Abseits des Weges von Flordelis (Erinnerungen sind wie Fragmente) ================================================================================ Vom Fortgehen und Bleiben ------------------------- Mit einem trotzigen Gesichtsausdruck saß der Junge vor dem aufgewühlten Erdhügel, der lediglich mit einem ungeschickt behauenen Stein, der darauf lag, verriet, dass er kein gewöhnliches Stück Erde war, sondern als improvisiertes Grab diente. Auf dem schmutzigen Gesicht des Jungen waren Spuren von Tränen zu erkennen, sie hatten den Dreck abgewaschen und einen deutlich sichtbaren, fast schon zu hellen weißen Streifen hinterlassen. Er weinte nun nicht mehr, die Tränen waren versiegt, während er das Grab wieder zugeschaufelt hatte, aber noch immer weigerte er sich regelrecht, aufzustehen und diese Stelle zu verlassen. Stur starrte er auf den Stein als hoffte er, was da begraben war, würde wieder hervorkriechen und zu ihm zurückkehren, auch wenn er wusste, dass dieser Gedanke lächerlich war. Das hielt allerdings nicht lange an, da sich plötzlich ein braunhaariger Mann neben ihn setzte. Der Junge hob nur kurz den Kopf, erkannte den Mann als seinen Vater und blickte dann wieder auf das Grab. „Oh Richard“, seufzte der Mann, dessen Name Roland lautete. „Bist du immer noch hier?“ „Siehst du doch“, erwiderte Richard trotzig und wandte demonstrativ den Kopf in die andere Richtung, damit er seinen Vater nicht einmal aus den Augenwinkeln sehen müsste. Nachdenklich fuhr sich Roland mit der Hand durch den Bart, der gerade im Wachsen begriffen war und endlich Kinn und Wangen mit einem Flaum statt Stoppeln überzog, so dass es angenehm war, darüber zu streichen. „Du trauerst also immer noch?“ Richard presste die Lippen aufeinander, statt zu antworten, wenn es doch ohnehin offensichtlich war. Aber da Roland nichts mehr sagte und ihm das Schweigen zu drückend wurde, entschied er sich schließlich doch das Erstbeste zu erwidern, das ihm einfiel: „Er war mein Hund und mein bester Freund. Ich kann Calum nicht einfach allein lassen!“ Er schwieg einen Moment, ehe er leise schnaubte und murmelnd hinzufügte: „Auch wenn er mich alleingelassen hat.“ Diese Worte ließen Roland sanft lächeln. „Du hast das Gefühl, dass er dich alleingelassen hat?“ Nun wandte Richard sich ihm endlich wieder zu, das Gesicht vor Wut und Trauer verzerrt. „Natürlich hat er das! Immerhin ist er fortgegangen! Ohne mich!“ Seine Worte unterstrich er mit wedelnden Handbewegungen, die vermutlich symbolisieren sollten, dass sein Hund in den Himmel gegangen war, so wie seine Mutter es ihm erzählt hatte. Roland überlegte, was er ihm nun erzählen sollte, was nicht einfach war. Maria, Richards Mutter, hatte ihm bereits gesagt, dass Calum sehr müde gewesen war und nun lange schlafen musste und der beste Ort dafür der Himmel war, wo sie beide sich eines Tages wiedersehen würden. Offenbar funktionierte das allerdings nicht bei Richard, der immer noch wütend auf seinen Freund war, der ihn einfach verlassen hatte. Also musste er es anders angehen: „Du weißt doch, dass jeder einmal stirbt, oder?“ „Ja“, brummte Richard unversöhnlich. „Weißt du, sterben ist wie ein sehr langes Fortgehen, nach dem man sich nicht wiedersieht. Vermutlich nicht einmal im Himmel.“ Sein Sohn sah ihn an, als wollte er ihn fragen, ob diese ganze Sache wirklich sein Ernst sei, weswegen er lieber fortfuhr: „Aber eigentlich ist dieser Jemand nicht wirklich fort. Er bleibt immer bei uns. Hier“ – er berührte Richards Stirn und legte die Hand dann auf sein Herz – „und hier.“ Endlich schwand der Ärger vom Gesicht seines Sohnes, damit ausreichend Platz für den verwirrten Ausdruck entstand. Genau die Reaktion, die Roland sich erhofft hatte. „Calum bleibt immer in deiner Erinnerung und in deinem Herzen. Auch wenn er fortgeht, wirst du dich an ihn erinnern können und dann wird es sein als wäre er wieder bei dir.“ Misstrauen flackerte in Richards Augen, die gerunzelte Stirn zeigte, dass er noch nicht so recht wusste, ob er seinem Vater wirklich glauben sollte. Aber schließlich entschied er sich offenbar dazu, es einfach mal auszuprobieren und schloss die Augen. Es dauerte einen kurzen Moment, bis er plötzlich zu lächeln begann und die vor Begeisterung strahlenden Augen wieder öffnete. „Es funktioniert tatsächlich!“ In diesem Moment war Roland froh, dass Richard in seinem jungen Alter noch leicht zu beeinflussen und fantasievoll war, so dass dieser Ratschlag sofort den gewünschten Erfolg erzielt hatte. Maria wäre vor Besorgnis gestorben, wenn Richard tagelang hier draußen gesessen wäre. Roland stand wieder auf. „Also komm, lass uns gehen. Deine Mutter wartet schon auf uns – und deine Schwester auch.“ Bei der Erwähnung dieser beiden, sprang Richard auch sofort wieder auf seine Füße. „Dann sollten wir besser schnell gehen! Sonst weint Kathreen wieder!“ Roland nickte zustimmend, aber dennoch wandte sein Sohn sich noch einmal dem Grab zu. Er legte eine Hand auf sein Herz und neigte den Oberkörper leicht nach vorne. „Mach es gut, Calum.“ Dann folgte er Roland geradezu fröhlich zur Stadt zurück und selbst der Erwachsene und eigentlich Vernünftige der beiden glaubte in diesem Moment, den Umriss Calums zu sehen, der neben Richard herlief als wäre er nie wirklich fortgegangen. Viele Jahre später war Richard nicht mehr sonderlich von dieser Theorie seines Vaters überzeugt. Im Gegenteil sogar. Die Erinnerungen an die Verstorbenen – zu denen nun auch Kieran gehörte – waren schmerzhaft und stachen in seiner Brust statt ihn in warme, tröstende Umarmungen zu hüllen. Ungewöhnlich deprimiert saß er auf dem Sofa seines Wohnzimmers und starrte auf die Zeitung, die auf seinem Schoß lag, ohne auch nur zu registrieren, was überhaupt darin stand. Im Haus herrschte Stille, da Landis bei Nolan war, dabei war dies das erste Mal, dass Richard eine Ablenkung durch die beiden der Leere seiner Gedanken vorgezogen hätte. Es war diese Zeit seines Lebens, dieser Tag, an dem er wirklich zu schätzen lernte, wie wertvoll es war, jemanden an seiner Seite zu haben, statt aus Furcht vor weiteren Verlusten jeden von sich fernzuhalten. Asterea kam mit überraschend ernster Miene herein, setzte sich ungefragt neben ihn und reichte ihm eine Tasse mit Tee, die sie mit sich trug. Sie sagte nichts, was er nicht von ihr gewohnt war und obwohl er kurz zuvor noch dankbar für jede Art von Lärm gewesen wäre, war er nun froh, dass sie schwieg. Er nahm ihr die Tasse ab und bedankte sich mit einem knappen Nicken, dann sah er wieder auf die Zeitung hinab. Er nahm keinen Schluck aus der Tasse, sondern ließ sich lediglich von dem Inhalt wärmen, während er das Gefäß in den Händen hielt. Asterea schmiegte sich an ihn und so verbrachten sie beide den Rest des Tages damit stumm nach Trost zu suchen und schweigend diesen zu spenden und langsam – nur schleichend – hörten die Erinnerungen wieder auf zu stechen und kehrten mit den warmen Umarmungen zurück, die Richard bereits sein ganzes Leben begleitet hatten und es auch weiterhin tun würden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)