Abseits des Weges von Flordelis (Erinnerungen sind wie Fragmente) ================================================================================ Gefallener Stern ---------------- „So mies gelaunt heute?“ Die Stimme des Wachmanns riss den aus dem Fenster starrenden Richard aus seinen Gedanken. Müde wandte er den Kopf und brauchte einen Moment, um Grady zu erkennen, auch wenn sie bereits seit Jahren Kollegen waren. Das andauernde schlechte Wetter und sein Magenknurren verhinderten allerdings, dass er so einfach einen logischen Schluss ziehen konnte. Grady stemmte einen Arm in die Hüfte und grinste. „Was ist los? Hattest du eine wilde Nacht?“ Die anzüglichen Bemerkungen nervten Richard schon lange nicht mehr. Vielmehr störte es ihn, dass er dabei zu neugierig wurde und seine Nase in Dinge steckte, die ihn nichts angingen. „Nein, hatte ich nicht. Keine Ahnung, wo Asterea schon wieder Unheil stiftet, sie war heute Morgen nicht da – und deswegen gab es nichts zum Frühstück.“ Es lag ihm fern, seiner Frau die alleinige Verantwortung für seine Mahlzeiten zu geben, er hatte lange genug allein gelebt, um selbst zu kochen, aber nach so vielen Jahren war er es nicht mehr gewohnt, allein zu essen, weswegen er auf ein Frühstück verzichtet hatte. Grady runzelte sofort die Stirn. Die einzelne weiße Strähne in seinem ansonsten pechschwarzen Haar ließ einen glauben, dass er oft über grundlegende Dinge des Lebens nachdachte, aber Richard wusste genau, dass er sich die Haare färbte, um interessanter zu wirken – auf ihn wirkte es allerdings nur lächerlich und selbst Asterea hatte immer Probleme damit, sich das Lachen zu verkneifen, wann immer sie ihn sah. „Vielleicht betrügt sie dich ja“, gab Grady schließlich nachdenklich von sich. „Mach dich nicht lächerlich. Das wäre das Letzte, was sie tun würde.“ Asterea klammerte schon richtig an ihm, selbst nach fast zwanzig Ehejahren. Manchmal wachte er tatsächlich auf, nur um festzustellen, dass sie Arme und Beine um ihn geschlungen hatte als fürchtete sie, er würde nachts einfach aufstehen und verschwinden. Von all den Malen, wo sie ihn während der Nachtschicht auf der Wachstation besuchte und dort Stunden mit ihm zubrachte, selbst wenn er sie immer wieder darauf hinwies, dass es unnötig war und sie besser schlafen sollte, ganz zu schweigen. Wieder hatte er bei diesem Gedanken ihre Stimme im Kopf, die ihm lachend erwiderte, dass sie ohne ihn neben sich nicht schlafen könne. „Du bist ganz schön überzeugt von ihr“, bemerkte Grady. „Ich meine, wenn sie total hässlich wäre und kein anderer Mann hier Interesse an ihr hätte, würde ich das noch verstehen, aber bei Asterea? Ich wette mit dir, dass halb Cherrygrove auf sie steht.“ Richard rollte mit den Augen. „Du übertreibst völlig.“ Aber dass zumindest Grady wirklich etwas viel für sie übrig hatte, das war ihm bewusst. Nicht zuletzt, weil Asterea ihm einmal erzählt hatte, dass Grady versuchte, ihr den Hof zu machen – gut, sie hatte es nicht so ausgedrückt, weil sie offenbar nicht verstanden hatte, was dieser Mann von ihr wollte, ihre Naivität war manchmal geradezu zauberhaft, aber sie meinte, dass er versucht hätte, ihr unheimlich nahezukommen. Richard hatte darauf nicht weiter reagiert, ihr nur gesagt, sie solle sich vorsehen und beschlossen, Grady schärfer im Auge zu behalten. Sie waren Kollegen, aber das machte sie nicht zu Freunden, Richard vertraute ihm nur so lange wie er ihn vor sich sehen konnte. „Asterea würde sich nie auf einen anderen Mann einlassen“, setzte Richard dazu. „Also lass das endlich. Ich bin sicher, sie wird nur wieder irgendeinen Schwachsinn anstellen, wie üblich eben.“ Möglicherweise hatte sie spontan beschlossen, in den Bergen nach gefallenen Sternen zu suchen oder im Wald einen verletzten Wolf zu pflegen – er traute ihr alles zu, wenn es um so etwas ging. In all ihren Ehejahren und besonders seit Landis' Verschwinden, tat sie das auch mit schöner Regelmäßigkeit, nur um ein paar Stunden später wieder reumütig vor der Tür zu stehen. Nicht, dass er ihr je deswegen böse gewesen wäre, immerhin wusste er inzwischen, dass sie wieder zurückkam, egal wie lang es dauerte – im Gegensatz zu ihrem Sohn, der selbst nach zwei Jahren nicht den Weg nach Hause gefunden hatte. Was sie tat, wenn sie nicht da war, wusste er nicht. Aber schon seit Jahren begleitete ihn eine nagende Ahnung, vor der er sich hütete, sie auszusprechen. Es war nichts Schlimmes, nichts, was man im Verborgenen tun sollte und worüber man besser Stillschweigen bewahrte. Ihn befiel nur die irrationale Angst, dass sie sich in Staub – Sternenstaub, um genau zu sein – verwandeln würde, sobald er sie mit seinem Verdacht konfrontierte und diesen Zustand wollte er lieber vermeiden. Dieses Mal war es nicht Grady, der ihn aus seinen Gedanken riss, sondern ein Stadtbewohner, der die Tür zur Wachstation aufriss. Richard wollte ihn bereits zurechtweisen, dass man selbst bei einem Notfall nicht so hereinstürmen musste, doch das geschockte Gesicht des Mannes sorgte dafür, dass ihm die Worte im Hals steckenblieben. „Richard! Du musst unbedingt kommen! Es ist Asterea!“ Er stand bereits auf, ein äußerst ungutes, flaues Gefühl in seinem Magen, das ihm verriet, dass etwas ganz Furchtbares geschehen war. Dennoch versuchte er es zu überspielen, indem er schmunzelte. „Was hat sie diesmal angestellt? Hat sie 'nen Drachen angeschleppt?“ Er erwartete keine Antwort und auch kein Lachen, weswegen es ihn nicht weiter verwunderte, dass der Mann ihn einfach nur mit sich winkte und Grady ihnen folgte. Es war lange her, seit er zuletzt gesehen hatte, dass eine ganze Menge sich versammelte, das letzte Mal war der Grund Orianas Hochzeit gewesen und jeder hatte sich gefreut, gelacht und ihr lautstark gratuliert, sogar gesungen worden war für sie. Aber an diesem Tag waren alle still, viel zu still, keiner von ihnen lächelte oder schien auch nur in der Stimmung zu sein, irgendetwas anderes zu tun als wortlos den Kavalleristen anzustarren, der neben seinem Pferd stand, mit einer leblosen Person auf den Armen. Richards Schmunzeln erlosch augenblicklich, als er erst den Kavalleristen – es war Frediano – und dann die Person auf seinen Armen erkannte. Schlagartig schienen sämtliche Farben aus der Welt zu fließen und nur ein monochromes Bild zurückzulassen, vor dessen Hintergrund er wieder Astereas Stimme hörte, wie sie ihm irgendwas erzählte, was ihn nicht interessierte und dabei immer wieder lachte, da sie die Erzählung offenbar lustig fand. Ein Impuls riet ihm, sich umzudrehen und fortzulaufen, wie schon damals, als er vor all dem Leid und dem Tod weggelaufen und geradewegs in die Arme zweier Naturgeister geraten war. Eine von beiden – aber das konnte er damals noch nicht ahnen – sollte später seine Frau werden, die er trotz all seinen gegensätzlichen Worten mehr als alles andere auf der Welt liebte und die nun leblos in den Armen des Kavalleriekommandanten lag. „Asterea...“ Seine eigene Stimme hallte in seinem Inneren nur dumpf wider, dafür war die von Asterea so klar und deutlich als würde sie direkt neben ihm stehen. Wie betäubt ging er auf Frediano zu, dessen Gesicht gefestigt schien als ob er beschlossen hätte, in diesem Moment einfach für alle stark zu sein. Sein Körper streckte von allein die Arme aus, um ihm Asterea abzunehmen – nein! Er weigerte sich, dieses Wesen, das ihm so leicht schien und vollkommen reglos auf die Übergabe reagierte, als Asterea anzusehen! Sie konnte einfach nicht seine geliebte Frau sein, diese war bestimmt gerade irgendwo mal wieder in einer Höhle auf der Flucht vor einem Bären gestrandet oder saß auf einem Baum fest und wartete darauf, dass er vorbeikam, um sie zu retten. Das Wesen, das da nun in seinem Arm lag, sah nur so aus wie sie, ganz bestimmt würde sie später heimkehren und sie würden beide darüber lachen. Zumindest sagt er sich das selbst noch, als seine Knie plötzlich unter ihm nachgaben und er wie in Zeitlupe zu Boden sank, während er sie in seinem Kopf wieder lachen hörte. „Manchmal bist du unmöglich, Ardy.“ Asterea kam nicht zurück. Auch wenn es ihm schwerfiel, so blieb ihm nichts anderes als zu akzeptieren, dass dies eine unumstößliche Tatsache war, dass es sich nicht nur um einen schlechten Traum handelte, aus dem sie ihn mit Kaffee und Rührei wecken würde. Sie war fort und es gab keinerlei Aussicht darauf, sie jemals wieder irgendwo abzuholen, weil sie sich wegen ihres Gutmenschentum in Sackgassen verrannt hatte und nun auf seine Hilfe wartete. Das alles wurde ihm bewusst, während er immer noch auf dem Friedhof stand und ihr Grab anstarrte, auch wenn die Beerdigung schon... eine Weile her war. Er wusste nicht, wie lange, Zeit schien für ihn keine Bedeutung mehr zu haben, es könnten Minuten, Stunden oder auch schon Tage vergangen sein. Ihre Stimme in seinem Kopf war inzwischen verstummt, die Stille darin ließ ihn fast wahnsinnig werden, aber gleichzeitig wusste er, dass dies ein guter und wichtiger Schritt nach vorne war, auch wenn es ihn selbst bestürzte, dass es so schnell nach ihrem Tod geschah. Er wollte sie noch nicht loslassen, wollte nicht, dass sie zu einem Teil seiner Vergangenheit wurde, aber je mehr er versuchte, sich an sie zu klammern desto schneller zerrann die Erinnerung an sie wie Sand, Sternensand, zwischen seinen Fingern. Was geschehen war, wusste er nicht und er wollte es auch gar nicht wissen, wenn er ehrlich war. Aber etwas tief in seinem Inneren ahnte, dass es etwas mit Landis zu tun hatte und Nolan hatte ihm das später sogar indirekt bestätigt. Auf Richards Frage, ob sein Sohn wohl bald wieder heimkehren würde, wenn er hiervon erfuhr, war Nolans Antwort ein einziges, bedrücktes Kopfschütteln gewesen. Das allein reichte Richard, um ihm zu verraten, dass dieses Ereignis im Zusammenhang mit Landis stand, der immer noch lebte – und mehr wollte er auch gar nicht wissen. Er befürchtete, seinen eigenen Sohn zu hassen, wenn er erfahren würde, welche dumme Aktion von ihm zu diesem Ergebnis geführt hatte. Stattdessen wollte er ihn lieber mit offenen Armen willkommen heißen, wenn er zurückkehren würde... falls er zurückkehren würde. „Genau so, wie du es dir gewünscht hättest, Asterea...“ Er lachte humorlos, als er bemerkte, dass er tatsächlich mit ihrem Grabstein sprach. Etwas, was er eigentlich nie hatte tun wollen, weil es ihm schon immer lächerlich vorgekommen war. Schließlich wandte er sich ab, um den Friedhof zu verlassen und nach Hause zurückzukehren. Es wurde langsam Zeit, dass er sich darum kümmerte, wie es nun weiterging... aber erst nachdem er wieder ausgiebig geschlafen und von Asterea geträumt hatte, waren seine Träume doch nun das einzige in seinem Leben, was mit Farbe gefüllt war. Seit Astereas Todestag war für ihn alles grau – und zu diesem Zeitpunkt wusste er noch nicht, dass dieser Zustand auch noch viele Jahre anhalten würde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)