Heldenzeit von Ur (Spiegelverkehrt & Kryptonit & Vulkado | Oneshot- Sammlung) ================================================================================ Kapitel 22: Trio ---------------- Für Katja ___________________________________ Treffen mit Anjo allein sind merkwürdig, weil ich es einfach mein Leben lang nicht gewöhnt war, ›normale‹ Freunde zu haben. Wenn ich mich mit Leuten getroffen habe, dann um abends einen zu trinken. Man hat sich nicht über Gott und die Welt unterhalten, sondern blöde Witze gerissen und über Leute gelästert und Kommentare über heiße Bräute gerissen, die sich in der Nähe aufgehalten haben. Treffen mit Anjo und Lilli sind auf irgendeine Art und Weise, die ich nicht so recht in Worte fassen kann, noch merkwürdiger. Ich konnte es schon schwer akzeptieren, dass es einen Menschen auf diesem Erdball gibt, der bereit ist, sich für mich einzusetzen, mir Dinge zu verzeihen, die ich mir selbst nicht verzeihen kann, und der für mich da ist, wenn ich jemanden brauche. Anjo ist ein kleines – oder vielleicht auch ein riesiges – Wunder für mich. Und ich komme mit der Tatsache nicht so richtig klar, dass dieses Wunder Wiederholungspotential hat. Leon, Felix, Christians Familie, Christian selbst, seit neustem auch Gabriel… sie alle sind nett zu mir und mögen mich. Sie helfen mir. Und Lilli… Lilli sieht mich nie mitleidig an, oder besonders aufmerksam, als hätte sie Angst, ich könnte gleich einen Wutanfall haben. Sie betrachtet mich nicht wie ein Projekt, wie jemandem, dem man Hilfe zuteilwerden lassen muss. Nicht, dass ich mich über die anderen jemals beschweren würde. Aber Lilli behandelt mich wie einen total normalen Menschen. Wahrscheinlich kennt sie nicht mal die Hälfte der Geschichte, was mich dazu bringt, ihr gegenüber etwas gelassener zu sein. Ich beobachte Lilli und Anjo gern, wenn sie beieinander sind, weil sie so ein komisches Pärchen abgeben. Anjo ist so still und lieb und hat eine gewisse Weltfriedensaura. Lilli hingegen ist ein gut gelaunter Wirbelsturm mit großer Klappe, klar definierten Meinungen und einem Musikgeschmack, der meine Ohren bluten lässt. Das weiß sie, deswegen verschont sie mich mit ihrer Musik, wenn ich mit Anjo bei ihr zu Besuch bin. Heute unterhalten sich die beiden über irgendeine Kunstaustellung, die sie gern besuchen wollen. Ich lehne mit dem Rücken an Lillis Bett und betrachte ihre mittlerweile nur noch blassgrünen Haare - »Ich hatte einfach ewig keine Lust mehr, nachzufärben« - und Anjos konzentrierten Blick mit der leicht gerunzelten Stirn, während er ihr zuhört. Lilli gestikuliert viel, während Anjo nur ab und an zaghafte Handbewegungen macht. In diesem Moment stelle ich zum ersten Mal erstaunt fest, dass ich gewissermaßen Teil eines Trios bin. Ein bisschen so wie in Harry Potter, wovon Jana und Franzi und Eileen mir regelmäßig erzählen und was ich bestimmt irgendwann mal lesen werde, allein schon, weil es bei Familie Sandvoss zur Familientradition gehört und ich der einzige Depp bin, der keine Ahnung hat. Selbst die Oma hat die Bücher gelesen. Ein Trio. Sowas hat es in meinem Leben noch nicht wirklich gegeben. Es gibt den Einen, oder das Paar. Oder die Gruppe. Jana und ich. Der Erzeuger. Anjo, der Eine, ich und die Jungs aus der Schule als Gruppe. Christian und Anjo. Sina und Christian. Aber jetzt gibt es auch Lilli, Benni und Anjo. Sie haben schon Kekse gebacken, für Englisch gelernt, gegen homophobe Trottel gekämpft und sich Weihnachtsgeschenke gemacht. »Na, was beobachtest du uns so aufmerksam?«, will Lilli verschmitzt wissen und ihre blauen Augen ruhen auf mir. Ich räuspere mich ein wenig verlegen und rutsche nervös auf dem Teppichboden herum. »Ich denke darüber nach, dass wir ein Trio sind«, gebe ich peinlich berührt zurück. Anjo lächelt sein die-Welt-ist-ein-schöner-Ort-und-du-trägst-dazu-bei-dass-sie-schön-ist-Lächeln, das mich jedes Mal unsicher macht und aus der Bahn wirft, weil ich automatisch denke, dass ich es nicht verdiene. »Blitzmerker«, sagt Lilli amüsiert und trinkt einen großen Schluck aus ihrer Teetasse, die neben ihr auf dem Boden steht. Ich warte die ganze Zeit darauf, dass Lilli sie mit ihren ausladenden Gesten umschmeißt. »Ich hab letztens nachgedacht«, meint Anjo und wir wenden uns ihm zu. Seine Wangen werden ein wenig rot. Auch, wenn ich rein platonische Gefühle für ihn habe, kann ich nicht umhin, ihn entzückend zu finden. Er ist wie ein Babyhund. »Wenn Lilli und ich hier an der Kunsthochschule angenommen werden… wäre es dann nicht nett, in eine WG zu ziehen?« Ich blinzele verwirrt. »Naja, macht Sinn, dass ihr dann zusammenzieht«, sage ich und nicke. Lilli gluckst heiter und Anjo seufzt. »Nein, nein. Ich meine, wir Drei. Du willst doch auch hier bleiben, bei Jana. Oder nicht?«, erwidert er und beobachtet ganz genau, wie ich reagiere. Wahrscheinlich sehe ich aus, als hätte ich einen Geist gesehen. Lilli lacht und leert ihre Teetasse, was ihren Teppich wahrscheinlich vor Pfützen bewahrt. »Ich auch?«, antworte ich und klinge selbst in meinen eigenen Ohren total stumpf. Immer, wenn sowas passiert, bin ich total schwer von Begriff, weil diese Dinge einfach keinen Sinn in meinem Kopf ergeben. Wer würde schon freiwillig mit mir zusammen wohnen wollen? Ich ganz sicher nicht. »Siehst du hier sonst noch jemanden?«, stichelt Lilli und klingt dabei besonders liebevoll. Die Vorstellung, nach dem Abi einen Job zu haben und mit Lilli und Anjo zusammen zu wohnen, klingt so utopisch, dass mein Gehirn wirklich große Probleme damit hat, sie zu verarbeiten. Noch vor ein paar Monaten war ich sicher, dass ich meinen Alten irgendwann umlegen und im Knast landen und somit mein Leben komplett ruinieren würde. »Ich bin sicher ein schrecklicher Mitbewohner«, sage ich, ohne wirklich darüber nachzudenken. Lilli schüttelt den Kopf. »Sag das nicht. Ich bin die schlimmste. Ich bin das wandelnde Chaos und höre meine Musik gern laut«, warnt sie uns vor und lacht erneut bei meinem Gesichtsausdruck, der sich automisch in meine Züge schleicht, als ich an ihre Musik denke. »Solange du dein Chaos auf dein Zimmer beschränkst…«, meint Anjo schmunzelnd. Ich versuche mir auszumalen, wie ich morgens verschlafen meine Zimmertür öffne und von Lillis schrecklicher Musik und einem zerstruwwelten Anjo, der bereits Tee gekocht hat, begrüßt werde. Es ist eine der besten Zukunftsaussichten, die mein Gehirn sich jemals ausgemalt hat. »Ich würd auch das kleinste Zimmer nehmen«, höre ich mich sagen und auf Anjos und Lillis Gesicht breitet sich ein Strahlen aus, als wäre meine Bemerkung eine Zusage. Natürlich haben wir keine Ahnung, ob Lilli und Anjo an der Kunsthochschule angenommen werden, ob ich eine Ausbildung finde und ob es irgendwo eine passende Wohnung für uns gibt. Das hält uns allerdings trotzdem nicht davon ab, den Rest des Nachmittags mit WG-Planungen zu verbringen, auch wenn es mir einen Stich versetzt, wenn ich daran denke, dass ich dann nicht mehr mit Jana zusammen unter einem Dach wohne. Aber trotzdem, denke ich mir, während Lilli erklärt, dass sie unbedingt eine Spülmaschine haben will, eine bessere Aussicht auf die Zeit nach dem Abi gibt es eigentlich nicht. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)