Kryptonit von Ur (Jeder Held hat eine Schwäche) ================================================================================ Kapitel 13: Entdeckung ---------------------- Wer sich auf dieses Kapitel einstimmen will, der darf gern von den Ärzten Schrei nach Liebe anmachen ;) Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen und ein schönes Wochenende! Liebe Grüße, __________________________ »Durst!«, stöhnt Felix, als er und die anderen Drei mit der Band eine Pause machen. Nicci wedelt sich Luft zu. Ihre und Laras Wangen sind ganz rot und beide sind ziemlich außer Atem. »Wasser«, meint Sina und drückt Felix eine große Flasche in die Hand. Leon lehnt sich gegen die Wand – mit einem Meter Sicherheitsabstand von Chris. Ich glaube, dass Leon vor allem ein Problem mit Chris hat, weil der groß und breit ist und gut aussieht. Aber das sage ich lieber niemandem. Ich kann Leon gut leiden und hab keine Lust, es mir mit ihm zu verscherzen. »Bist ein Schatz«, keucht Felix, nachdem er beinahe die halbe Flasche in einem Zug geleert hat und sie an Nicci weiterreicht. »Ich weiß, ich weiß. Schön, dass du es zu würdigen weißt«, meint Sina amüsiert und wirft Chris einen Blick zu, als würde sie ihm mangelndes Urteilsvermögen vorwerfen. »Ich weiß dich zu schätzen«, gibt Chris zurück und grinst. Sina schnaubt nur. Ich schlürfe immer noch an meiner Cola und stehe neben Chris an der Wand. Leider Gottes hat er den Arm mittlerweile weggenommen, aber mein Herz überschlägt sich immer noch, wenn ich daran denke, dass wir hier gerade ganze zehn Minuten lang standen, als wären wir… irgendwie zusammen. Mein Gott. Zusammen. Mit Chris. Allein der Gedanke lässt meinen Kreislauf kollabieren. Ich werfe einen Blick hinüber zu der Stelle, wo Benni mit ein paar Freunden steht und sich unterhält. Ich kenne die Jungs nicht, sie gehen nicht in unseren Jahrgang. Es wundert mich ohnehin, dass er hier ist. Ich dachte immer, dass er eher auf Hip Hop steht. Aber was weiß ich schon über Benni? Nichts, im Grunde genommen. Ich hab nicht mal eine leise Ahnung davon, was für eine Augenfarbe er hat. Ich sehe ihn nie richtig an, ich sehe immer nur die Dinge, die er mit mir tut. »Wieso starrt der Kerl eigentlich die ganze Zeit so zu uns rüber?«, fragt Leon ruppig und nickt mit dem Kopf hinüber in Richtung Benni, der wieder mit seinen Kumpels da steht und ein Bier trinkt. Als er sieht, dass wir alle zu ihm hin schauen, sieht er hastig weg. »Das ist der Kerl, der Anjo in der Schule immer so fertig macht«, sagt Sina und schnaubt, während sie ihre Arme verschränkt. »Weil er mit Schwulen nicht klar kommt.« Leon hebt eine Augenbraue. Felix schmunzelt. »Ich denke gerade an jemanden, der früher auch was gegen Schwule hatte«, flötet er in Richtung Leon, der ihn missmutig ansieht. »Du hast da was falsch verstanden«, brummt er, »ich hatte nur was dagegen, dass ich selbst… ähm… auf einen Kerl stehe.« Felix lacht und schmiegt sich von der Seite an Leon. Ich schaue die beiden gern an. Obwohl sie sich ständig kabbeln, merke ich, was sie sich für Blicke zuwerfen und wie sie sich immer berühren, wenn es nur irgendwie geht. »Vielleicht sollten wir eine Ansage machen«, meint Leon. »Was für eine Ansage?«, fragt Nicci. Ich weiß, dass sie nicht gern vor vielen Leuten redet. Insgeheim bewundere ich sie dafür, wie sie auf so einer Bühne vor so vielen Menschen stehen kann, ohne vor Aufregung zu sterben. Mit dem Singen scheint es ihr irgendwie leichter zu fallen, der Masse gegenüber zu treten. »Na, irgendwas gegen homophobe Volltrottel«, meint Leon. Lara lacht. Sina sieht hingerissen aus, so als würde sie Leon am liebsten knutschen. Felix übernimmt das für sie, er stürzt sich auf seinen Freund und wir wenden uns diskret ab. Ich sehe, wie Chris die beiden noch einen Moment lang mustert. Es muss schwierig für ihn sein, Felix immer so mit Leon zu sehen. Unweigerlich wandert mein Blick hinüber zu Benni und seinen Freunden. Benni beobachtet Felix und Leon mit einem Gesichtsausdruck, als würde er sich gern wahlweise übergeben oder von einer Brücke stürzen. »Willst du dich vor vierhundert Leuten outen?«, erkundigt sich Lara schelmisch. »Ist ja nicht so, als würden wir es geheim halten«, ächzt Leon, dem Felix die Arme um den Nacken geschlungen hat und nun praktisch an ihm hängt. »Du warst ja schon immer eine Dramaqueen«, meint Chris beiläufig und fängt sich einen mörderischen Blick von Leon ein. Meine Güte. Die zwei sollte man am besten nicht allein in einen Raum lassen. Wer weiß, ob beide lebend wieder rauskommen? »Ich liebe meine kleine Dramaqueen. Auf geht’s! Rauf auf die Bühne!«, ruft Felix überschwänglich und zieht Leon hinter sich her. Chris sieht den beiden kopfschüttelnd nach. »Stichel doch nicht immer so«, sagt Sina anklagend. Chris zuckt mit den Schultern. »Er freut sich doch, wenn er sich künstlich aufregen darf. Ich hol mir noch ein Bier.« Ich schaue ihm nach und sehe dann Sina an. Sie schüttelt missbilligend den Kopf. »Es ist ein Wunder, dass Felix noch nicht geschnallt hat, wie vernarrt Chris in ihn ist«, murmelt sie. Ich seufze. »Ja. Selbst ich hab’s schon gemerkt«, antworte ich kleinlaut. Sina wirft mir einen Blick von der Seite zu, dann drückt sie mich plötzlich an sich und ich kriege kaum noch Luft. »Du bist so entzückend«, meint sie und drückt mir einen Kuss auf die Wange. Ich hab keine Ahnung, was eigentlich los ist. Verlegen ziehe ich den Kopf ein. Ich sehe garantiert aus wie eine reife Kirsche im Spätsommer. Sina legt mir einen Arm um die Schultern und ich schlürfe an meiner Cola, während wir zusehen, wie Leon und die anderen drei wieder auf die Bühne kommen und jeder sein Instrument nimmt. Nicci bleibt vor ihrem Mikrofonständer stehen und sieht abwechselnd zu Leon und Felix. Es ist offensichtlich, dass sie nichts sagen kann. »Wir nutzen diese Gelegenheit mal, um kurz was loszuwerden«, sagt Felix scheinbar bestens gelaunt in sein eigenes Mikro und viele verstummen, um sich wieder der Bühne zuzuwenden. Mir wird ganz heiß. »Die machen das wirklich«, stellt Chris fest, der neben mir auftaucht und einen Schluck von seinem Bier trinkt. Sina strahlt. »Wir wollen gleich einen Coversong von den Ärzten spielen und möchten vorher noch loswerden, dass wir uns gegen die Diskriminierung von Minderheiten aller Art aussprechen…« Seine Worte gehen fast in einem lauten Applaus der Menge unter. Felix grinst. Er sieht wirklich ziemlich gut aus. Unweigerlich bekomme ich schon wieder Minderwertigkeitskomplexe ihm gegenüber. Ich werd nie auch nur ansatzweise an ihn heranreichen können. »…und wenn es hier Gäste gibt, die irgendetwas gegen Ausländer oder Homosexuelle oder andere Minderheiten haben…« Ich drehe den Kopf herum und sehe Bennis versteinerte Miene. »…dann dürfen diese Leute gern gehen.« Benni rührt sich nicht von der Stelle. Seine Kumpels sehen leicht verwirrt aus. »Und wer ebenfalls gegen Diskriminierung ist und das Lied kennt, der darf gern laut mitsingen«, fügt Felix grinsend hinzu. »Leon hätte das alles nicht halb so nett ausgedrückt«, meint Chris amüsiert. Sina sieht ihn von der Seite an. »Ist bei dem Thema auch nicht nötig, nett zu sein«, meint sie nur und zieht ihren Arm von meiner Schulter. »Deine Gewalt ist nur ein stummer Schrei nach Liebe, deine Springerstiefel sehnen sich nach Zärtlichkeit. Du hast nie gelernt dich zu artikulieren und deine Eltern hatten niemals für dich Zeit. Oh oh oh Arschloch…« Normalerweise singen Felix und Leon nur Background. Aber jetzt beobachte ich sie dabei, wie sie ziemlich enthusiastisch mitsingen. Es klingt gar nicht übel. Nicci freut sich offenbar, dass sie diesmal zu dritt singen können. Ich kriege beinahe Gänsehaut bei dem Text. »Weil du Probleme hast, die keinen interessieren, weil du Schiss vorm Schmusen hast, bist du ein Faschist! Du musst deinen Selbsthass nicht auf and’re projizieren, damit keiner merkt, was für ein lieber Kerl du bist!« Mein Blick fliegt ständig zwischen der Bühne und Benni hin und her. Ich glaube fast, dass er mittlerweile bemerkt hat, weswegen Felix und die anderen dieses Lied spielen. Unweigerlich denke ich darüber nach, ob es wirklich niemanden gibt, der sich für Bennis Probleme interessiert und ob seine Eltern keine Zeit für ihn habe. Natürlich ist das nur ein Lied und Benni trägt schließlich auch keine Springerstiefel. Aber trotzdem komme ich ins Grübeln. Ich stehe am Rand einer springenden, singenden und grölenden Menge. All diese Leute, die das Lied kennen und mitsingen, die sind gegen all das, was Benni mir antut. Irgendwie überwältigt mich das. Ich kenne kaum was anderes als Reaktionen wie Bennis oder die meines Vaters… »Jetzt hast du einen ganzen Club von Bodyguards, die auf dich aufpassen«, höre ich Chris’ Stimme an meinem Ohr und wende ihm das Gesicht zu. Gerade ist mir peinlicherweise nach Heulen zumute. Nicht, weil ich deprimiert bin, sondern weil ich mich so freue, hier zu sein und all diese tollen Leute zu kennen. Ich bin mir sicher, dass Bennis Attacken von jetzt an leichter zu ertragen sind, weil ich weiß, dass da andere Menschen sind, die nichts dagegen haben, dass ich nicht auf Mädchen stehe. Und dann ist da noch Lilli. Wenn jetzt nicht alles besser wird, weiß ich auch nicht. * »Endlich Ferien«, stöhnt Lilli und streckt sich ausgiebig, während sie neben mir her durch die Eingangshalle unserer Schule geht. Ich kann es gar nicht fassen, wie schnell die letzten Wochen Schule herum gegangen sind. Benni hat eine neue Strategie für den Umgang mit mir entwickelt. Nach dem Konzert in der Lokhalle ignoriert er mich nur noch. Mir kann das nur recht sein. Seine Kumpels scheinen auch das Interesse an mir verloren zu haben, jetzt wo Benni nicht mehr dauernd auf mir herumhackt. Letzte Woche war ich mit ein paar Mädchen aus dem Kunstleistungskurs im Museum und wir treffen uns am Wochenende, um ins Kino zu gehen. Selbst Lilli kommt mit, obwohl sie normalerweise nichts mit den Leuten aus unserem Jahrgang anfangen kann. Die meisten ihrer Freunde sind deutlich älter als sie und fast alle sind sehr… punkig. Sie weiß, dass die mich einschüchtern, deswegen hat sie mich bisher noch nie mit zu einem Treffen geschleift. Dafür habe ich sie Chris, Sina und den anderen vorgestellt. Es hat sich rausgestellt, dass Sina, Nicci, Lara und Lilli sich ganz ausgezeichnet verstehen und immer zusammen hocken, wenn wir alle gemeinsam irgendwohin gehen. Ich freu mich einfach nur darüber, dass alle meine Freunde – und dieser Ausdruck ›alle meine Freunde‹ ist neu für mich – sich so gut verstehen und ich mittendrin stecken darf. »Erst noch ein letztes Mal Sport, dann Ferien«, gebe ich zu bedenken. Sport mache ich immer noch nicht gerne, aber es ist nicht mehr so schlimm wie noch vor ein paar Wochen. Diesmal bin ich sicherlich auch einer der Ersten in der Umkleide, wo ich mich doch sonst immer darum bemüht habe, als letztes da zu sein. Lilli verschwindet in der Mädchenumkleide und ich klopfe gegen die Tür, die zu den Jungs führt. Es dauert einen Moment, dann öffnet sich die Tür und ich stehe Benni gegenüber. Er sieht aus, als würde er die Tür am liebsten wieder zuschlagen, tritt dann aber zur Seite und lässt mich wortlos eintreten. Er ist der einzige hier drin und ich gehe hinüber zu einer der leeren Bänke und lasse meinen Rucksack darauf sinken. Ich krame nach meinen Klamotten und den Sportschuhen und wage einen Blick über die Schulter. Benni steht da ohne T-Shirt und mit geöffneter Jeans. Er kramt gerade nach etwas in seinem Rucksack und ich zucke erschrocken zusammen, als ich sehe, dass sein ganzer Oberkörper übersät ist mit blauen Flecken. Zum ersten Mal realisiere ich, dass ich noch nie gesehen habe, wie Benni sich hier umzieht, weil er immer schon fertig war, wenn ich rein kam. Ist er immer als erstes hier, damit das keiner sieht, wenn er sein Shirt auszieht? Woher die blauen Flecken wohl kommen? Ich kann mir gut vorstellen, dass er sich oft prügelt, aber das sieht aus, als hätte er sich in der letzten Woche an die zehn Mal mit irgendwem geschlagen. Und im Gesicht sieht man nichts. Aber bevor er noch sauer wird, weil ich ihn anstarre, drehe ich mich lieber wieder um und ziehe meine Sportklamotten an. Was auch immer Benni anstellt, es geht mich nichts an. Ich erzähle Lilli auf dem Nachhauseweg nichts von dem, was ich unter Bennis Shirt gesehen habe. Wir reden über unsere Ferienpläne und verabreden uns bei ihr zu Hause, um für das Kunstprojekt zu planen, das wir über die Ferien aufbekommen haben. »Was machst du heute noch?«, fragt sie mich, als wir vor meiner Tür stehen und sie sich das siebte Kirschbonbon in den Mund schiebt. »Chris hat nachher seinen ersten Wettkampf. Ich hab versprochen, dass ich hingehe«, erkläre ich verlegen. Lilli lacht. »Irgendwann kriegst du ihn«, meint sie und umarmt mich zum Abschied. Ich räuspere mich verlegen. »Unsinn«, nuschele ich und sie schmunzelt. »Wir sehen uns am Samstag bei Pia«, ruft sie mir über die Schulter zu. Ich winke ihr noch, dann schließe ich die Tür auf. Endlich Sommerferien. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)