Abseits des Weges von Flordelis (Erinnerungen sind wie Fragmente) ================================================================================ Niemals allein -------------- Es war einfach unmöglich, Ruhe zu finden, so kam es ihm vor. Selbst wenn er die Augen schloss und zu schlafen versuchte, hörte er ständig Stimmen, fühlte wie ihm körperlose Wesen an den Schultern packten, um ihm etwas ins Ohr zu schreien, wie sie ihm mit knochigen Fingern in die Seite stachen, um ihn zu quälen und niemals zur Ruhe kommen zu lassen. Eine Flucht schien ihm aussichtslos, egal wie sehr er zu rennen versuchte, er schaffte es nicht, sich von der Stelle zu bewegen oder diesen Wesen zu entkommen. Schließlich gelang es ihnen sogar, ihn am Arm zu packen, ihn zurückzuziehen und sogar seinen Namen zu rufen, sie kreischten diesen geradewegs in sein Ohr, ohne dass er es schaffte, sich dagegen zu wehren, egal wie heftig er das versuchte. „Nun wach endlich auf, Nolan!“ Schlagartig riss er die Augen auf – und befand sich nicht mehr in einer von Monstern bevölkerten Dunkelheit, sondern mitten in seinem gut beleuchteten Klassenzimmer, wo er von seinen neugierigen Mitschülern betrachtet wurde. Sein Lehrer, Sir Ceanan, hatte die Hand auf seine Schulter gelegt, er blickte ein wenig genervt, was dazu führte, dass die Narbe über seinem rechten Auge merkwürdig zu zucken schien. Nolan musste sich davon abhalten, sie anzustarren und seinen Blick auf die Nase des Mannes zu konzentrieren. „Warum schläfst du eigentlich immer im Unterricht ein?“, beklagte Ceanan sich. „Ist er denn wirklich so langweilig?“ Kollektives Kopfschütteln antwortete ihm darauf, aber Nolan sammelte erst seine Gedanken, ehe er selbst dazu kam, etwas zu sagen: „Nein, natürlich nicht. Ich komme nur zu Hause nicht viel zum Schlafen.“ Die Neugier wandte sich wieder Nolan zu, jeder wollte wissen, warum er so wenig Schlaf fand, aber er sagte nichts mehr, genausowenig wie Ceanan noch etwas fragte und stattdessen lieber wieder zu seinem Platz vor der Klasse zurückkehrte, um den Unterricht fortzusetzen. Das enttäuschte Raunen ging durch alle Anwesenden, aber keiner von ihnen sagte noch etwas dazu. Erst als Ceanan wieder an der Tafel stand, mit dem Rücken zur Klasse, spürte Nolan erneut, wie etwas in seine Seite stach. Er wandte den Blick nicht in jene Richtung, da er ohnehin wusste, wer da versuchte, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, aber zumindest an diesem Tag wollte Nolan erst einmal keinen Ärger mehr mit Ceanan haben. Die Person neben ihm gab allerdings nicht auf und versuchte es nun sogar mit „He, No!“, als ob er tatsächlich glaubte, dass sein Freund das Stechen nicht bemerken würde. Nolan ignorierte ihn entschlossen – aber das half offenbar nicht. Ceanan hielt nicht einmal beim Schreiben an die Tafel inne. „Landis, Nolan, ihr werdet nach der Stunde dableiben und saubermachen. Ihr anderen macht bis dahin noch ein wenig Müll, klar?“ Das war etwas, das sich kaum einer zweimal sagen und Nolan genervt seufzen ließ. Immerhin ließ Landis ihn den Rest der Zeit in Ruhe – jedenfalls bis sie dann schließlich das Klassenzimmer saubermachen mussten. „Warum ignorierst du mich denn während des Unterrichts?“, fragte Landis geradezu vorwurfsvoll, während er den Papiermüll aufsammelte, der von den anderen Schülern hinterlassen worden war. Nolan presste die Lippen aufeinander. Das Gefühl des nassen Schwamms in seiner Hand mit dem er die Tafel säuberte, zehrte an diesem Tag an seinen Nerven, so wie alles andere, da er zu wenig geschlafen hatte und weswegen er zuerst nicht antworten wollte, weil er genau wusste, dass es ihm direkt aus der Hand gleiten würde. Doch da er wusste, dass Landis nicht eher nachlassen würde, antwortete er schließlich doch noch und wandte sich dafür von der Tafel ab: „Weil dann immer so etwas passiert! Du spielst verrückt und ich muss es dann mit dir ausbaden!“ Sein Freund hielt inne und sah ihn mit einem Blick an, den Nolan nur zu gut kannte: Er verriet, dass er keine Ahnung hatte, wovon der andere eigentlich sprach. „Bislang hat es dich auch nicht gestört.“ „Bislang hatte ich meinen Vater, der sich daran störte“, erwiderte Nolan unbeeindruckt. Anfangs hatte er sich erleichtert gefühlt über Kierans Tod – aber je mehr Zeit verging, desto mehr bemerkte er, wie sein Vater von Sorgen geplagt worden sein musste, die nun langsam auf ihn übergingen und seinen Rücken zu krümmen versuchten. Er machte sich Gedanken über seine Zukunft, über seine Kontakte, viele Sachen, über die er zuvor niemals auch nur im Ansatz nachgedacht hatte. Aber sie führten ihn allesamt zu dem Schluss, dass es nicht weitergehen konnte wie bisher. Er musste etwas ändern – selbst wenn das bedeutete, dass er seinen besten Freund... Nein, er wollte den Gedanken nicht beenden, denn allein zu denken, dass er und Landis keine Freunde mehr sein könnten, schnürte seine Kehle zusammen. Ohne seine Eltern und ohne Landis wäre er vollkommen allein, auch wenn da noch alle anderen Einwohner von Cherrygrove waren, niemand stand ihm so nahe wie sein bester Freund. „Ich dachte, ohne Onkel Kieran wärst du all diese Sorgen endlich los“, bemerkte Landis seufzend und ging in die Knie, um etwas unter einem Tisch hervorzuholen und Nolan nicht einmal anzusehen. „Bin ich jetzt auch deiner Meinung nach ein schlechter Einfluss?“ Seine Stimme klang ein wenig brüchig als wäre er kurz davor zu weinen und konzentrierte sich deswegen auf den Papiermüll. „Nein, natürlich nicht!“, erwiderte Nolan hitzig, nur um gleich darauf wieder ein wenig kleinlaut zu werden. „Zumindest nicht wirklich. Aber du musst doch zugeben, dass du gern für Stress sorgst, oder? Und das aus Langeweile, oder?“ „Langeweile würde ich es nicht nennen...“ Aber mehr konnte Landis dazu auch nicht sagen, denn offenbar wusste er auch nicht, weswegen er das eigentlich immer tat. Laut Richard war es eine fehlerhafte Aufmerksamkeitsspanne, aber Yuina erwiderte stets, dass Landis ein gesunder junger Teenager war – und dass es sich dabei um sein größtes Problem handelte. „Soll das heißen, du willst mir jetzt sagen, dass wir keine Freunde mehr sein können?“ Als der andere das so aussprach, glaubte Nolan, von einer Faust in den Magen getroffen zu werden, die ihm gleichzeitig jeglichen Sauerstoff aus den Lungen presste. „Nein!“, widersprach er atemlos und fast schon eine Nuance zu hoch. „Sicher nicht! Aber... solltest du nicht vielleicht auch mal nachdenken? Über alles?“ Den leeren Blick seines Freundes kannte er ebenfalls, aber so ganz wusste er noch immer nicht, was dieser bedeutete. In solchen Momenten kam es ihm immer vor als würde Landis sich an etwas erinnern, das er eigentlich gar nicht mehr wissen wollte. Im nächsten Augenblick blinzelte er allerdings bereits wieder. „Ja, ich werde mal darüber nachdenken. Aber was mich mehr interessiert...“ Er neigte den Kopf und sah Nolan traurig an. „Seit wann hast du solche Albträume?“ „Du hast es mitbekommen?“ Landis stemmte die Hände in die Hüften und vergaß nun endgültig den Papiermüll. „Natürlich habe ich das! Wir sind beste Freunde! Ich habe deine Augenringe bemerkt, dass du im Unterricht immer öfter einschläfst und dass du dann sehr unruhig träumst.“ Nolan seufzte leise und erzählte ihm von den Dämonen, die er in seinen Träumen immer wieder sah, die ihn verfolgten und deren Anwesenheit er sogar im wachen Zustand zu spüren glaubte. Landis lauschte dem verstehend und kam dann wie gewohnt zu einer Antwort: „Du solltest die nächste Zeit bei uns bleiben! Mama und Papa freuen sich bestimmt!“ Er wollte widersprechen, aber Landis ließ ihm keine Gelegenheit dazu: „Wir räumen jetzt schnell zusammen weiter auf und dann gehen wir zu mir. Da geht es dir dann bestimmt bald besser.“ Mit ein wenig Überzeugungskraft brachte er Nolan dazu, gemeinsam mit ihm weiter sauberzumachen und schließlich die Schule zu verlassen, damit sie zu ihm, Asterea und Richard gehen konnten. „Du wirst bestimmt gut schlafen bei uns“, erklärte Landis. „Ich weiß nicht warum, aber ich habe immer das Gefühl, dass unser Haus wesentlich geschützter ist als sonst eines, meinst du nicht auch?“ „Ich habe mir nie Gedanken darüber gemacht“, meinte Nolan, „aber es könnte schon sein. Mein Vater meinte immer, dass Tante Asti irgendwie ganz anders ist als alle anderen Menschen...“ Während er weiter mit Landis redete, spürte er, wie ein Gewicht von ihm abfiel und ihn befreite. Es war lange her, seit sie zuletzt so unbeschwert miteinander gesprochen hatten, es war ihm regelrecht vorgekommen als hätten sie sich voneinander entfernt – und nun waren sie sich wieder so nah wie zuvor, was ihn mit einer angenehmen Ruhe erfüllte. Jedenfalls bis er plötzlich etwas hinter sich spürte. Er hielt inne und fuhr herum, aber dort war nichts zu sehen. Weder etwas Gefährliches noch etwas Unbedenkliches. Aber das Gefühl, dass etwas da war und lauerte, ließ ihn einfach nicht los. „Alles okay?“, fragte Landis. Nolan wandte sich von dem Etwas ab und wieder seinem Freund zu. „Ah, es ist nichts, lass uns weitergehen, ja? Ich habe Hunger.“ „Dann schraub die Erwartungen nicht zu hoch“, riet Landis ihm lachend. „Meine Mutter kocht immerhin nicht sonderlich gut.“ „Also da würde ich dir widersprechen. Ich erinnere mich nur an...“ Weiter plaudernd setzten sie ihren Weg fort, so bemerkte keiner von ihnen den Lichtblitz hinter ihnen, der das Etwas, das Nolan aufgelauert hatte, mit einem Streich vernichtete. Die ebenfalls unsichtbare Gestalt, die einem Geist glich, blickte Nolan hinterher und wäre es einem möglich gewesen, dieses Wesen zu sehen, hätte er durchaus erkannt, dass es Kieran glich, der vor wenigen Monaten erst verstorben und offenbar nicht in der Lage war, seinen Sohn allein zu lassen. Aber da es niemandem möglich war, erkannte auch niemand diesen Umstand und genausowenig sah jemand, wie Kieran Nolan und Landis folgte, um weiterhin ein Auge auf seinen Sohn zu haben, solange es sein musste. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)