaub, Anjo hat die Luft angehalten. Vielleicht hab ich auch selber die Luft angehalten und… Anjo löst seine Beine aus dem Schneidersitz, schiebt sie neben sich aufs Sofa und dann kippt er tatsächlich zur Seite, sein Kopf landet auf meiner Schulter und ich lasse automatisch seine Hand los, um meinen Arm zu heben und ihn um Anjo zu legen. Wundervoll. Wir hängen jetzt offiziell kuschelnd vorm Fernseher und ich habe gerade meine beknackte linke Hand mit der rechten ersetzt, damit Anjos Hand da bloß nicht allein auf der Decke liegt. Und damit ich so viel Körperkontakt wie möglich abkriege. Scheint so, als hätte ich es wirklich sehr nötig. Dass ich dem Knirps hier gerade riesige Hoffnungen mache, steht in neongrüner Leuchtschrift über mein Gehirn geschrieben. Das Esszimmer im Film ist leer und dann doch wieder nicht und ich versuche den Geruch von Anjos Shampoo zu ignorieren, der mir überdeutlich in die Nase steigt. In dieser Position kann ich sein Gesicht nicht mehr sehen, obwohl ich gerade wirklich gern wissen würde, wie der Knirps dreinschaut. Der undisziplinierte Teil meines Gehirns verlangt tobend, dass der Film noch vier Stunden weiter laufen soll. Vor allem, als Anjos Finger sich von meinen lösen und dann ganz behutsam kleine Muster auf die Oberseite meiner Hand malen. Meine linke Hand, die auf Anjos Schulter liegt, nimmt sich daran ein Beispiel und streicht vorsichtig über Anjos Oberarm. Ich glaube, Anjo zittert ein bisschen. Da es wirklich sehr warm hier drin ist, glaube ich nicht, dass ihm kalt ist. Meine Nerven flattern wie Fähnchen im Sturmwind. Es ist ein bisschen so wie wildes Rummachen ohne rummachen. Wir rutschen immer näher aneinander, ich hab das Gefühl, als würden wir versuchen ineinander zu kriechen und die zunächst noch vorsichtigen Fingerspitzen sind zu Handflächen geworden, die den anderen noch näher ziehen wollen, während sie Arme, Schultern und Seiten entlang fahren. Mein Gehirn ist blankgefegt und der Film hat vor einiger Zeit seinen Sinn verloren. Ich bin sicher, dass ich jede Sekunde sterben könnte, wenn ich Anjo jetzt nicht augenblicklich küsse. Als meine Finger die nackte Haut an seinem Hals berühren, höre ich, wie er leicht zischend einatmet. Ich schließe einen Moment lang die Augen, während ich gegen den Magneten namens Anjo anzukämpfen versuche. Dann piept mein Handy sehr laut und der Knirps zuckt ein wenig erschrocken zusammen, als würde er sich ertappt fühlen. Geht mir genauso. Ich will ja eigentlich nicht loslassen, aber sehr wahrscheinlich ist das Sina und ich muss wissen, ob alles in Ordnung ist. Also krame ich mit meiner freien Hand nach dem Handy, während Anjos Finger irgendwo in meinem Ärmel stecken und meinen Unterarm kraulen. Hatte ich erwähnt, dass ich wahrscheinlich gleich sterbe? »Ich bin über Nacht außer Haus. Vergiss, was ich übers Verliebtsein gesagt hab. Es ist so ziemlich das Beste überhaupt. Hab dich lieb!« Soviel zu Sinas Stimmungsschwankungen. »Alles ok bei Sina?« Anjos Stimme klingt leise und ziemlich unsicher und etwas heiser. Ich räuspere mich. »Ja, scheint so. Sie… äh… bleibt über Nacht weg.« Dieser Satz klingt irgendwie falsch. Vielleicht überinterpretiere ich ja auch. »Oh… das freut mich.« Anjo klingt klein und ich seufze lautlos. Aber dann schmiegt er sich näher an mich, vergräbt sein Gesicht tatsächlich in meinem Pullover und sieht vom Ende des Films überhaupt nichts mehr. Es ist, als hätte er Angst loszulassen. Ich hebe meine rechte Hand, was dazu führt, dass Anjos Finger aus meinem Ärmel verschwinden. Dann fahre ich ihm behutsam durch die Haare und sage keinen Ton mehr. Es würde vermutlich ohnehin nur Mist dabei heraus kommen. Als der Abspann des Films zu laufen beginnt und man nur noch das Lachen der vermeintlich stummen Köchin hört, stelle ich fest, dass Anjos Hände sich nicht mehr bewegen. Ich verrenke mir beinahe den Hals, als ich ihm ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht streiche, um zu sehen, ob er… und tatsächlich. Er ist eingeschlafen. Halb auf mir drauf, in meine Umarmung gekuschelt und mit einem ausgesprochen zufriedenen Gesichtsausdruck. Ich betrachte ihn solange, bis ich Nackenschmerzen bekomme, dann greife ich nach den Fernbedienungen und schalte den Fernseher und den DVD-Player aus. Danach rutsche ich vorsichtig unter Anjo hervor. Er gibt nur ein leises, schlaftrunkenes Geräusch von sich, dann schiebe ich ein Kissen unter seinen Kopf und decke ihn richtig zu. Wahrscheinlich ist es gut, dass der Knirps eingeschlafen ist, sonst hätte ich ihn doch noch überfallen. Ich ertappe mich dabei, wie ich auf ihn hinunter lächele und räuspere mich in die Stille des Zimmers hinein. Dann verschwinde ich schleunigst aus dem Wohnzimmer und schalte das Licht aus. Nachdem ich mich bettfertig gemacht habe, kribbelt meine Haut immer noch. Mist verdammter. * »Also… Sina ist jetzt ein paar Tage außer Haus, weil sie mit diesem Fabian zusammen ist, du hast mit Anjo auf dem Sofa gekuschelt und jetzt redet ihr nicht drüber, sondern verhaltet euch, als wäre alles ganz normal«, fasst Felix meinen Bericht zusammen. Ich nicke und nehme einen Schluck von meinem Bier. Es ist Freitag, Nicci und Leon sind auch mit im Na und!? und gerade holen sie sich was Neues zu trinken. Ich habe also die Gelegenheit genutzt und mich auf Felix gestürzt, um ihm genau zu erklären, was mit Anjo auf dem Sofa passiert ist. »Wieso genau seid ihr noch nicht zusammen?«, fragt er mich dann und ich unterdrücke das dringende Bedürfnis, meinen besten Freund zu schütteln. »Felix«, knurre ich und er verdreht die Augen und wedelt mit der Hand vor meinem Gesicht herum, um zu zeigen, dass er die Antwort eigentlich kennt. Ich hab es ihm ja mittlerweile auch wirklich oft genug gesagt. »Möchtest du auch noch irgendwas sagen, bevor Nicci und dein Stecher wieder kommen? Er sieht heute noch grimmiger aus als sonst«, sage ich, um das Thema zu wechseln. Felix betrachtet mich einen Moment lang streng, weil ich mich strikt weigere Leon beim Vornamen zu nennen. Aber dann verdreht er die Augen und erklärt mir, wieso Leon so miesepetrig dreinschaut. »Lennard ist Nicci mit seiner Ex fremdgegangen und sie hat daraufhin mit ihm Schluss gemacht. Er rutscht jetzt auf Knien vor ihr rum, damit sie ihm noch eine Chance gibt und das setzt ihr ziemlich zu, weil sie ihn immer noch liebt, aber sie meint, dass sie ihm jetzt nicht mehr vertrauen kann und sich das für sie erledigt hat. Leon schwankt dementsprechend zwischen Stolz auf Nicci und einer Mordswut auf Lennard, den er eigentlich am liebsten totschlagen würde, aber Nicci lässt ihn nicht. Wenn es Nicci schlecht geht, dann ist Leon meistens auch mies drauf, was ich eigentlich ziemlich niedlich finde.« Ich runzele die Stirn. »So’n Arsch«, sage ich. Mehr fällt mir dazu nicht ein. »Ja, schon. Er hat damals ja schon mit Nicci geknutscht, als er noch mit seiner Ex zusammen war, da hätten bei mir ja schon die Alarmglocken gebimmelt. Wer jemanden mit dir betrügt, der kann dich genauso schnell betrügen«, sagt Felix und er sieht einen Moment lang auch ein wenig grimmig aus. Lennard sollte sich so bald nicht wieder bei der Band blicken lassen. Ich kann mir auch wunderbar vorstellen, dass Lara mindestens so wütend auf ihn ist wie Leon. Die beiden planen garantiert schon Lennards schrecklichen Tod durch einen mysteriösen Unfall. Allerdings bin ich positiv überrascht davon, dass sich Nicci nicht zurück in seine Arme schmeißt, nachdem er sie so hintergangen hat. Ich hab zugegebenermaßen damals auch nicht verstanden, wieso Milan zurück zu Jakob gegangen ist. Ich hätte das wohl nicht gemacht. »Wenn er vorhat auf dem nächsten Konzert aufzutauchen, kann ich jedenfalls für nichts garantieren«, fügt Felix abschließend hinzu, als er Leon und Nicci entdeckt, die sich beide mit einem Getränk durch die Menge auf uns zu schieben. Das beendet unser Gespräch abrupt und ich habe wieder Zeit, mir Gedanken darüber zu machen, dass Anjo und ich auf dem Sofa gekuschelt haben, als ginge es um unser Leben. Unweigerlich fängt mein Magen an zu kribbeln und das liegt nicht daran, dass ich schon gute zehn Bier vernichtet habe. »Hast du eigentlich schon irgendwen entdeckt?«, fragt Felix mich in diesem Moment. Ich schiebe meine Gedanken an Anjos Hand in meinem Ärmel beiseite und trinke den letzten Schluck Bier aus meiner Flasche. Nachdenklich lasse ich den Blick schweifen. »Wird nicht schwer. Wie immer starren dich alle an«, informiert Felix mich grinsend. Ich schnaube schmunzelnd. »Vielleicht starren sie auch dich an«, gebe ich zu bedenken und Felix streckt mir die Zunge raus. Als hätte Leon ganz genau gehört, was ich gerade gesagt habe, legt er seinen Arm besitzergreifend um Felix. Nicci nippt sachte lächelnd an ihrem Cocktail. »Der Blonde da drüben starrt dich an«, informiert sie mich. Wunderbar, alle Welt weiß, dass ich auf Beutesuche bin. Naja, mir soll es egal sein. Ich folge ihrem Kopfnicken und entdecke einen jungen Mann mit kurzen, blonden Haaren, Grübchen in den Wangen und einem dunkelroten Hemd. Er grinst, als unsere Blicke sich treffen. »Ich geh dann mal«, sage ich und zwinkere Felix zu. »Halt die Ohren steif, Tiger«, sage ich an Leon gewandt und handele mir einen wütenden Blick ein, dann verschwinde ich in Richtung des blonden Unbekannten. Mir wird in diesem Moment bewusst, dass ich das erste Mal im Leben – abgesehen von meinem ersten Mal – auf einen One-Night-Stand aus bin. Normalerweise tue ich sowas ja nicht. Aber diesmal… Da haben wir es wieder. Der Knirps krempelt mich von innen nach außen. »Willst du tanzen?«, frage ich unumwunden, als ich direkt vor dem Fremden stehe, dessen Augen aus der Nähe ziemlich blau sind. »Und mit tanzen meinst du hoffentlich möglichst eng aneinander gedrückt auf der Tanzfläche zu stehen?«, kommt die freche Antwort und ich muss grinsen. »So in etwa«, gebe ich zurück. Und schon hat er meine Hand geschnappt und zieht mich hinter sich her auf die Tanzfläche, die wirklich nicht viel Platz bietet, um sonderlich ausschweifend zu tanzen. Macht mir nichts, ich tanze ohnehin nicht mit besonders großer Leidenschaft. Ein paar Herzschläge später hat sich der freche Fremde an mich gedrückt, seine Hände in meinen Nacken geschoben und mich übermütig angegrinst. Er ist etwa so groß wie Felix, also keine zehn Zentimeter kleiner als ich. Unweigerlich kommt mir der Gedanke, dass Anjo noch mal gute zehn Zentimeter kleiner ist als Felix. Das hilft nicht. Ich schlinge meine Arme um seine Taille und drücke unsere Unterkörper aneinander. »Sagst du mir noch, wie du heißt, bevor ich anfange dich zu küssen?«, frage ich ihm direkt ins Ohr. Seine Antwort ist ein ausgelassenes Lachen. »Linus«, erklärt er. »Chris«, erwidere ich und dann tue ich, was ich bereits angekündigt habe. Ich küsse ihn frei weg auf den Mund. Meine Augen schließen sich zufrieden und ich halte mich nicht mit höflichem Tasten von Lippen auf. Linus scheint auch nicht an erkundenden Küssen interessiert zu sein, denn eine halbe Sekunde später spüre ich bereits seine Zunge an meiner. Seine Hände wühlen sich in meine Haare, meine legen sich auf seinen Hintern und ziehen seinen Unterkörper so nah wie möglich. Ich höre meinen Körper jubilieren, der eindeutig viel zu lange ohne all diese Dinge auskommen musste. »Weißt du, was das Beste an mir ist?«, fragt Linus zwischen zwei hungrigen, atemlosen Küssen. »Dass du küsst wie ein Weltmeister?«, rate ich ins Blaue hinein. Er lacht. »Das vielleicht auch. Aber vor allem wohne ich nur zwei Straßen weiter«, informiert er mich. Mein Unterleib schnurrt zufrieden bei der Aussicht, die diese Worte vor meinem inneren Auge hervorrufen. »Wieso stehen wir hier dann noch rum?«, antworte ich und er lacht schon wieder. Ich mag sein Lachen. Linus löst sich von mir und ich folge ihm von der Tanzfläche. Wir kommen in aller Stille überein, dass wir nur noch unsere Jacken abholen müssen und wir stehen schweigend und ungeduldig in der Schlange vor der Garderobe. »Dein Kumpel sah aus, als würde er dich gern von hinten erdolchen«, erklärt Linus mir und ich muss einen Moment nachdenken, weil ich mir nicht denken kann, wieso Felix mich erdolchen wollen würde. Dann wird mir klar, dass er Leon meint. »Achso. Der. Nee, das ist nicht mein Kumpel. Ist der Freund meines besten Freundes«, erkläre ich grinsend. »Der kann mich nicht leiden.« Linus zieht amüsiert die Brauen hoch. »Wieso? Bist du in Wahrheit ein unsympathisches Arschloch?«, will er wissen. Ich gluckse. »Manchmal vielleicht. Zu ihm immer. Die beiden sind nur zusammen gekommen, weil mein bester Freund ihn mit mir eifersüchtig gemacht hat. Das hat Spuren hinterlassen«, erzähle ich und schwelge einen Moment lang in der Erinnerung. Dann suche ich nach meiner Garderobenmarke, um meine Jacke wieder zu kriegen. Ein paar Minuten später haben wir das Na und!? verlassen und die kalte Nachtluft schlägt uns beißend ins Gesicht. Linus macht sich nicht die Mühe seine Jacke zu schließen. Mir soll’s recht sein, dann kann ich sie ihm schneller wieder ausziehen. »Dein bester Freund ist auch ziemlich niedlich«, informiert Linus mich ohne Umschweife. Ich muss lachen. »Niedlich ist nicht unbedingt das erste Wort, das mir zu ihm in den Sinn kommt«, gebe ich amüsiert zurück und Linus grinst spitzbübisch. Ich mag seine Grübchen. »Heiß. Hübsch«, schlägt er vor. Ich nicke. »Ja, das trifft’s schon eher«, stimme ich zu. »Der Blonde neben ihm sah aber aus, als würde er jeden lebendig häuten, der ihm zu nahe kommt.« »Würde er auch. Danach steinigt er dich noch, vierteilt dich…«, ich zähle die Todesarten an meinen Fingern ab und Linus lacht schon wieder. Er kramt einen Schlüssel hervor und hält vor einem gelb angestrichenen Haus mit weißer Haustür. »Klingt unangenehm«, gibt er zurück und stochert im Türschloss herum. Dann hält er die Tür für mich auf und ich trete in ein grau gefliestes Treppenhaus. »Zweiter Stock«, erklärt er und wir steigen nebeneinander die Stufen empor, bis ich vor einer Türmatte mit der Aufschrift ›Hinknien und um Audienz bitten‹ stehe und schon wieder grinsen muss. »Soll ich mich hinknien?«, erkundige ich mich amüsiert. Linus streckt mir die Zunge raus. »Nicht hier draußen. Drinnen kannst du das natürlich gerne tun«, meint er scheinheilig. Dann öffnet er die Wohnungstür und lässt mich in den Flur. Es ist eine kleine aber aufgeräumte Wohnung, soviel kann ich sehen. Dann beschäftige ich mich damit, Jacke und Schuhe auszuziehen und im nächsten Augenblick pressen sich erneut fordernde Lippen auf meinen Mund, Hände fahren forschend unter mein Shirt und krallen sich zufrieden in den Schultern fest, als ich den Kuss erwidere. Obwohl Linus nicht gerade klein ist, ist er doch schmaler als ich und ich habe keine Probleme damit, mich ein Stück zu bücken, meine Hände unter seinen Hintern zu schieben und ihn hochzuheben, um ihn gegen die nächste Wand zu drücken. Seine Beine schlingen sich fest um meine Taille und als er damit anfängt, seinen Unterkörper aufreizend gegen meinen zu bewegen, entwischt mir ein zufriedenes Keuchen. Ich schiebe sein langärmeliges Shirt nach oben, er hebt die Arme und ich zerre es ihm vom Oberkörper, dann beschäftigt sich mein Mund mit seinem Hals und seinem rechten Ohr. Linus‘ Atem hat sich bereits beschleunigt und seine Finger streichen ruhelos über meinen Rücken. »Letzte Tür links«, stöhnt er, als ich ihn noch dichter zwischen mir und der Wand einklemme und unsere Unterkörper sich fest gegeneinander pressen. Ich grinse gegen seinen Hals, dann hebe ich ihn fort von der Wand und spähe über ihn hinweg, damit ich sehen kann, wo ich ihn hintrage. »Ich wurde noch von keinem über die Schwelle getragen«, informiert er mich und ich höre das Schmunzeln in seiner Stimme. Dann beginnt er mir ausgiebig am Ohr herum zu knabbern und mir läuft eine Gänsehaut den Rücken hinunter. Im nächsten Moment stehen wir in seinem Zimmer und er gibt seiner Tür einen Tritt, damit sie hinter uns ins Schloss fällt. Ich setze ihn ab und küsse ihn erneut, presse ihn näher an mich und quittiere seine Hände, die an meinem Gürtel herum nesteln, mit einem zufriedenen Geräusch, das vom Kuss geschluckt wird. Und dann, ganz plötzlich, taucht es in meinem Kopf auf und will nicht mehr verschwinden. Das Bild von Anjo, an meine Seite gekuschelt, schlafend. Anjo vertraut mir. Und ich habe nun sehr deutlich das Gefühl, ihn gerade zu betrügen. Was Schwachsinn ist, weil wir nicht zusammen sind und weil er mit Benni rummacht und sich dabei garantiert nicht fühlt, als würde er mich betrügen. Ich löse mich von Linus und starre ihn an. Er legt den Kopf schief, seine Lippen sind feuchtgeküsst und sein Shirt liegt vergessen im Flur. »Ich kann nicht«, höre ich mich sagen. Großartig, Christian. Wirklich großartig. Linus betrachtet mich einen Augenblick schweigend, dann… »Verheiratet?« »Was? Nein!«, antworte ich empört. Er schmunzelt. »Vergeben?« Ich schüttele den Kopf. Er gluckst leise. »Also verliebt.« Stille tritt ein. Ich erinnere mich dunkel daran, wie ich zu Felix gesagt habe, dass ich auf dem besten Weg bin, mich in Anjo zu verknallen. Ver-knal-len. »Ja, ich fürchte schon«, antworte ich und fahre mir mit den Händen übers Gesicht. Linus lacht leise und als ich wieder zu ihm hinsehe, hat er eine kleine Nachttischlampe eingeschaltet und eine Zigarette aus einer Schachtel auf dem Nachtschrank gezogen. Er schiebt sie sich zwischen die Lippen und greift nach einem Feuerzeug. »Willst du drüber reden?«, fragt er und seine blauen Augen funkeln, während Rauch vor seinem Gesicht aufsteigt. Er kippt das Fenster und hockt sich vors Bett auf den weichen Teppichboden, der – wie ich jetzt bei Licht sehen kann – rot ist. Ich will schon den Kopf schütteln, aber dann halte ich inne. Schließlich zucke ich mit den Schultern, hocke mich neben ihn und fröstele leicht in der kalten Luft, die jetzt von draußen ins Zimmer rieselt. Die Möbel sind bunt durcheinander gewürfelt. Ein dunkler, alt aussehender Schrank, ein heller, sorgsam aufgeräumter Schreibtisch mit Laptop und Drucker. Das Bett ist mit Simpsons-Bettwäsche bezogen. »Ich fürchte, es ist eine ziemlich lange Geschichte«, gebe ich zu. Er grinst und nimmt einen roten Aschenbecher von dem Nachtschrank, den er vorsichtig auf seinem angezogenen Knie ausbalanciert, ehe er hinein ascht. »Ich hab Zeit. Ist ja nicht so, als würde ich heut noch Sex haben«, gibt er stichelnd zurück und ich ertappe mich bei einem peinlich berührten Verziehen des Gesichts. »Schon ok«, fügt er hinzu, als er sieht, dass ich offenbar ein schlechtes Gewissen wegen meines Rückziehers habe. Ich betrachte den knalligen Teppichboden und höre, wie Linus ab und an den Rauch seiner Kippe in die Luft pustet. Dass er mit freiem Oberkörper und offenem Fenster nicht friert, ist mir ein Rätsel. Dumpf bemerke ich, dass meine Hose immer noch offen ist, aber ich kann mich nicht wirklich dazu durchringen, diesem Umstand Beachtung zu schenken. »Also… es war einmal ein fünfzehnjähriger Vollidiot, der zufällig genauso heißt wie ich«, fange ich an und Linus gluckst heiter. »Unfassbar. Zufälle gibt’s«, sagt er und bufft mich mit der Schulter leicht von der Seite an. Ich muss grinsen. Zehn Bier haben eindeutig meine Zunge etwas gelockert. »Nicht wahr? Also… dieser Typ war mit einem Jungen in einer Klasse. Der Junge hieß Jakob…« Und ich kann es selber nicht so richtig fassen, aber ich erzähle meine halbe Lebensgeschichte. Von Jakob und Adam und mir und Felix und Leon und von Anjo. Anjo und Benni und ich, dieses merkwürdige Dreieck. Linus unterbricht mich kein einziges Mal, er zündet sich bei dem Part, in dem ich Anjo vor Benni rette, eine neue Zigarette an und schließt zwischendurch das Fenster. »Wow. Und ich dachte schon, ich hätte ‘n beschissenes Liebesleben hinter mir«, ist sein Schluss, als ich mit meiner Geschichte am Ende bin. Das Ende ist die Sofaszene gewesen und Linus betrachtet mich nachdenklich von der Seite. Ich puste mir die Haare aus dem Gesicht und fühle mich merkwürdig leer, als hätte ich die Geschichte nicht nur erzählt, sondern aus mir raus geredet. »Ich kann’s aber total verstehen, man. Ich würd’s mir auch zwei Mal überlegen, ob ich mich an den Knirps rantraue. Ist ja kein Wunder, so wie das damals mit Jakob gelaufen ist«, meint er und ich blinzele verwirrt. Dann starre ich ihn an. »Hä?«, entgegne ich geistreich. Bisher war alles, was ich gehört habe, dass ich mich nicht so anstellen soll und dass die ganze Sache schließlich Jahre zurück liegt… »Was denn?«, fragt er und lacht. »Das hat mir noch keiner gesagt«, gestehe ich. Linus zuckt die Schultern und zieht an seiner Zigarette. »Bindungsängste. Kann ich dir ‘n Lied von singen. Oder besser nicht, ich singe furchtbar… aber jedenfalls… versteh ich das total. Er ist dir wichtig und wenn du’s versaust, dann verlierst du ihn wahrscheinlich. Aber mich würd’s wohl auch wahnsinnig machen, wenn er mit diesem Benni da rumexperimentiert. Ich kenn den Knirps ja nicht«, Es amüsiert mich an dieser Stelle ein wenig, dass Linus Anjo ebenfalls Knirps nennt, »aber hört sich so an, als würde er nicht so richtig einsehen wollen, dass du ihm nur ‘ne Menge Scheiße ersparen willst.« Ich schnaube freudlos. Nein, das scheint Anjo egal zu sein. »Wie abgefuckt ist dein Liebesleben?«, erkundige ich mich. Linus lacht, drückt seine Zigarette aus und legt den Kopf in den Nacken, sodass er auf der Simpsons-Bettdecke liegt. »Ich war ein Jahr mit ‘nem ehemaligen Kumpel von mir zusammen. Er konnt‘ nicht wirklich treu sein, dann hab ich auch angefangen rumzuhuren, wir haben uns betrogen und geprügelt und gestritten und gevögelt und konnten nicht miteinander und ohne auch nicht. Bis ich dann irgendwann beschlossen habe, dass ich die Schnauze voll habe und dass Beziehungen nichts für mich sind«, erklärt er kurz und knapp. Ich ziehe die Brauen hoch. Das klingt tatsächlich ziemlich scheiße, aber Linus schmunzelt bei der Erinnerung. »Ist schon zwei Jahre her. Seither lebt es sich ganz gut mit Sex ohne Gefühle«, sagt er amüsiert und ich grinse müde zurück. »Es ist ja fast ein bisschen tröstlich zu wissen, dass ich nicht der einzige beziehungsunfähige Mensch bin«, gebe ich zu und Linus betrachtet mich mit zuckenden Mundwinkeln. »Keine Sorge. Bist du nicht. Aber hey, ich drück dir und dem Knirps trotzdem die Daumen. Ihr klingt reichlich zuckrig miteinander«, erwidert er und ich muss lächeln. Ja, irgendwie sind Anjo und ich ein bisschen zuckrig. Nicht, dass ich das laut vor irgendwem sagen würde… »Ok… ich glaube, ich gehe nach Hause«, erkläre ich schließlich. Linus erhebt sich schwungvoll und als ich ebenfalls aufgestanden bin, macht er sich grinsend daran, meine Jeans zu schließen. »Weißt du… du könntest mir trotzdem deine Handynummer geben. Zum gelegentlich darüber reden, wie abgefuckt unser Liebesleben ist«, meint Linus schmunzelnd, während er mich zur Tür bringt und zusieht, wie ich meine Jacke und meine Schuhe anziehe. Er selbst hebt sein Shirt vom Boden auf und wirft es sich über die Schulter. Ich muss lachen. »Das werden deprimierende Gespräche«, warne ich ihn vor, krame aber tatsächlich nach meinem Handy und nenne ihm meine Nummer, die er in sein Telefonbuch speichert und mich einmal anklingelt. Nachdem ich die Wohnungstür geöffnet habe, schiebt sich eine Hand in meinen Nacken und dann pressen sich Linus‘ Lippen auf meinen Mund und ich muss grinsen, erwidere den Kuss aber lecke mir anschließend schmunzelnd die Lippen. »Ich kann’s nicht fassen, dass ich ohne Sex hier raus gehe«, sage ich und muss lachen. Linus schnaubt amüsiert. »Frag mich mal. Aber es ist erst eins. Vielleicht gehe ich noch mal«, sagt er scheinheilig und ich schüttele feixend den Kopf, hebe den Kopf und wende mich um. »Danke fürs Zuhören«, sage ich noch. »Kein Problem«, kommt die Antwort und dann schließt sich die Tür und ich stehe im nächsten Augenblick mit meinem gescheiterten Sex-Ablenkungsplan auf der Straße und friere. Auf dem Weg nach Hause wähle ich Sinas Nummer und bin mir sicher, dass ich sie aufwecken werde, aber was soll’s. Sie wird es mir wohl verzeihen. Mein Kopf schwirrt von Küssen und Erzählungen aus meinem eigenen Leben und der Tatsache, dass ich diesmal nicht einfach nur ein bisschen verknallt, sondern Hals über Kopf verliebt bin. »Chris? Alles ok?«, kommt die verschlafene Stimme meiner besten Freundin vom anderen Ende der Leitung. Ich räuspere mich. »Ähm… geht so…«, gebe ich zu und höre ein unterdrücktes Gähnen. »Tut mir Leid, dass ich dich geweckt hab«, füge ich hinzu. »Schon ok. Schieß los«, sagt sie und ich höre es Rascheln, so als würde sie vorsichtig aus einem Bett kriechen. Und schon wieder erzähle ich. Vom Kuscheln und vom Plan und von Linus und dem gescheiterten Sex. Zunächst erwarte ich einen Tadel für den Sexplan. Aber der bleibt aus. »Chris…«, sagt Sina sehr langsam. »Ja?« »Dir ist schon klar, dass das absolut das niedlichste ist, was ich jemals von dir gehört habe, ja? Dass dein Kopf ›fremdgehen‹ buchstabiert, wenn du mit jemandem schlafen willst, der nicht Anjo ist? Praktisch seid ihr doch schon zusammen…« Ich schnaube. »Du hast vergessen, dass sein Kopf nicht ›fremdgehen‹ buchstabiert, wenn er mit Benni rummacht.« Sine seufzt und gähnt erneut. »Ja, ok. Aber… Chris, es ist ein bisschen, als wärst du erwachsen geworden.« Sie kichert verschlafen und ich höre Glas klappern und dann gießt sie sich wohl irgendeine Flüssigkeit in einen Becher. »Ich bin extrem rallig und deprimiert zur gleichen Zeit. Es gibt bessere Arten, erwachsen zu sein«, murre ich. »Tut mir Leid, dass es dir mies geht. Aber ich hoffe einfach mal, dass das der nächste Meilenstein auf dem Weg von eurer festen Beziehung ist, die ganz sicher unheimlich entzückend wird«, erklärt Sina. Ich wühle in meiner Tasche nach dem Schlüssel, als unser Haus in Sichtweite kommt. »Das seh ich noch nicht… aber na ja. Ich geh jetzt duschen«, erkläre ich und steige die Treppen hinauf. Bei der Gelegenheit kann ich gleich dafür sorgen, dass ich nicht die ganze Nacht rallig und wach im Bett rumliege. »Ok. Ruf an, wenn was ist. Egal wann. Ich komm Sonntag wieder nach Hause«, sagt sie und ich höre sie am anderen Ende trinken. »Danke… hab dich lieb, Schnecke.« »Ich dich auch.« Im nächsten Moment stehe ich allein in der dunklen Wohnung und die Stille drückt mir auf die Ohren. Alles Mist. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)