Kryptonit von Ur (Jeder Held hat eine Schwäche) ================================================================================ Kapitel 37: Initiative ---------------------- Ich habe das Kapitel wieder mal geteilt. Will heißen, dass das nächste Kapitel auch wieder aus Chris' Sicht geschrieben sein wird. Sinas Vermutungen im Gespräch mit Chris widme ich meinen Schäfchen ;) Viel Spaß beim Lesen und einen schönen Abend wünsche ich euch, liebe Grüße, ________________________ »Ich muss feiern gehen«, erkläre ich Felix, der mich ein wenig verwundert anschaut und von seinen Unterlagen aufblickt. Wir sitzen in seiner Wohnung auf dem Boden und kümmern uns um den letzten Unikram, bevor die Veranstaltungen wieder los gehen. Felix wühlt sich durch seinen prall gefüllten Ordner und sucht verzweifelt nach einem alten Protokoll aus dem letzten Semester, das er für eins seiner neuen Seminare braucht. Er lässt den Ordner sinken und legt den Kopf schief. »Gibt’s dafür einen bestimmten Grund?«, erkundigt er sich und seine braunen Augen funkeln. Mir ist klar, dass er genau weiß, dass irgendetwas mit mir los ist. Aber er ist so nett und reibt es mir nicht unter die Nase. Ich bin in einer dermaßen gereizten und gleichzeitig sentimentalen Stimmung, dass ich ihn dafür eigentlich gern umarmen möchte. »Benni liegt im Krankenhaus und Anjo fährt ihn seit Tagen regelmäßig besuchen. Davor haben die beiden schon wieder auf einer Party rumgemacht und ich komme mir mies vor, weil ich deswegen schlecht gelaunt bin.« Das ist zumindest die Kurzfassung. Die scheint Felix allerdings zu reichen und er kaut nachdenklich auf seiner Unterlippe herum. »Und jetzt willst du feiern gehen und dir die beiden aus dem Kopf vögeln«, will er wissen. Ich verziehe das Gesicht bei der Formulierung. »So in etwa«, gebe ich dann aber zu und Felix gluckst leise. Ich dachte, dass er vielleicht die Augen verdrehen würde. »Nicht, dass das meine Variante wäre, um damit umzugehen…« Ich schnaube. »Nee. Du machst deinen Macker lieber ordentlich eifersüchtig, indem du dich exzessiv an mich ranschmeißt«, erwidere ich und Felix grinst breit bei der Erinnerung daran, wie er mich vor Leon abgeknutscht hat. »Es hat funktioniert. Vielleicht geht’s bei dir und Anjo ja auch.« Ich blinzele verwirrt. »Was? Nein! Ich will das Anjo doch nichts aufs Brot schmieren«, wehre ich ab und hebe die Hände. »Ich werd ihm das nicht sagen.« Felix betrachtet mich. Er sieht beinahe ein wenig liebevoll aus. »Chris, du bist entzückend«, verkündet er mir prompt einen Augenblick später. Ich hebe die Brauen. »Ich sage dir, dass ich mir Anjo und Benni aus dem Kopf vögeln will und du findest das entzückend?«, erkundige ich mich, nur um sicher zu gehen, dass ich ihn richtig verstanden habe. »Deswegen doch nicht«, gibt er kopfschüttelnd zurück, schiebt den Ordner von seinen Knien und hockt sich neben mich auf den Parkettboden seines Zimmers. Ich wende den Kopf, um meinen besten Freund nun direkt aus der Nähe anzublicken. »Es ist schließlich dein gutes Recht, mit irgendwelchen Leuten zu schlafen. Du bist doch Single«, erklärt er mir und kramt in seiner Tasche nach seinem dunkelblauen Handy. »Ich wollte mit Leon am Freitag sowieso ins Na und!? gehen. Wenn dich seine Gesellschaft nicht stört, kannst du gern mitkommen«, bietet er mir großzügig an. Ich muss bei dem Gedanken an Leon schmunzeln und schüttele den Kopf. »Mich stört es nicht, aber deinen Brummbären bestimmt schon«, gebe ich zurück. Felix nuschelt etwas Unverständliches und tippt auf der Tastatur seines Handys herum. »Da du ja nur zum Aufreißen mitkommst«, fügt er deutlicher hinzu und schickt eine SMS an seinen Freund ab. »Ja, mit dir allein hätte ich nicht gehen wollen. Am Ende zische ich mit irgendeinem Kerl ab und du stehst ohne mich da«, antworte ich und sehe zu, wie Felix seinen Ordner wieder auf seine Knie zieht, um weiter nach dem Protokoll zu wühlen. »Sehr rücksichtsvoll«, stichelt er amüsiert. Ich betrachte ihn von der Seite und denke darüber nach, ob ich ihn noch weiter mit meinen Anjo-Problemen zuschwallen will. Dann entscheide ich mich dagegen und widme mich stattdessen ebenfalls meinen Unterlagen. Ich bin für das neue Semester in etwa so motiviert wie Leon jedes Mal, wenn er weiß, dass ich mit auf ein Treffen komme. In meinem Kopf ist kein Platz für Chemie. »Ich hoffe dir ist klar, dass du dir eine Menge Stress sparen könntest, wenn du Anjo einfach sagen würdest, dass du in ihn verschossen bist «, murmelt Felix seinem endlich gefundenen Protokoll entgegen. Ich seufze tonnenschwer. »Also, ich hab das Sina auch schon erklärt…«, beginne ich langsam, doch Felix schneidet mir das Wort ab und verbannt den schweren Ordner aufs Sofa, um sich mit dem Protokoll zu erheben und es in eine andere Mappe zu heften. »Red keinen Stuss. Du hast Schiss vor dem ganzen Bindungs- und Gefühlskram.« Ich starre hoch zu meinem besten Freund und er blickt strafend zurück. Mir fällt nichts ein, was ich dazu sagen könnte, vor allem, da eine kleine Stimme hinten in meinem Kopf mir sagt, dass Felix vermutlich vollkommen Recht hat. * Adams kleiner Bruder steht schon eine Viertelstunde zu früh vor der Halle. Er lehnt an der Backsteinmauer neben dem Haupteingang. Die Ähnlichkeit zu seinem Bruder ist nicht wirklich zu erkennen. Gabriels Gesicht ist schmaler und seine Augen strahlen eindeutig nicht diese beruhigende Gelassenheit aus, die mich bei Adam früher immer besonders beeindruckt hat. Seine Haare sind nicht so lang wie die seines Bruders, aber sie hängen ihm zerstruwwelt ins leicht gebräunte Gesicht. Bereits einige Meter, bevor ich ihn erreicht habe, scheint er mich zu bemerken und hebt den Kopf. Wenn mich nicht alles täuscht, trägt er Adams Lederjacke, die ich noch aus meinen Trainingstagen kenne. Die fast schwarzen Augen mustern mich eingehend, als ich näher komme. »Christian?«, will er wissen. Ich nicke und halte ihm die Hand hin, die er prompt ergreift. Sein Händedruck ist sehr fest. »Freut mich dich kennen zu lernen«, sage ich und schaffe ein Grinsen. Es kostet mich nur ein paar Sekunden, um an der Art, wie Gabriel sich bewegt, festzustellen, dass er dabei wirkt wie eine menschliche Raubkatze. Das hat er eindeutig mit seinem Bruder gemeinsam. »Wir können uns ins Trainerbüro setzen«, erkläre ich ihm und schließe die Hallentür auf, um Gabriel voran durch die Umkleidekabinen hindurch in die Halle und ins Büro zu gelangen. Es sieht wie so oft aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Ich habe keine Ahnung, ob Roland nach seiner letzten Suchaktion einfach alles so gelassen hat, aber überall liegen Unterlagen herum und ich muss einige Mappen von einem Hocker räumen, damit Gabriel sich setzen kann. Ich lasse mich in dem zerknautschten Stuhl hinter dem Schreibtisch nieder und schiebe einige Aktenordner beiseite. »Entschuldige die Unordnung«, sage ich und Gabriel lächelt halb. »Kein Problem«, antwortet er und sieht sich interessiert um. »Also… Adam hat mit mir gesprochen und meinte, dass es eine gute Idee wäre, dich in meine Gruppe zu nehmen«, fange ich an, ohne lange um den heißen Brei herum zu reden. Gabriels Augen ruhen einen Moment auf meinem Gesicht. »Du hältst das allerdings für keine gute Idee«, gibt er zurück. Ich blinzele ein wenig erstaunt, aber dann hebe ich ein wenig geschlagen die Hände. »Ich bin nicht sicher, inwieweit ich dich mit Jungs zusammen stellen kann, die keinerlei professionelle Kampfsporterfahrung haben«, stimme ich zu. Gabriel nickt ein wenig. »Solange ich jemanden habe, der darauf Acht gibt, dass ich nicht übertreibe, sollte das eigentlich kein Problem sein«, antwortet er. Seine Stimme klingt nüchtern und sachlich. Aber ich bemerke durchaus, dass er ein wenig angespannt ist, so als wäre ihm die ganze Situation etwas unangenehm. »Ich kann Acht darauf geben, aber ob ich dich im Zaum halten kann, ist eine andere Sache«, erkläre ich. Gabriel betrachtet einige Sekunden lang das Chaos auf dem großen, alten Schreibtisch und rollt mit dem kleinen Hocker ein Stück hin und her. »Ich weiß nicht, wie ich mich sonst in den Griff kriegen soll«, sagt er schließlich und blickt wieder auf. Die Ehrlichkeit in dieser Aussage beeindruckt mich ziemlich. Ich dachte, dass er vielleicht versuchen würde, sich ein wenig zu rechtfertigen. Aber er scheint sich seines Problems vollkommen bewusst zu sein und die Hilfe auch zu wollen. Solche Schüler hab ich selten. Eigentlich so gut wie nie, zumindest am Anfang. Die meisten sehen überhaupt nicht ein, wieso sie dieses Training überhaupt durchziehen sollen. Ich stelle fest, wie mein Widerstand angesichts dieser Tatsache langsam dahin schmilzt. »Ok… dann erzähl mir die Geschichte von dem Kerl, den du zusammen geschlagen hast«, fordere ich ihn auf und Gabriel verzieht bei der Erinnerung daran das Gesicht, aber schließlich holt er tief Luft und fängt an zu erzählen. »Am Anfang war auf der neuen Schule eigentlich alles in Ordnung. Ich war halt ein bisschen sauer, weil wir mitten im Schuljahr kurz vorm Abi unbedingt umziehen mussten. Ich glaube, dass ein paar Monate mehr auch nicht geschadet hätten. Na ja, jetzt ist es auch egal. Jedenfalls hab ich ein paar Wochen nach dem Umzug Besuch von meinen beiden besten Freunden gekriegt. Erik ist mein bester Freund und er ist schwul. Wir machen manchmal rum, wenn wir Bock drauf haben. Wir sind an dem Wochenende feiern gewesen, als die beiden da waren und ich hab auf der Tanzfläche mit Erik – also… meinem besten Freund – geknutscht. Einer von den Kerlen aus meinem Jahrgang hat uns wohl gesehen und ein Foto auf dem Handy gemacht und am nächsten Montag wusste es der komplette Jahrgang. Schien irgendwie passend zu sein, dass ich neu war, die haben dann angefangen blöde Bemerkungen zu machen und so. Ich war echt scheiße drauf wegen des Umzugs und ich hab Tessa und Erik vermisst und zweieinhalb Wochen später ging mir dieses ganze ›Schwuchtel‹-Geflüster so wahnsinnig auf den Geist… und als dann Kevin an mir vorbei ging und mich noch mal so genannt hat, da bin ich ausgerastet. Ich war einfach so sauer, weil es diese Scheißkerle einen Dreck angeht, mit wem ich rummache und Leute, die was gegen Minderheiten haben, gehen mir auch verdammt gegen den Strich und dann hab ich ihn verprügelt. So richtig. Als er sich nicht mehr gerührt hat, hab ich erst gecheckt, was ich da eigentlich angestellt hab und dann hab ich einen Krankenwagen gerufen…« Gabriel beendet seine Geschichte mit einem Seufzen und fährt sich durch die Haare. Er sieht mich forschend an, so als würde er nach einer ersten Reaktion suchen. Ich lasse mir die Geschichte noch einmal durch den Kopf gehen. Er ist nicht abgehauen und hat den Typen da einfach liegen lassen. Er hat sogar einen Krankenwagen gerufen und es klingt ganz danach, als wäre er während der ganzen Prügelaktion einfach ausgeklinkt und nicht richtig bei Verstand gewesen. Gabriel erinnert mich an mich selbst damals, nur dass er sein Opfer nicht einfach hat liegen lassen. Alles in allem glaube ich tatsächlich, dass es mit ihm bei weitem nicht so schlimm steht wie mit meinem fünfzehnjährigen Selbst. Auch wenn Gabriel insofern gefährlich ist, als dass er seit seiner Kindheit Kampfsport trainiert. Ich frage mich, wie ich ihn im Zaum halten soll, wenn er wirklich mal austickt. »Ich möchte nicht zu einem hirnlosen Schläger verkommen«, sagt Gabriel und beugt sich ein Stück nach vorne, um mich aus seinen fast schwarzen Augen eindringlich anzublicken. Die Bitte in dem Blick ist überdeutlich und ich seufze lautlos. »Also schön. Wir können es mal versuchen, aber wenn ich das Gefühl habe, dass es gar nicht geht, dann behalte ich mir vor, dich wieder wegzuschicken«, warne ich ihn vor und auf seinem Gesicht breitet sich ein erleichtertes Lächeln aus. Zum ersten Mal seit Beginn unserer Begegnung wirkt er nicht mehr ganz so angespannt. »Danke«, antwortet er und es klingt so, als würde er es wirklich so meinen. Dann zögert er einen Augenblick lang. »Adam hat gesagt, dass kein anderer Trainer mich so gut verstehen würde wie du. Aber er wollte nicht erklären, woran das liegt«, meint Gabriel. Ich räuspere mich verhalten und lehne mich in meinem Stuhl zurück. »Also erstmal, weil ich schwul bin«, erkläre ich sachlich und Gabriel blinzelt erstaunt. Es scheint ihn aber durchaus zu beruhigen, dass ich diesen Umstand einfach so ausspreche, ohne ein großes Aufheben darum zu machen. Ich mustere ihn und frage mich, ob ich ihm meine halbe Lebensgeschichte erzählen möchte. Immerhin wissen es bis zu diesem Tage nur Anjo und Sina. Aber einmal abgesehen davon, dass dieser Junge Adams Bruder ist, habe ich doch irgendwie den Eindruck, dass ihm die Geschichte vielleicht zeigen kann, dass auch Leute wie ich sich ändern können. »Ich hatte früher Probleme damit, schwul zu sein. Dann hab ich den Jungen zusammen geschlagen, in den ich damals verschossen war und bin so ins Antiaggressionsprogramm und zu Adam gekommen«, erzähle ich also schließlich die Kurzversion meiner verdorbenen Jugend und Gabriel runzelt die Stirn, als müsste er sich erst kurz Gedanken über diese Information machen, bevor er weiß, was er davon halten soll. »Du hast dich also ganz schön geändert«, sagt er und klingt beeindruckt. Ich nicke und muss lächeln. »Das kannst du sicher auch«, entgegne ich. Er erwidert das Lächeln kaum merklich und lässt den Blick wieder durch den Raum schweifen. »Schreib mir bitte deine Handynummer und deine Emailadresse auf, damit ich Bescheid sagen kann, wenn wir das erste Mal Training haben«, bitte ich ihn und schiebe ihm eine der vorgefertigten Listen hin, auf die ich bereits meinen Namen und das Jahr notiert habe. Gabriel nimmt den Kugelschreiber von mir entgegen und trägt sich mit einer ziemlich sauberen Handschrift, bei der ich mir noch eine Scheibe abschneiden könnte, dort ein. Dann schiebt er sie mir wieder hin und sieht mich gerade heraus an. »Adam war wirklich sehr begeistert, als er von dir erzählt hat«, informiert er mich geradeheraus. Dann legt er den Kopf schief und mustert mich ein weiteres Mal eingehend. »Ich glaube, ich kann schon ein bisschen verstehen, was er gemeint hat. Danke für die Ehrlichkeit«, sagt er und ich nicke ihm zu, ehe ich mich erhebe und ihm die Hand reiche. »Findest du den Weg, oder soll ich dich zur Tür bringen?«, erkundige ich mich und er grinst schief. »Ich schaff das schon«, erwidert er und hebt noch einmal die Hand, dann verlässt er das Trainerbüro und sehe ihm nach, wie er mit seinem geschmeidigen Raubtiergang die Halle durchquert und auf die Tür zur Umkleide zugeht. Dann fällt mir etwas ein und ich verlasse hastig das Büro. »Ach ja, Gabriel?« Er hält inne und dreht sich an der Tür zur Umkleide noch einmal um. »In dieser Halle wird kein Kampfsport getrieben, der nicht Kickboxen ist«, rufe ich zu ihm hinüber. Er sieht mich quer durch die Halle an, den Kopf leicht schief gelegt. Dann nickt er knapp, wendet sich um und verschwindet hinter der Umkleidentür. Ich hoffe, dass er sich daran hält. Ich will keine Kung-Fu-Tricks sehen und auch nichts von den hundert anderen Sachen, die er noch beherrscht. Allerdings muss ich zugeben, dass der erste Eindruck von Adams kleinem Bruder ein durchaus positiver ist. Allein schon im Vergleich zu meinem fünfzehnjährigen Selbst ist er ein wahrer Musterknabe. Auf dem Weg nach Hause bekomme ich eine SMS von Sina. Die sind sehr selten. Wenn man zusammen wohnt, hat man nicht so häufig das Bedürfnis, sich dauernd anzurufen oder Nachrichten zu schreiben. Es sei denn, man ist im Urlaub. »Ich glaube, ich bin nicht fürs Verliebtsein geschaffen. Vielleicht sollte ich Nonne werden. Wann kommst du nach Hause? Ich möchte umarmt werden.« Ich runzele die Stirn und starre die Textnachricht an. Natürlich hat das irgendwas mit Fabian zu tun, aber mein Gehirn kann sich einfach nicht vorstellen, dass er beschlossen hat, Sina doch nicht haben zu wollen. Wenn doch, dann muss ich ihn womöglich zu Kleinholz verarbeiten. Ich schiebe das Handy zurück in meine Hosentasche und laufe den restlichen Weg nach Hause. Schwer atmend schließe ich ein paar Minuten später die Tür auf und pelle mich so schnell es geht aus meiner Jacke und meinen Schuhen, ehe ich mich auf den Weg zu Sinas Zimmer mache. Sie liegt eingerollt auf ihrem Bett, Pepper und Parker haben es sich neben ihr bequem gemacht und sie krault jeden Hund mit einer Hand am Kopf. Als ich eintrete, sieht sie kläglich zu mir hinüber. »Was ist los? Was hat er gesagt?«, will ich wissen und schließe die Tür hinter mir. Sina setzt sich auf und seufzt leise. Pepper hebt den Kopf und sieht mir hechelnd entgegen. Ich begrüße sie mit einem flüchtigen Streicheln ihres schmalen Kopfes, dann wende ich mich meiner besten Freundin zu. »Nichts. Ich hab ihn mittlerweile dreimal nach einem nächsten Treffen gefragt und er hat immer gesagt, dass er keine Zeit hat. Ich nehme an, dass das heißt, dass es sich erledigt hat«, murmelt sie und sieht furchtbar niedergeschlagen aus. Es kommt selten vor, dass Sina traurig ist. Meistens ist sie eher wütend-schlecht drauf als traurig-schlecht drauf. Ich kann es nicht ausstehen, wenn sie traurig ist. »Aber vielleicht hat er wirklich keine Zeit«, sage ich probehalber und setze mich zu ihr aufs Bett, woraufhin sie sich sofort halb auf meinem Schoß einkringelt und ihr Gesicht gegen meinen Bauch drückt. »Aber er hatte bisher immer Zeit. Und wenn’s nur eine Stunde zum Spazierengehen nach Feierabend war«, kommt die dumpfe Antwort aus meinem wollweißen Rollkragenpullover. Ich schaue hinunter auf ihre rotbraunen Haare, die sie zu einem Pferdeschwanz gebunden hat. Viel mehr kann ich von ihrem Kopf nicht sehen, weil ihr Gesicht immer noch in meinem Pulli vergraben ist. Ich hoffe, dass sie da nicht weint. Dann muss ich nämlich Amok laufen. »Wahrscheinlich war ich zu anstrengend. Oder er denkt, ich stehe auf Kerle wie dich. Vielleicht wollte er sowieso die ganze Zeit nur mit mir befreundet sein. Oder er ist doch schwul und hat gemerkt, dass er dich scharf findet…« Jetzt werden die Theorien ziemlich absurd, aber ich weise Sina nicht darauf hin, sondern streichele ihr nur behutsam über den Rücken. »Ich wollte immer ganz unbedingt verliebt sein und jetzt das.« Das ist das erste Mal, dass Sina davon spricht, in Fabian verliebt zu sein. Nicht, dass ich es nicht vorher schon gewusst hätte und sie hat es ja mindestens in ihrer SMS von vorhin erwähnt. Aber es ist doch immer etwas anderes, wenn man es dann erstmal laut ausgesprochen hat. »Du kannst doch nicht jetzt schon den Kopf in den Sand stecken«, sage ich zu ihr und Sina setzt sich auf und schaut mich an. »Das musst du gerade sagen«, klagt sie. Ich seufze. »Also, ich war schon mehr als einmal unglücklich verschossen«, gebe ich zurück. Sina schnaubt. »Ich war auch schon unglücklich verschossen. Aber verliebt nicht. Ich rede hier vom Verliebtsein!« Ich gebe ein undefinierbares Geräusch von mir. Ja, sie hat ja Recht. Beim Verliebtsein kann ich nicht wirklich mitreden. »Geh zu ihm hin und sag ihm, dass du in ihn verliebt bist«, schlage ich also vor. Sina starrt mich an. »Aber ich hab dir doch grad gesagt, dass er klar gemacht hat, dass er mich nicht mehr sehen will«, antwortet sie und klingt tatsächlich ziemlich verzweifelt. Ich habe keine Ahnung, was in Fabians Kopf vorgeht, aber er scheint eindeutig der Typ Mensch zu sein, den man mit der Nase auf die guten Dinge im Leben stoßen muss. Ich meine… Sina hat mit ihm Star Wars angesehen! Ist diesem Kerl nicht klar, was das bedeutet? Wahrscheinlich nicht. Er weiß ja nicht, dass Sina solche Filme affig findet. Es ist wirklich ungewohnt, Sina so zu erleben. Normalerweise ist sie stur wie ein Bock und sie würde bei jedem auf der Türschwelle auflaufen und ihn zur Rede stellen, wenn er sich so verhält. Aber Fabians winziges Ego und ihre Verliebtheit scheinen ihr eigenes Ego geschrumpft zu haben. Wer hätte gedacht, dass dieser Tag kommen würde. Ich seufze und fahre mir übers Gesicht. »Aber vielleicht will er dich ja doch sehen und traut sich nur einfach nicht. Ich kann mich in diesen Kerl nicht reinversetzen, weiß der Geier, was sein Problem ist. Der ist mir so fern, wenn du von ihm redest, ist es eigentlich, als würdest du von E.T. erzählen«, grummele ich ungehalten und Sina antwortet mit einer Mischung aus Lachen und resigniertem Schnauben. »Das geht mir auch so. Wahrscheinlich passen wir einfach nicht zusammen. Ich bin eben doch nur für dumme Männer mit riesigem Ego und Machogehabe gut…« Meine beste Freundin sitzt auf ihrem großen Bett wie ein Häufchen Elend und sieht viel winziger aus als normalerweise. Für gewöhnlich hält sie ihren Kopf ein bisschen höher als nötig. Ihre Schultern sind immer gestrafft. Sie schreitet mehr, als dass sie geht. Aber jetzt hockt sie hier und ihre Schultern hängen, ebenso wie ihr Kopf, und ihr Gesicht sieht furchtbar traurig aus. Als hätte man ihr das, was sie sich immer schon gewünscht hat, vor der Nase weggeschnappt. Und genauso ist es wahrscheinlich auch. Nicht, dass Sina es zugeben würde oder irgendetwas in der Richtung gesagt hätte… aber ich denke, dass sie sich und Fabian schon lange in der Zukunft gesehen hat, weil sie so unbedingt eine zweite Hälfte möchte. Ich habe vor Augen, wie sie Fabian in Gedanken ihren Eltern und Larissa vorgestellt hat. »Ich geh mal duschen… und dann versuch ich mich noch an den letzten Seiten der blöden Abschlussarbeit«, murmelt sie und krabbelt von ihrem Bett. Ich komme mir furchtbar vor, weil ich offensichtlich mies im Trösten bin und es ihr kein Stück besser geht. »Hey, Schnecke«, sage ich, bevor sie durch die Tür nach draußen geschlüpft ist. Sie dreht sich um und schaut mich fragend an. »Das wird schon alles«, sage ich. Der lahmste Satz aller Zeiten. Aber Sina schafft ein Lächeln, dann verschwindet sie im Flur und ich seufze. Einen Augenblick sitze ich regungslos auf ihrem Bett, dann huscht mein Blick hinüber zu Sinas Schreibtisch, wo ihr Handy liegt. Im Bad höre ich das Rauschen der Dusche und ich zögere nur einen Moment, ehe ich hastig aufstehe, Sinas Zimmertür schließe und nach ihrem Handy greife. Wenn diese Aktion schief geht, bin ich vermutlich morgen obdachlos und ohne beste Freundin. Aber wenn es gut geht… Ich atme einmal tief durch und wähle mit grimmiger Miene Fabians Nummer aus Sinas Telefonbuch. »Ja?«, ertönt eine zögerliche Stimme am anderen Ende. Ich verenge meine Augen zu Schlitzen, obwohl Fabian mich natürlich nicht sehen kann. »Hier ist Chris«, sage ich unumwunden. Stille. »Oh«, sagt Fabian unsicher. »Ich werde für diesen Anruf vermutlich in der Hölle landen, aber das macht mir nichts. Du wirst sehr genau zuhören, was ich dir jetzt sage«, grolle ich in den Hörer und ich kann förmlich sehen, wie Fabian sich am anderen Ende anspannt. Ich hoffe, dass er sich in diesem Augenblick sehr genau an meine Oberarmmuskeln und meine fast zwei Meter Körpergröße erinnert. »Meiner besten Freundin geht es gerade ausgesprochen mies. Wegen dir. Und das kann ich nicht besonders gut verknusen. Sie will unbedingt mit dir zusammen sein. Ich hoffe, dass du sie wirklich zu anstrengend findest und nicht mit ihr zusammen sein willst, denn sonst muss ich deine Wohnung finden und dich für dein abweisendes Verhalten erwürgen.« Es folgt eine weitere Stille, die so lange dauert, dass ich einen Moment fürchte, dass er aufgelegt hat. »Sie will…«, fängt Fabian schließlich krächzend an und ich verdrehe meine Augen. »Kratz das bisschen, was du an Ego hast, zusammen und sag ihr, dass du sie toll findest«, knurre ich. War ja klar. Er findet sie nicht anstrengend und hat nicht die Nase voll von ihr. Er hat nur Schiss und sein winziges Ego steht ihm im Weg. Wahrscheinlich redet er sich ein, dass sie was Besseres verdient hat. »Aber–«, beginnt er, doch ich lasse ihn nicht ausreden. »Wenn du sie wirklich willst, dann tu was dafür«, schnauze ich ihn an und dann lege ich auf. Ich positioniere Sinas Handy genauso auf dem Schreibtisch, wie es vorher gelegen hat, dann verlasse ich ihr Zimmer und stapfe ins Wohnzimmer. So ein Besen. Ich werfe mich aufs Sofa, greife nach der Fernbedienung und schalte den Fernseher an. Ich hoffe, dass es funktioniert. Es reicht schließlich, dass einer von uns beiden ein ruiniertes Liebesleben hat. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)