Heldenzeit von Ur (Spiegelverkehrt & Kryptonit & Vulkado | Oneshot- Sammlung) ================================================================================ Kapitel 15: Verzweifelt ----------------------- Für meinen Ayerkuchen _______________________________ CHRIS Der Geruch nach Desinfektionsmittel dringt erbarmungslos in meine Nase und ich verziehe das Gesicht. Alles – von den gläsernen Schwingtüren bis hin zu dem zerkratzten Linoleumboden – wirkt beunruhigend steril und schreit von Krankheit und Tod. Ich hab mir nicht mal die Zeit genommen, eine Jacke anzuziehen und fröstele ziemlich, als ich durch den weiß gestrichenen Eingangsbereich haste und ein kleines Wartezimmer finde. Zuerst sticht eine kleine Gruppe Frauen ins Auge. Ich kenne Felix‘ Mutter und seine Schwestern flüchtig. Alle drei Kinder der Familie Prinzler kommen nach ihrer Mutter. Die schmalen Mandelaugen, die vollen Lippen und die dunklen Haare und Iriden haben sie von Frau Prinzler geerbt, die dieser Tage ohnehin schon müde und ein wenig bitter aussieht – die Scheidung von ihrem Mann ist in vollem Gange, kein Wunder also. Stefanie sieht aus, als wäre sie direkt aus dem Hotel, in dem sie arbeitet, hierher gestürmt. Sie hat eine fleckige Schürze um und die Haare in einem unordentlichen Knäuel auf dem Kopf. Christina kaut nervös an ihren Fingernägeln und ihre hohen Schuhe klackern dumpf auf dem mintgrünen Boden, während sie nervös von einem Fuß auf den anderen tritt. Schließlich fällt mein Blick auf die zusammen gesunkene Figur auf einem der Plastikstühle, die etwas abseits von den anderen hockt. Leon ist leichenblass und hat seine Ellbogen auf den Knien abgestützt. Seine Augen starren ohne zu blinzeln auf den hässlichen Fußboden und er sieht so verloren aus, als hätte sich seine Welt um ihn herum in Luft aufgelöst. Dumpf wird mir klar, dass – egal wie wenig ich Leon leiden kann – Felix gewissermaßen Leons Welt ist. Mal abgesehen von Nicci. »Wie sieht’s aus?«, frage ich Frau Prinzler ohne die Drei großartig zu begrüßen. Ich hab eine SMS von Leons Handy bekommen, die er nicht selber geschrieben hat. Wahrscheinlich war es Steffi oder Christina. Dass Leon überhaupt meine Nummer hat, ist vermutlich nur der Tatsache zu verdanken, dass Felix sie ihm aufgezwungen hat, falls es irgendwann mal Probleme geben sollte oder Leon Felix nicht erreichen kann. »Felix hatte einen Unfall. Wird im Holwede-Stift operiert.« Mein Herz hat sich in diesem Moment angefühlt wie ein Backstein. Ich bin hergefahren wie ein Henker und hatte nicht mal ein schlechtes Gewissen. »Ihm hat irgend so ein Vollidiot die Vorfahrt genommen. Hinten an der großen Kreuzung beim Theater«, sagt Christina erstickt und etwas dumpf, da ihre Finger ihren Mund nur zur Hälfte verlassen, während sie spricht. »Ist ihm voll in die Seite gefahren. Aber weit und breit keine Spur von dem Kerl. Hat sich einfach aus dem Staub gemacht. Der Wagen ist Schrott, weil dann auch noch zwei hinten rauf gefahren sind«, fügt Steffi hinzu und wischt sich die Augen. Sie hat den Arm um ihre Mutter gelegt. Ihre Augen sind rot und geschwollen. »Sie operieren ihn jetzt. Alles Mögliche eingequetscht, der linke Unterschenkel ist gebrochen. Rippen geprellt. Und ne schwere Gehirnerschütterung…« Ich habe kaum gemerkt, wie ich die Luft angehalten habe. Jetzt atme ich etwas zittrig aus und balle die Hände zu Fäusten. »Das Arschloch ist einfach abgehauen?«, frage ich zischelnd. Die drei Frauen nicken gleichzeitig mit finsterer Miene. Ich fahre mir durch die Haare und werfe einen Blick über meine Schulter hin zu Leon. »Er sieht… fertig aus«, murmele ich leise. Steffi seufzt. »Hat noch kein Wort gesprochen. Er war schon da, als wir ankamen, aber die Ärzte haben ihm überhaupt nichts gesagt, weil er ja nicht zur Familie gehört«, kommt die leise Antwort. Ich nicke und zögere einen Moment lang. Dann gehe ich hinüber zu Leon und lasse mich auf einen der Plastikstühle neben ihm fallen. Er sieht nicht auf und ich beobachte ihn einen Moment von der Seite. Dass ich Leon nicht leiden kann, ist ja kein großes Geheimnis. Aber ich muss mir unweigerlich vorstellen, wie es wäre, wenn ich so eine Nachricht bekommen würde und Anjo betroffen wäre. Und vermutlich hab ich mit Leon noch nie so mitgefühlt wie in diesem Augenblick. Es fühlt sich scheiße genug an, dass mein bester Freund wegen der Dummheit eines anderen solche Verletzungen erlitten hat. »Hey«, sage ich probehalber. Leon rührt sich erst überhaupt nicht, dann hebt er den Kopf und sieht mich an, als wäre ich ein hellgrünes Alien. Seine dunklen Augen sind umschattet und seine Haut ist blass und gräulich. Um seinen Mund liegt ein angespannter Zug. Wir starren uns mehrere Sekunden lang an, dann lässt Leon den Kopf wieder sinken und fährt sich mit den Händen durch seine schmutzig blonden Haare. »Wenn sie den Fahrer finden, können wir losziehen und ihn in den Boden stampfen«, schlafe ich vor. Leon ist beunruhigend, wenn er nicht mal eine Beleidigung für mich auf den Lippen hat. Abgesehen davon will ich mich selber auch ein wenig ablenken. Anjo und Sina wissen auch, dass ich hier bin und sie warten darauf, dass ich ihnen Bescheid sage, sobald ich irgendwas Genaues weiß. Leon gibt ein undeutliches Geräusch von sich. Es klingt zustimmend, schnaubend und ein wenig verzweifelt. »Christian? Wir gehen uns einen Kaffee holen, ja?«, sagt Frau Prinzler zu mir und ich nicke kurz. Ich will nichts trinken. »Willst du auch irgendwas?«, frage ich Leon. Er schüttelt den Kopf und kaut nun nervös auf seiner Unterlippe herum. »Du siehst aus, als würdest du gleich vom Stuhl fallen«, fahre ich fort. Mir ist klar, dass Leon nicht von der Seite vollgequatscht werden will, aber es macht mich unruhig, hier mit ihm allein zu sein und ihn wie ein Häufchen Elend da sitzen zu sehen. Die ganze Situation macht es schwierig, Leon blöd zu finden und das gefällt mir nicht besonders. Wenn Anjo und Sina diesen Gedanken gehört hätten, würden sie jetzt die Augen verdrehen und mich strafend ansehen. Aber immerhin weiß ich, dass diese gewollt aufrecht erhaltene Abneigung auf beiden Seiten vorhanden ist und bisher hab ich mich damit auch sehr wohl gefühlt. »Mein Freund wird gerade operiert«, sagt Leon und er klingt ein bisschen so, als wäre er sich nicht sicher, ob ich noch alle Tassen im Schrank habe. Die Worte ›mein Freund‹ klingen merkwürdig aus Leons Mund. Mittlerweile sollte ich mich wirklich daran gewöhnt haben, dass Leon und Felix zusammen sind. Aber nachdem ich die ganze die-beiden-sind-ineinander-verliebt-und-Leon-kriegt-seinen-Hintern-nicht-hoch-Geschichte so ausführlich mitbekommen habe, ist es doch tatsächlich ausgesprochen wunderlich, Leon so offen dazu stehen zu sehen, dass er mit Felix zusammen ist. Ich dachte, als die beiden zusammen gekommen sind, dass es ewig dauern würde, bis Leon sich zusammenreißt und es auch öffentlich zeigen kann. Aber nein. Zwar ist er dauernd rot angelaufen und hat peinlich rumgestottert… aber alles in allem hat er sich doch recht gut geschlagen. »Ich weiß. Mein bester Freund wird auch gerade operiert«, informiere ich Leon. Seine Brauen ziehen sich zusammen und er betrachtet mich ungnädig. Das gefällt mir schon besser. »Schön für dich, dass du dabei so lässig bleiben kannst«, schnauzt er ungehalten und erhebt sich von seinem Plastikstuhl. Er beginnt im Wartezimmer auf und ab zu schreiten verhakt dauernd seine Finger miteinander, als müsste er sich davon abhalten, vor lauter Frustration auf die nächstbeste Wand einzuschlagen. Es ist wirklich ein beschissenes Gefühl, wenn man nichts machen kann. Nur warten. Warten und rumsitzen und hoffen, dass alles wieder in Ordnung kommt. »Du könntest mir eine reinhauen«, schlage ich vor. Leon bleibt stehen, runzelt die Stirn und sieht mich an, als hätte ich nun in seinen Augen eindeutig den Verstand verloren. »Was?« Ich zucke mit den Schultern. »Du siehst aus, als müsstest du dich an irgendwas abreagieren«, gebe ich zurück. Eigentlich wollte ich seine Anspannung auf mich lenken, damit er nicht so apathisch da sitzt und sich ein bisschen ablenken kann. Aber jetzt sinkt er wieder völlig in sich zusammen, macht zwei Schritte auf den Stuhl zu, auf dem er vorher gesessen hat, und vergräbt sein Gesicht in den Händen. »Ich will diesen Kerl umbringen«, höre ich die gedämpfte Stimme zwischen den Fingern hervordringen. »Kann ich nachvollziehen«, gebe ich zurück. Die Vorstellung, dass Felix irgendwo auf einem OP-Tisch liegt, bewusstlos und verletzlich, macht mich wütend. Diese Hilflosigkeit ist furchtbar. »Er kommt bestimmt auf die Intensiv-Station… Da darf ich gar nicht hin, wenn ich nicht zur Familie gehöre«, nuschelt er. Ich seufze lautlos. Es ist komisch, Worte mit Leon zu wechseln. Und dann auch noch normale Worte. Keine Beleidigungen. Oder schnippische Bemerkungen durch Dritte übereinander. Ich räuspere mich. »Wenn wir den Ärzten sagen, dass ihr so gut wie verheiratet seid…« Leon schnaubt. »Ist doch wahr. Ihr seid wie ein altes Ehepaar.« Ich versuche mir Felix und Leon bei einer Hochzeitsfeier vorzustellen und verziehe unweigerlich das Gesicht. Auch wenn ich Leon nicht mag, sehe ich die beiden tatsächlich in zehn Jahren immer noch miteinander kabbeln. Oh man. Woher hat Felix nur diesen furchtbaren Geschmack? »Red keinen Stuss«, meint Leon halbherzig und er hat sich immerhin wieder gerade hingesetzt. Ich zucke mit den Schultern. »Felix hat selber gesagt, dass er sich ‘ne Zukunft ohne dich nicht vorstellen kann. Ich find’s ja auch ziemlich schmalzig und ich hab keine Ahnung, was er an dir so gut findet, aber…« Ich verstumme, als ich Leons Gesichtsausdruck sehe. »Ok, vergiss, was ich gesagt hab, ich–« Aber es ist zu spät. Leon gibt ein kehliges Gurgeln von sich und wischt sich mit dem Unterarm hastig und entschieden über die Augen. Großartig. Ich rutschte unruhig auf meinem Stuhl hin und her. Das hat man davon, wen man nette Dinge sagen will. Man bringt Leute, die man nicht leiden kann, zum Heulen. Wahrscheinlich hat er schon die ganze Zeit versucht es sich zu verkneifen und ich hab gerade galant das Ventil aufgedreht. Ich schlucke nervös und verkneife mir einen lauten Fluch, dann werfe ich unfeierlich meinen Arm um Leons Schultern und bin bemüht so zu tun, als wäre das überhaupt nicht merkwürdig, weil wir uns eigentlich verabscheuen. Aber ganz offensichtlich gibt das Leon den Rest. Er vergräbt sein Gesicht wieder in den Händen und ich spüre durch das Beben seines Rückens, dass er weint. Wenn Felix uns sehen könnte, würde er lachen, ein Foto machen und uns bis in alle Ewigkeit damit aufziehen. Der Kloß in meinem Hals wird auch nicht kleiner, als Frau Prinzler und Felix‘ große Schwestern wieder das Wartezimmer betreten. Sie werfen uns einen kurzen Blick zu und sehen dann taktvoll wo anders hin. Jeder Mensch in diesem Raum weiß haargenau, dass es Leon wahnsinnig unangenehm sein muss, hier zu hocken und zu weinen. Leon motzt nicht über den Arm um seine Schultern. Er spricht nicht mehr. Er bleibt einfach nur neben mir hocken und einzig die leisen Stimmen von Felix‘ Familie durchbrechen die gewöhnlichen Krankenhausgeräusche, während wir warten. Und warten. Und warten. Als eine Ewigkeit später ein Arzt mit weißen Kittel und einem offiziell wirkenden Kugelschreiber in der Brusttasche das Wartezimmer betritt, springen Felix‘ Schwestern auf und Leon reißt seinen Kopf so hastig nach oben, dass ich zusammenzucke und meinen Arm von ihm wegziehe. »Frau Prinzler?«, fragt der Arzt und wendet sich an Felix‘ Mutter. Die nickt und eilt zu ihm herüber. Leon und ich starren zu der kleinen Gruppe hinüber. Der Arzt spricht gedämpft und gestikuliert sehr ruhig. Ich entnehme seiner Körpersprache und der gemilderten Anspannung auf dem Gesicht von Felix‘ Familie, dass soweit alles in Ordnung ist, und entspanne mich automatisch ein wenig. Leon steht auf und stopft seine Hände entschlossen in die Hosentaschen, als wollte er sich davon abhalten, weiterhin nervös mit seinen Fingern zu spielen. Seine Augen sehen nun auch rot aus und seine Lider sind ein wenig geschwollen. Als der Arzt zu ihm hinüber sieht und Stefanie in Leons Richtung gestikuliert, scheint sich jeder Muskel in Leons Körper anzuspannen. »Er schläft, aber wir können kurz rein und nach ihm sehen«, sagt Christina und winkt Leon mit sich. Ich seufze erleichtert auf und fühle, wie eine riesige Menge Anspannung meinen Körper verlässt. Automatisch fühle ich mich wackelig. Sobald ich zu Hause bin, sollte ich dringend was essen. »Los geht’s, Tiger«, sage ich gedämpft zu Leon und schiebe ihn in Richtung von Felix‘ Familie. Als er sich ein weiteres Mal durch die Haare streicht, zittern seine Hände sichtlich. Er tritt neben Frau Prinzler, die mir kurz erklärt, dass mit Felix den Umständen entsprechend alles in Ordnung ist und sie mich informieren, sobald ihn auch Freunde besuchen dürfen. »Danke«, sage ich zu ihr und umarme Felix‘ Schwestern zum Abschied. Leon zögert einen Augenblick und dreht sich dann zu mir um. »Danke«, sagt er etwas heiser. »Arschloch.« Ich muss lachen und hebe die Hand zum Gruß. »Grüß ihn von mir, wenn er wach wird«, entgegne ich. »Wichser.« Leon schnaubt und seine Mundwinkel zucken kaum merklich, dann gehe ich an Leon vorbei in Richtung Ausgang und krame mein Handy hervor, um Sina und Anjo über Felix‘ stabilisierten Zustand zu informieren. LEON Eine Woche später wurde Felix endlich von der Intensivstation auf eine normale Station verlegt. Nach seinem ersten Besuch an Felix‘ Bett hatte Leon keinen Zutritt mehr zu seinem Freund bekommen. Felix hatte schrecklich ausgesehen. Leon hatte ihn noch nie so verletzlich und schwach gesehen und Felix war für gewöhnlich ein Fels in der Brandung. Er war stark und stur und sprudelte über vor lauter Lebensenergie und guter Laune. Ihn auf diese Art und Weise handlungsunfähig und hilflos dort liegen zu sehen, hatte Leon das Herz gebrochen. Nicht, dass er gern solche schmalzigen, überemotionalen Gedanken hegte, aber diese Wartestunden und der anschließende Anblick waren das schlimmste, was ihm jemals in seinem Leben passiert war. Felix hatte geschlafen und das Piepen in dem Raum, die ganzen Schläuche und Gerätschaften und die Nadeln, die seinem Freund an allen möglichen und unmöglichen Stellen aus dem Körper geragt hatten, hatten ihm den Magen umgedreht. Ihm war unheimlich schlecht geworden, aber er hatte auch nicht gehen wollen. Sie hatten nur zehn Minuten an seinem Bett gestanden, dann hatte eine Krankenschwester sie aus dem Zimmer gebeten. Jetzt, eine Woche später, stand Leon mit klopfendem Herzen vor Raum 2104 und schluckte. Vielleicht war Felix gar nicht wach. Aber er wollte seinen Freund unbedingt sehen. In der letzten Woche hatte er Felix so unheimlich vermisst und ihre gemeinsame Wohnung war ihm noch leerer vorgekommen, als zu der Zeit, bevor sie eingezogen waren. Er hatte in Felix‘ Bett geschlafen, wo die Kissen nach seinem Shampoo rochen und nachts die Heizung viel zu laut gluckerte. Aber Leon hätte ohnehin nicht gut schlafen können. Seine Träume waren durchwoben von Unfallbildern und Piepen und Schläuchen, zweimal hatte er geträumt, dass Felix im Schlaf oder auf dem OP-Tisch gestorben war und er war schweißgebadet und panisch aufgewacht, nur um schlaftrunken und fahrig nach seinem Handy zu tasten. Wenn irgendetwas Schrecklich passierte, dann würde er Bescheid kriegen. Nach diesen Träumen konnte er nicht mehr einschlafen, meistens hatte er es auch das gar nicht gewollt, weil ihm die Vorstellung von noch mehr dieser Bilder im Kopf Angst machte. Wenn es um Felix ging, war Leon so butterweich geworden, dass es ihn oftmals selbst beunruhigte. Aber da das kaum jemand außer Felix und Nicci wusste, war es irgendwie in Ordnung er gewöhnte sich allmählich daran. Als er klopfte und Felix‘ Stimme antworten hörte, riss Leon die Tür etwas zu heftig auf und stürzte ins Zimmer. Er hatte die Befürchtung gehabt, dass er sonst nicht den Mut aufbringen würde, den Raum zu betreten. Felix lag im Bett hinten am Fenster und das Bett neben ihm war leer und zerwühlt. Er lächelte zärtlich der Tür entgegen und Leons Herz überschlug sich. Felix sah immer noch furchtbar aus, aber wenigstens piepte es nicht mehr so extrem durchdringend, die meisten Schläuche waren fort und eine Kanüle schien in seiner linken Hand zu stecken. »Hallo Noel«, sagte er und seine Stimme klang brüchig und etwas heiser, als hätte er sie länger nicht benutzt. Er sah unheimlich müde aus. Leon ging hinüber zum Bett und zog sich hastig einen Stuhl heran. Felix schob seine rechte Hand unter der weißen Bettdecke hervor und Leon griff danach. »Tine und Steffi sind grad weg«, erklärte er und Leon musste schlucken, um nicht auf der Stelle wieder mit dem Heulen anzufangen. Es war vor Christian wahnsinnig entwürdigend gewesen. Leon dachte nicht gern an diesen Nachmittag zurück. Überhaupt dachte er nicht gern über Christian nach. »Wie geht’s dir?«, erkundigte er sich und schluckte erneut, um den Kloß in seinem Hals hinunterzuwürgen. Felix lächelte. »Mir tut alles weh, die Kanüle nervt und kann peinlicherweise nicht allein aufs Klo. Ansonsten ist alles bestens«, murmelte er matt. Leon strich mit dem Daumen sachte über Felix‘ Handrücken. »Hab dich vermisst«, krächzte er peinlich berührt. Solche Dinge zu sagen, fiel ihm immer noch schwer. Felix‘ Lächeln wurde breiter und er brachte ein halbes Strahlen zustande. Aber seine braunen Mandelaugen leuchteten freudig aus den umschatteten Höhlen. »Ich dich auch.« Leons Hand wurde beunruhigend schwach gedrückt und Felix seufzte. »Ich hätte eigentlich gern einen Kuss, aber ich war heut nicht Zähne putzen«, nuschelte er. Leon schnaubte. »Mir doch Wurst«, murrte er, erhob sich halb von seinem Stuhl und beugte sich so weit vor, dass er Felix‘ trockenen Lippen einen Kuss aufdrücken konnte. Felix machte ein leises, zufriedenes Geräusch, dass Leons Magen zum Flattern brachte. Durfte man nach so langer Zeit in einer festen Beziehung noch so nervös werden? Bei simplen Dingen wie einem schlichten Kuss auf den Mund? Leon fand sich beunruhigend, aber es fühlte sich auch so gut an, dass er sich nicht beschweren wollte. »Hab gehört, dass Chris dich im Wartezimmer bekuschelt hat«, sagte Felix und Leon hörte einen schwachen, neckischen Unterton in seiner Stimme. Leon gab ein gurgelndes Geräusch von sich und fuhr sich mit der freien Hand übers Gesicht. »Eventuell hat er den Arm um meine Schultern gelegt, als ich… äh… ein paar Tränen verdrückt habe«, brummte er und starrte interessiert aus dem Fenster. Als ihm nur Schweigen antwortete, wandte er den Kopf und sah Felix an. Zu seinem Entsetzen waren Felix‘ Augen feucht und er betrachtete mit so viel Liebe, dass Leon beinahe Angst hatte, er würde gleich vor Nervosität vom Stuhl fallen. »Du hast geweint, weil du dir Sorgen gemacht hast«, flüsterte Felix. Leon nickte benommen und streckte automatisch seine freie Hand aus, um die Träne wegzuwischen, die seinem blassen Freund über die Wange lief. »Kein Grund selber zu weinen«, nuschelte Leon. Er hatte Felix bisher erst einmal weinen gesehen und das war, als seine Oma nach einem Schlaganfall ins Krankenhaus gekommen war. Er hatte sich seitdem im Trösten keineswegs verbessert. »Ich freu mich nur. Was blöd ist, weil es dir schlecht ging, aber… man, ich will diese ganzen Scheiß Schläuche loswerden und dich umarmen und mit dir nach Hause gehen«, klagte Felix und schniefte. Leon schluckte schon wieder. Er drückte Felix‘ Hand besonders vorsichtig und rutschte noch ein wenig näher ans Bett heran. »Wie lange musst du denn noch hier bleiben? Wir haben Ferien, ich schieb dich auch gern im Rollstuhl durch die Gegend, wenn du nicht gehen kannst. Kochen kann ich nicht. Aber ich kann Thai bestellen. Oder Mexikanisch… was ist denn?« Felix sah ihn einen Augenblick an, als wäre er kurz davor zu explodieren, dann schniefte er erneut und noch mehr Tränen liefen ihm über die Wangen. »Noch zwei Wochen. Mindestens«, sagte Felix mit erstickter Stimme und angelte mit der Kanülen-Hand auf dem Nachtschrank nach Taschentüchern. »Ok. Ich muss dich auch nicht im Rollstuhl rumschieben. Aber ich würd’s machen. Und dein Gorilla hat davon gefaselt, dass du dir dein Leben nicht ohne mich vorstellen kannst und ich würd dich auch mit siebzig im Rollstuhl rumkarren!« Eventuell war er jetzt auch wieder am Heulen. Felix musste unter Tränen lachen und verzog schmerzerfüllt das Gesicht. Leon griff sich auch ein Taschentuch. Er brauchte beide Hände zum Naseputzen, aber er wollte Felix‘ Hand nicht loslassen. »Es wäre großartig, wenn du mich mit siebzig rumschieben würdest. Falls ich es nötig habe«, gab Felix zurück. Leon hatte keine Worte dafür, wie sehr er den jungen Mann in diesem Krankenbett liebte. Es war unheimlich. »Und jetzt wäre es total gut, wenn du mir meine Zahnbürste und ein Glas Wasser ans Bett bringen könntest, damit ich dich anständig knutschen kann.« Hosted by Animexx e.V. 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