Abseits des Weges von Flordelis (Erinnerungen sind wie Fragmente) ================================================================================ Gespräche über Gott und die Welt -------------------------------- Blond. Die Strähnen waren blond. Genervt pustete Landis sie aus seinem Blickfeld, doch sie fielen sofort wieder in ihre alte Position zurück. Wenigstens hatte es nur einige Strähnen erwischt, Yarahs Plan waren ursprünglich sein ganzes Haar gewesen. Aber warum musste es unbedingt blond sein? Seine Mutter war blond gewesen, ja, aber es war nie sein Wunsch gewesen, ihr nachzueifern. Braune Haare waren, zumindest in seinen Augen, doch so viel besser, besonders wenn es darum ging, was ihm stand und was nicht. Außerdem nahm er es der Puppenspielerin nicht ab, dass sie ihn damit nur verfremden wollte, damit man ihn nicht erkennt. Stattdessen war er sich sicher, dass er nur als Versuchskaninchen missbraucht worden war. So ganz traute er ihren seltsamen Experimenten nicht, aber er konnte ihr das auch nicht sagen. Sie behauptete zwar immer, dass er die wichtigste Person bei Sicarius Vita war, aber wenn das so war, warum nutzte sie ihn dann als Versuchsobjekt? Und warum schickte sie ihn nach Monerki in dieses seltsame Dorf? Auch wenn er zugeben musste, dass es äußerst hübsch und friedlich war. Die ruhige Atmosphäre, die über allem lag, war Balsam für seine Seele. In Old Kinging gab es jeden Tag wegen irgendetwas Stress, das war wohl der Nachteil, wenn man mit so vielen Frauen und Mädchen zusammenwohnte. Früher hatte Landis geglaubt, Hahn im Korb zu sein wäre der ideale Zustand, aber inzwischen wusste er, dass es mehr negative als positive Seiten gab. Aber hier in Germe konnte er ausatmen und sich entspannen ohne fürchten zu müssen, dass im nächsten Moment wieder ein Kreischen aus irgendeiner Ecke erklingen würde. So verbrachte er seit seiner Ankunft seine Zeit auf einer Bank an einem Fluss, dessen Quelle er nicht sehen konnte. Aber wen interessierte schon eine Quelle? Das Gesicht gen Sonne gerichtet, hielt er die Augen geschlossen, um die wärmenden Strahlen zu genießen. Wieviel Zeit vergangen war, wusste er nicht, aber plötzlich spürte er, wie sich ihm jemand näherte. Er öffnete seine Augen, als er ein leises Klicken hörte und wurde von einem hellen Lichtstrahl geblendet. Erschrocken zuckte er zusammen. Als die flimmernden Punkten vor seinen Augen wieder verschwanden, konnte er endlich wieder etwas erkennen. Ein junges Mädchen stand vor ihm, einen seltsamen grauen Apparat in der Hand. Landis konnte sich nicht erinnern, so etwas schon einmal gesehen zu haben, aber der Blitz war eindeutig davon gekommen. Das Mädchen kicherte leise. „Toll, was? Den hab ich gefunden. Al sagt, er kommt von drüben.“ Landis neigte den Kopf. So wie sie das sagte und dieser Apparat aussah, konnte er aus keinem ihm bekannten Land sein. So wie sie das „drüben“ betonte, musste es sogar eine andere Welt sein. Seine Mutter hatte ihm oft davon erzählt, dass es neben dieser auch noch mindestens eine andere Welt gab, die allerdings nicht betretbar war. Es war das Reich der Dämonen, das allerdings sorgsam von Naturgeistern versiegelt worden war. Bislang war es ihm allerdings schwer gefallen, das alles zu glauben, trotz all der Geschichten über diese Welt, die Asterea zu erzählen gewusst hatte. Es war einfach alles zu... seltsam und seine Mutter war stets für ihre lebhafte Fantasie bekannt gewesen – außerdem hatte er damals nicht gewusst, dass sie ein Naturgeist war, aber selbst heute erschien ihm alles wie ein Märchen. Künstliche Lichter, die nachts die Straßen erhellten, Türen, die sich von selbst öffneten und kleine Räume, die selbstständig Stockwerke wechselten... Wenn er so darüber nachdachte... nein, auch dieser Apparat überzeugte ihn nicht von der Existenz des Dämonenreich. Vielleicht stammte es auch von einem exzentrischen Wissenschaftler dieser Welt, von denen gab es immerhin auch hier genug. Wer brauchte da schon andere Welten? „Und?“, hakte Landis nach. „Glaubst du, dass er von drüben kommt?“ Sie nickte heftig, ihr rotblondes Haar flog dabei durch die Gegend. „Wenn Al das sagt, dann wird es auch so sein.“ Er kam nicht umhin, sich zu fragen, wer dieser Al wo war – oder diese. Die Antwort bekam er allerdings, ohne die Frage laut zu stellen. Ein lautes Poltern lenkte seine Aufmerksamkeit auf eine leise jammernde Gestalt, die auf dem Boden lag, umgeben von mehreren Büchern. Das Mädchen setzte einen mitleidigen Gesichtsausdruck auf. „Oh, Al~ Tut mir Leid~“ Die Person richtete sich auf und schob seine Brille zurück. Er seufzte leise, bevor er seine honigfarbenen Augen öffnete. „Ich dachte, du wolltest mir helfen, Rose.“ „Ja~“, sagte das Mädchen ausweichend. „Aber dann habe ich das hier gefunden.“ Sie wedelte mit dem Apparat, mit dem sie Landis auch überrascht hatte. Al schüttelte seufzend mit dem Kopf. „Deine Aufmerksamkeitsspanne ist geringer als die eines Kaninchens.“ „Owww~ Das war gemein~“ Landis lachte leise, Al sah zu ihm hinüber. „Ah, tut mir Leid. Mir war gar nicht aufgefallen, dass du dich mit jemandem unterhältst, Rose.“ Al musterte seinen Gegenüber eine Weile, bevor er einen Mundwinkel nach oben zog. Landis fürchtete für einen Moment, doch als Mitglied von Sicarius Vita erkannt worden zu sein, obwohl er nicht einmal wusste, ob man die Gruppe hier überhaupt kannte. Doch als er weitersprach, entspannte der junge Mann sich wieder: „Es ist lange her, seit wir hier einen Besucher hatten. Ich hoffe, Rose machte keinen Ärger.“ Lächelnd schüttelte Landis mit dem Kopf. „Keine Sorge.“ – Er verzichtete darauf, zu erwähnen, dass sie ihn mit diesem Blitz geblendet hatte – „Ich bin Landis.“ Sein Gegenüber sah ihn erst erstaunt an, offenbar war er es nicht gewohnt, dass man sich ihm einfach so vorstellte. Doch er fasste sich schnell wieder und lächelte leicht. Es war nur ein knappes Hochziehen der Mundwinkel, das man kaum wirklich als Lächeln bezeichnen konnte, aber für den friedlichen Landis wirkte es doppelt so intensiv. „Mein Name ist Alphons. Das hier ist Rose.“ Er deutete zu dem Mädchen hinüber, das inzwischen tatsächlich seine Aufmerksamkeit etwas anderem zugewandt hatte. Alphons seufzte. „Sage ich doch: Eine geringere Aufmerksamkeitsspanne als ein Kaninchen.“ Fahrig ging er sich mit einer Hand durch das lange grüne Haar, bemerkte, dass es nicht mehr richtig saß und machte sich daran, seinen Pferdeschwanz zu richten. Landis kam nicht umhin, bei dieser Haarfarbe an Vita zu denken. Aber der Gedanke, dass dieser junge Mann möglicherweise ein Sohn der Sylphe sein könnte, kam ihm doch zu abwegig vor. Außerdem wäre sie dann doch menschlich geworden, oder? Und das war sie definitiv nicht. Schließlich fiel Alphons wieder auf, dass die Bücher alle noch auf dem Boden lagen. Leise klagend kniete er sich hin, um sie aufzuheben. Landis zögerte nicht lange und half ihm dabei. Der junge Mann bedankte sich seufzend, allgemein schien er leicht genervt zu sein, aber Landis' Menschenkenntnis sagte ihm, dass das wohl ein Standardzustand bei ihm war. „Wie kommt es, dass es hier so wenig Besucher gibt?“, fragte er neugierig. Es war ein so wundervolles und friedliches Dorf, dass es Landis schwerfiel, sich vorzustellen, dass es hier wirklich so wenige Besucher gab. Zwei Tage Entspannung hier waren sicherlich effektiver, als zwei Wochen im eigenen Heim. In Király gab es weit und breit kein solches Dorf. Alphons hob ratlos die Schultern. „Das wundert mich auch. Besonders da wir das einzige Wohngebiet in Monerki sind, das eine Verbindung zu einer anderen Welt aufweisen kann.“ Mit Mühe konnte Landis ein Lachen unterdrücken, doch Alphons fiel es dennoch auf: „Ah, du glaubst nicht an so etwas?“ „Kein Stück“, bestätigte er. „Es klingt einfach zu... äh, seltsam.“ „Das denken wohl viele, die es nie selbst gesehen haben.“ Die Frage, ob er es denn sehen dürfe, lag Landis auf der Zunge, doch er sprach sie nicht aus. Sein Zweifel sagte ihm, dass er gar keinen Beweis sehen wollte, aber seine Neugier wollte das genaue Gegenteil. „Vielleicht solltest du es sehen“, schlug Alphons vor. „Ich könnte es dir nachher zeigen, als Dank für deine Hilfe hier.“ „Sehr gern~“ Die Neugierde jubilierte innerlich, während der Zweifel sich schmollend in eine Ecke zurückzog, immer noch darauf bestehend, dass es keinen vernünftigen Beweis geben würde. Ein besonders dickes Buch erregte Landis' Aufmerksamkeit. Neugierig sah er es sich genauer an. „Die Schriften von Kreios? Wer ist Kreios?“ „Du kommst nicht aus Monerki, oder?“, erwiderte Alphons mit einer Gegenfrage. Landis schüttelte mit dem Kopf. „Nein, ich bin in Király aufgewachsen.“ „Mhm, kein Wunder.“ Alphons schnalze mit der Zunge. „Soweit ich weiß, wird dort nur der Glauben an die Naturgeister gelehrt. Diese wurden damals von Kreios erschaffen, um ihm bei der Erstellung dieser Welt zu unterstützen.“ Das war neu für Landis, obwohl seine Mutter ein Naturgeist gewesen war. Yarah und Aurora hatten ihm auch nie etwas von Kreios erzählt. Gab es einen Grund, warum sie ihn verschwiegen? „Doch als der Glauben an ihn schwand, wandte Kreios sich gegen die Menschen“, fuhr Alphons fort. „Und damit brachte er die Naturgeister, seine eigenen Diener, gegen sich auf.“ Möglicherweise redete deswegen keiner von ihnen über diesen Mann. „Sie sperrten seine Seele in einen Kristall – und seitdem ist der Glaube an die Naturgeister verbreitet, während der an Kreios langsam verschwindet.“ Das war ein eindeutiger Grund, warum keine von ihnen über ihn redete. Sicherlich dachten sie nicht so gern an diese Zeit zurück. Gegen ihren eigenen Herrn und Schöpfer vorzugehen musste ihnen allen wie der größte Verrat vorgekommen sein. Ob das die ominöse Tat von Vita war, über die weder Yarah noch Aurora sprechen wollten? „Du weißt ziemlich viel darüber“, sagte Landis anerkennend. Alphons schenkte ihm ein kurzes, echtes Lächeln, bevor sein Gesichtsausdruck wieder zu den verzogenen Mundwinkeln zurückkehrte. „Das liegt in der Natur der Sache. Ich studiere die Geschichte dieser Welt.“ „Und so ziemlich alles andere, was es gibt.“ Rose wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Gespräch zu. „Al erforscht alles und jeden. Im Moment macht er das auch bestimmt mit dir.“ Landis schmunzelte. „Da wird er nicht viel zu forschen haben.“ „Das denkst du“, sagte sie altklug. „Er kann mehr in deinem Gesicht sehen, als du selbst von dir weißt.“ Bevor er ihre Worte wirklich verarbeitet hatte und sich Sorgen machen konnte, schüttelte Alphons seufzend den Kopf. „Übertreib doch nicht, Rose. Ich weiß ein wenig über Mimik, aber nicht genug, um völlig Fremde vollständig einschätzen zu können.“ Sie öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber er schnitt ihr das Wort ab: „Deine Aktionen stehen dir stets in leuchtenden Lettern auf die Stirn geschrieben, dafür muss man nichts lernen.“ Schmollend schloss sie ihren Mund wieder, doch nach ein paar Sekunden öffnete sie ihn erneut, um etwas zu fragen und gleichzeitig das Thema zu wechseln: „Al, wie kann ich die Bilder ansehen?“ „Bilder?“, fragte Landis neugierig. Alphons hob das letzte Buch hoch und stand auf, genau wie er. Bevor der Gelehrte antwortete, setzte er sich in Bewegung und bedeutete Landis, ihm zu folgen, was dieser auch gleich tat. Rose folgte den beiden Männern eilig. „Der Apparat“, begann Alphons, „den Rose mit sich herumträgt, wird in seiner Herkunftswelt als Kamera bezeichnet.“ Chamära?, überlegte Landis. Was für ein seltsamer Name... „Ihr Zweck ist es, mittels bestimmter Techniken Bilder anzufertigen.“ „Wie ein Maler?“, hakte Rose nach, der es ein wenig schwerfiel, mit den beiden Schritt zu halten. Alphons lief ein wenig langsamer, damit sie nicht mehr rennen musste. „So in etwa. Du brauchst jemanden, der das Bild entwickeln kann.“ „Entwickeln?“, kam es unisono aus den Mündern von Landis und Rose. Der Gelehrte seufzte erneut, aber diesmal klang es äußerst amüsiert. „Das ist zu kompliziert, um es zu erklären. Jedenfalls kannst du das nicht ohne Weiteres hier tun.“ Enttäuscht ließ Rose den Kopf hängen, doch schon im nächsten Moment besserte sich ihre Laune wieder und sie begann erneut, den Apparat zu benutzen, als ob es die Erklärung eben nicht gegeben hätte. Landis neigte den Kopf. „Du studierst also diese Welt, aber über die andere scheinst du auch einiges zu wissen.“ Alphons nickte zögernd. „Das stimmt nicht ganz. Über die meisten Dinge weiß ich nicht Bescheid, diese technischen Spielereien sind nur mein Steckenpferd.“ „Ah, verstehe~“ Landis hatte noch nie jemanden getroffen, der sich für so etwas interessierte, weswegen er auch nicht wusste, was er dazu sagen sollte. Ihm selbst war das alles zu fremd, aber seine Neugierde auf dieses Tor wurde immer stärker. Alphons führte ihn in das größte Haus des Dorfes, das als Bibliothek zu dienen schien. Regale voller Bücher, auch wenn in einigen Lücken waren, reihten sich an den Wänden entlang, eine Leiter lehnte an einem dieser Möbelstücke. In Cherrygrove gab es ebenfalls eine Bibliothek, genau wie in Old Kinging – Landis hatte allerdings noch keine von beiden besucht, weswegen er staunend all die Bücher betrachtete. Es schien ihm fast, als wären das alle, die es in der Welt gab, allein der Gedanke, dass noch viel mehr existierten, sorgte dafür, dass sich alles um ihn herum drehte. Landis stellte die Bücher auf einem Tisch ab und machte eine ausholende Handbewegung, die alle Regale mit einschloss: „Hast du die alle gelesen?“ Alphons lachte amüsiert. „Nein, dafür sind es zu viele. Aber einen Teil davon.“ Er deutete auf das Regal, das am Entferntesten stand. Es war auch das einzige, in dem keine Bücher fehlten, alles lückenlos geschlossen war. Allerdings waren die Ausgaben deutlich sichtbar eingestaubt, während die anderen fast schon peinlich genau gepflegt wirkten. Doch selbst das eine Regal war so riesig, dass Landis sich plötzlich klein und dumm fühlte. Wenn er wieder in Old Kinging wäre, würde er auch mehr lesen, beschloss er innerlich. Bislang war er nicht sonderlich begeistert gewesen von dem Gedanken ans Lesen, aber Alphons' nicht zu dick aufgetragene Belesenheit, gefiel ihm äußerst gut. So ähnlich wollte er auch sein, auch wenn er dafür erst selbst lesen musste. Die Zeit dafür besaß er ja im Überfluss. Alphons bedankte sich noch einmal bei ihm. „Ich wäre froh, wenn ich öfter Hilfe hätte.“ „Rose scheint wohl nicht so zuverlässig zu sein.“ Automatisch sahen beide zu dem Mädchen hinüber, das ihnen den ganzen Weg gefolgt war und nun neugierig die ganzen Bücher betrachtete, als wäre es das erste Mal. „Sie ist ein gutes Mädchen“, sagte Alphons schließlich. „Aber auch noch sehr jung, es ist natürlich, dass sie andere Dinge im Kopf hat, als jemandem wie mir zu helfen.“ Die Art, wie er über sich selbst sprach und dabei sein Gesicht verzog, verriet, dass er eine äußerst unangenehme Stellung im Dorf innehatte, warum auch immer. Den einzigen Außenseiter, den Landis kannte, war Frediano, aber dessen ekelhaftes, arrogantes Verhalten gegenüber anderen war der eindeutige Grund dafür. Alphons dagegen schien ihm zwar ein wenig eigen, aber nicht auf eine derart schlimme Art und Weise. Allerdings wusste Landis natürlich nicht, wie die anderen sich im Dorf untereinander verhielten, so konnte er also nicht sagen, woran es lag. „Ich werde mich später um die Bücher kümmern, willst du jetzt das Tor sehen?“ Landis nickte lächelnd. „Ja, bitte.“ Sie verließen die Bibliothek wieder, gemeinsam mit Rose, die sich ihnen ohne jede Aufforderung anschloss. Alphons kommentierte es nicht, er schien das gewohnt zu sein. Landis schmunzelte, als er das Mädchen gedanklich mit einem Hund verglich, der einem auf Schritt und Tritt folgte. Die Gruppe lief zu einer Felswand, die sich am Rand des Dorfes befand. Sie gehörte zu einer Bergkette, an die sich die Siedlung schmiegte, aber das Gestein war nicht schroff, die Wand fiel glatt ab, als ob sie so lange bearbeitet worden wäre, bis keine Unebenheit mehr zu sehen gewesen war. Das Wasser des Flusses lief aus einer großen blitzförmigen Öffnung mitten im Fels, die groß genug zu sein schien, um Menschen einzulassen. Landis' Aufregung wuchs, während sie darauf zugingen und erreichte einen Höhepunkt, als er das Innere des Berges betrat. Sonnenstrahlen fielen durch mehrere, kaum sichtbare Löcher hoch über ihnen und beleuchtete die Höhle so notdürftig. Es war nicht genug, um Details zu erkennen, aber ausreichend, um alles Wichtige zu sehen. Wasser fiel von vier höher gelegenen Plattformen, sammelte sich auf dem Boden und wurde zu dem Fluss, der sich durch das Dorf bahnte. Doch das Wichtigste war etwas, das sich direkt gegenüber des Eingangs befand: Es war eine ovale Öffnung, farbiger Nebel waberte darin, übte damit einerseits eine anziehende Faszination aus, die aber zumindest Landis zurückschrecken ließ. Etwas Fremdes, das ein derart positives Gefühl vermittelte, ließ ihn immer vorsichtig werden – die letzte exotische Frucht hatte ihm immerhin starke Übelkeit beschert und damals war es dieselbe Anziehung gewesen. Rose, die den Anblick schon gewöhnt war, deutete auf die Fläche direkt vor dem Portal. „Hier liegen manchmal Sachen von drüben.“ Landis stellte sich vor, wie sie jeden Tag vorbeikam, um wieder etwas aus dieser anderen Welt zu finden und damit zu Alphons zu gehen, damit dieser ihr erklärte, was es damit auf sich hatte. Wäre er in diesem Dorf zu Hause, würde er das genauso machen. Im Moment war allerdings nichts zu sehen. „Darf man es anfassen?“, fragte Landis zögernd. Alphons hob die Schultern. „Es gehört keinem von uns. Ich selber würde davon abraten, aber ich gelte ohnehin nicht als sonderlich heldenhaft.“ Das erinnerte Landis daran, dass er früher gern ein Held gewesen wäre. Es war sein Traum gewesen, den er mit Nolan geteilt hatte. Viel daraus geworden war nicht... aber immerhin könnte er nun den Mut dafür gebrauchen. Er trat auf das Portal zu und streckte langsam die Hand aus. Sein ganzer Körper zitterte, nicht vor Aufregung oder Nervosität, sondern weil da dieses Gefühl war, dass etwas jenseits des Tors versuchte, ihn abzustoßen. Etwas Bösartiges, das ihn nicht bei sich haben wollte. Ein tiefes Grollen erklang. Aus den Augenwinkeln bemerkte Landis, dass es auch Alphons und Rose auffiel, die sich ebenfalls umzusehen begannen. Offenbar war es auch für die beiden neu. Mit aller Kraft schaffte er es schließlich, den Nebel zu berühren. Schmerzen zuckten durch seinen Körper, Blitze erschienen vor seinen Augen, abwechselnd mit seltsamen Bildern, die er allerdings immer nur für Bruchteile von Sekunden sehen konnte und kaum waren sie fort, waren sie bereits aus seinem Gedächtnis verschwunden. Zuletzt kam noch ein letzter, besonders greller Blitz, dann hörte er sich selbst schreien und im nächsten Moment spürte er einen dumpfen Schmerz in seiner Hüfte. Als Landis wieder vollends zu sich kam und auch seine Umgebung wieder wahrnehmen konnte, bemerkte er, dass er auf dem Boden lag. Alphons und Rose waren über ihn gebeugt, beide blickten ihn besorgt an. „Ich sagte doch, ich würde es nicht tun.“ „Ich lebe ja noch“, erklärte Landis mit gebrochener Stimme. „Mir tut nur alles weh.“ Alphons nickte, offenbar zufrieden und im nächsten Moment erfuhr Landis auch direkt, warum. Der Gelehrte wandte sich an Rose. „Siehst du? Darum solltest du das Portal nicht anfassen.“ Offenbar hatte er es ihr bereits öfter verboten und diese Reaktion von eben erfüllte nur seine Befürchtungen. Das Mädchen nickte heftig, deutlich beeindruckt von der Präsentation. Vorsichtig richtete Landis sich wieder auf. Sein Körper schmerzte, besonders sein Kopf, als er versuchte, sich die Bilder von eben wieder in Erinnerung zu rufen. Offenbar waren sie aber aus seinem Gedächtnis verbannt worden, nur das Gefühl der Verwirrung, dass sie in ihm ausgelöst hatten, war geblieben. „Warum stößt mich dieses Portal ab?“, fragte er in einem jammernden Tonfall. Er war doch der Sohn eines Naturgeists, warum konnte er es dann nicht öffnen? Alphons blickte wieder zu dem Nebel, der friedlich vor sich hinwaberte. „Warum willst du denn durchgehen? Du glaubst doch ohnehin nicht daran.“ Der trockene Sarkasmus störte Landis weitaus weniger, als der triefende, den andere an den Tag legten – selbst wenn er manchmal zu jener Gruppe gehörte. „Wenn man es mal selbst gesehen hat, fällt es schwer, nicht mehr zu glauben“, antwortete Landis. „Genau wie ich dachte.“ Alphons zog seine Mundwinkel wieder ein wenig nach oben. Sein Gegenüber erwiderte es mit einem richtigen Lächeln, bevor er selbst wieder zum Portal sah. Die Geschichten seiner Mutter waren also tatsächlich immer wahr gewesen, auch wenn er es nie hatte glauben wollen. Er selbst besaß allerdings nicht die Fähigkeit, hindurchzugehen, wenngleich er nicht wusste, ob er das gut oder schlecht finden sollte. Enttäuscht war er allerdings nicht. Selbst diese Welt bot noch unzählige Geheimnisse, er musste nicht erst eine andere erforschen, um Dinge zu entdecken. War dieses Portal für Yarah ein Grund gewesen, ihn herzuschicken? Wollte sie, dass er so eines zumindest einmal in seinem Leben gesehen hatte? Oder war da noch mehr? Zumindest an diesem Tag würde er das nicht mehr herausfinden, also konnte er seine Zeit nun vernünftiger verbringen – zum Beispiel, indem er seine neue Bekanntschaften ein wenig vertiefte, was für ihn ein viel besserer Grund war, in eine abgelegene Gegend wie diese zu kommen. So verließ die kleine Gruppe die Höhle wieder, um gemeinsam zu essen und fast schon unmerklich zu Freunden zu werden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)