Zwischenwelten von Arle (- Sidestory I -) ================================================================================ Kapitel 1: ----------- So sehr er sich auch zu erinnern versuchte, es wollte ihm nicht gelingen. Es war, als habe man die Ereignisse der letzten Stunden aus seinem Kopf herausgesogen. Oder gelöscht. Das machte ihm Angst. Er fürchtete sich vor dem Vergessen. Was nützte die Ewigkeit, wenn sie wie ein Neuanfang war? Den Tod fürchtete er nicht – er war sein ständiger Begleiter. Tag für Tag, Nacht für Nacht riss er Menschen in den Tod. Er wusste wie er sich anfühlte. Und er war überzeugt davon, dass eines Tages auch für ihn der Moment kommen würde, in dem sein unsterbliches Leben endete. So etwas wie Unsterblichkeit gab es nicht – niemand wusste das besser als er. Was hatten sie mit ihm gemacht? Er ließ seine Finger in kreisenden Bewegungen über seine Schläfen wandern, so als könne er dadurch die Erinnerungen an die letzten Stunden heraufbeschwören. Aber sie waren wie ausgelöscht. Er suchte seinen Körper nach Spuren ab, fand aber keinen einzigen Tropfen Blut. Nirgendwo. Also hatte er offenbar niemandem Gewalt angetan. Ihm selbst war in dieser Hinsicht nichts geschehen, das hätte er gespürt. Er sah sich um. Es war sein Zimmer, zweifellos. Und doch kam es ihm seltsam fremd vor. Er konnte nicht sagen woran das lag, dabei war es so offensichtlich, wie ihm nur einen Moment später bewusst wurde. Man hatte ihn hierher gebracht. Irgendein Fremder, vielleicht mehrere, hatten sein Heiligstes betreten. Erstaunlicher Weise erschreckte ihn der Gedanke nicht. Er empfand Widerwillen, einen Anflug von Ekel, aber es schreckte ihn nicht. „Wieder wach?“ Der menschlichste Teil in ihm schrie vor Angst auf – nach außen hin verzog er keine Miene. Er konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf die in der Dunkelheit unsichtbare Gestalt. „Aeneas“, er erkannte seine eigene Stimme kaum wieder. Aus der Finsternis drang ein Kichern an sein Ohr. „Oh bitte, nicht DIESER uralte Name. Ich bitte dich Shirasagi. Was hatte ich dir gesagt? Wie sollst du mich nennen?“ „Ariel.“ Wieder lachte der Andere leise. „So wie du es aussprichst, klingt es wie Waschmittel. Sprich es weicher. Beton das -iel, so wie du es bei den Engeln tust.“ „Ich spreche nicht mit Engeln“, erwiderte er ungewöhnlich gereizt und starrte feindselig zu ihm hinüber. Doch wieder lachte Ariel nur. Ein sanftes, sympathisches Lachen. Eine tiefe, angenehme Stimme. Aber er wollte trotzdem nicht, dass ihn der Andere auf diese Weise in seinen Gemächern überfiel. Als ihm bewusst wurde, dass er mehr gegen den Ort beziehungsweise die Situation einzuwenden hatte, als dagegen, dass Ariel tatsächlich über ihn herfiel, färbten sich seine Wangen rot. Und natürlich blieb die Reaktion nicht aus. „Woran denkst du?“ Es klang interessiert - und amüsiert. Wie üblich hatte er für den Anderen einen ungemein großen Unterhaltungswert. Eine Vorstellung, die ihn nicht gerade mit Stolz erfüllte. „Warum bist du hier?“, fragte Shirasagi und ließ ihn dabei sehr bewusst seinen Unmut spüren. Ariel schien das jedoch als Grund nicht ausreichend zu sein, um sich deshalb um ein wenig mehr Ernsthaftigkeit zu bemühen. „Ich? Oh, ich wollte dein Schlafzimmer schon immer mal von innen sehen.“ Der Witz war zu platt, als dass Shirasagi darüber hätte lachen können. Und er wurde nicht einmal rot dabei. Ariel sah ihn an und ein bezauberndes Lächeln lag auf seinen Lippen. Ein schwindendes Lächeln, das mehr und mehr einem ernsteren Gesichtsausdruck wich. Dennoch lag in seinem Blick eine Verträumtheit, die nicht recht zu seinen Worten passen wollte. „Weißt du was in den letzten Stunden geschehen ist? Kannst du dich daran erinnern?“ Er kannte die Antwort schon, dessen war Shirasagi sich sicher. „Nein“, antwortete er, ohne seinem Gegenüber die Freude zu gönnen sich erschreckt zu zeigen oder beschämt den Blick abzuwenden. Tatsächlich hätte er es liebend gern getan. Ariel musterte ihn aufmerksam, dann schüttelte er seufzend den Kopf und kam zu ihm herüber. „Hast du mich hierher gebracht?“, fragte er den Älteren und zog sich vor ihm zurück. Er war angespannt, doch der Braunhaarige überging die Offensichtlichkeit dieses Umstandes. „Nein.“ Er kniete sich mit einem Bein auf das Bett, seine rechte Hand ruhte stützend auf den Laken, während er die linke nach dem Gesicht des Jüngeren ausstreckte. Seine grünen Augen funkelten. „Und allein der Gedanke daran macht mich rasend.“ Lange sahen sie einander an, wich keiner dem Blick des anderen aus. Dann beugte sich der grünäugige Vampir vor und küsste ihn. Shirasagi leistete keinen Widerstand als die noch immer fremden Lippen die seinen berührten. Bilder flackerten in seinem Inneren auf. Ein riesiger Saal, ein magischer Zirkel, ein Beschwörungsritual, der Geist einer uralten Bestie, der direkt auf ihn zustürzte. Kälte, Finsternis. Er spürte wie der Andere sich von ihm löste und öffnete die Augen. Ariels Blick war schwer zu deuten, doch in seiner Stimme klang ein Hauch von Resignation mit. „Du solltest nicht mehr an diesen Séancen teilnehmen.“ „Woher hast du diese Bilder?“, schleuderte er ihm statt einer Antwort entgegen, sein Gesicht voller Misstrauen. Doch eigentlich war die Frage die er stellen wollte eine andere. Warst du dabei? Ariel sah ihn ruhig und ernst an. Und wieder verließ ein leises Seufzen seine Lippen. „Ich beschwöre sie aus deinen Erinnerungen herauf, das ist alles.“ Der Ältere sah aus, als habe er ihm geradewegs ins Gesicht gesagt, dass er ihm nicht vertraute. Und vielleicht hatte er das, ungewollt, auch getan. Schuldbewusst senkte Shirasagi den Blick. „Es tut mir leid“, sagte er und empfand ehrliches Bedauern. Doch die Hand, die sich für einen viel zu langen Moment von ihm gelöst hatte, wurde nur noch sanfter, berührte zärtlich die seine. „Soll dein Vater doch Bestien beschwören soviel er will. Aber lass dich von ihm nicht dafür einspannen.“ Er lächelte matt. „Du weißt, dass das nicht geht.“ Schweigen. Unerträgliche Stille. Shirasagis Hände verkrampften sich, gruben sich in die Decken. Er verspürte keinen Hunger, doch seine Kehle fühlte sich mit einem Mal wie ausgedörrt an. „Warum bist du hier?“, fragte er schließlich. In seinen empfindlichen Ohren hörte sich seine eigene Stimme kratzig an. Ariel sah ihn an. Seine grünen Augen leuchteten im Dunkel wie die einer Katze. „Ist das nicht offensichtlich?“ Obwohl er sie nur geflüstert hatte, schienen ihm die Worte unnatürlich laut. Ohne dass er wusste warum, wurde er nervös, spannten sich seine Muskeln, als müssten sie einen Kampf vorbereiten – oder eine Flucht. „Nein ist es nicht! Warum sollte es?“ Seine Antwort fiel weitaus heftiger aus als er beabsichtigt hatte und zeigte seine innere Unruhe noch viel deutlicher, anstatt sie gekonnt zu überspielen. Doch der Braunhaarige blieb vollkommen ruhig. Als er sich schließlich bewegte, tat er es unglaublich langsam. Als wolle er sichergehen, dass er es auch ganz bestimmt bemerkte und nicht erschrak oder gar mit einem Angriff darauf reagierte. Keiner von ihnen ließ den anderen auch nur einen Moment aus den Augen. „Wenn du es unbedingt hören willst“, sagte er leise und drückte den Jüngeren sanft auf das Bett nieder, „dann sage ich es dir.“ Ariels Augen leuchteten in der Finsternis. Diese wunderschönen grünen Augen leuchteten ihm entgegen und als er ihm die Worte sagte, die er so sehr zu hören gehofft hatte, drohte sein heftig pochendes Herz nun gänzlich aus dem Takt zu geraten. „Ich bin deinetwegen hier.“ Shirasagi bedauerte in diesem Moment die Fähigkeit der Vampire, auch bei Nacht, gerade bei Nacht, außerordentlich gut sehen zu können. Ariel hätte sein hochrotes Gesicht nicht unbedingt sehen müssen, doch er vermochte es auch nicht, sich von ihm abzuwenden. Der Blick des Anderen hielt ihn gefangen. Und kaum dass die leichte Überraschung, ob der heftigen Reaktion, aus seinen Augen gewichen war, zeigten sie ihm eine so tiefe Zuneigung, dass ihm der Atem stockte. Nie zuvor war sein Blick so intensiv, so voller Liebe gewesen. „Du...“, begann Shirasagi vorsichtig, „wolltest mich sehen?“ Ariel lächelte, doch etwas an seinem Gesichtsausdruck hatte sich verändert. Etwas, das einen Hauch von Bedrohlichkeit ausstrahlte, ohne dass der Jüngere auch nur im Entferntesten das Gefühl gehabt hätte, der Andere könne ihm schaden wollen. Shirasagi sah zu ihm auf. Obwohl sie einander so nahe waren, berührten sich ihre Körper nicht. Nicht an einer einzigen Stelle. Der Braunhaarige beugte sich zu ihm herab. „Ja“, flüsterte er, seine Stimme bebte vor Anspannung. Ariel wartete, zögerte. Viel zu lange, grausam lange. Dabei hätte er ihm nur in die Augen sehen müssen, um die Antwort auf seine stumme Frage zu erhalten. Oder war seine Botschaft doch nicht so deutlich wie er glaubte? Wenn er nur fähig gewesen wäre es ihm zu sagen, sich wenigstens zu bewegen! Gewaltsam löste sich Shirasagi aus seiner Starre, hob die Hand zu dem bleichen Gesicht, als wolle er es willkommen heißen. Und im selben Moment überwand der Ältere den letzten Abstand zwischen ihnen. Auch in der Vergangenheit hatten sie sich schon geküsst und jedes Mal hatte Ariel die verloren geglaubte Erinnerung für ihn zurückgeholt. Doch diesmal war es anders. Diesmal stiegen keine Bilder in ihm auf – sondern ein nie geahntes Glücksgefühl. Sollte es jetzt wirklich so weit sein? Nach all den Jahren die sie sich schon kannten? Er fühlte die langen, schlanken Finger des Anderen auf seiner Haut, spürte das Hemd das er trug von seinen Schultern gleiten. Atemlos lösten sie sich voneinander. Nie zuvor hatte Shirasagi ein solches Verlangen nach ihm verspürt. Nie zuvor hatte er seine Berührung so herbeigesehnt wie jetzt. Er schauderte, als die Lippen des Geliebten seinen Hals berührten, am Schlüsselbein verweilten und dann, in berauschendem Wechselspiel mit seiner Zunge, weiter abwärts glitten. Eine Woge der Lust durchströmte ihn, überschwemmte sein Denken und ließ seinen Körper führungslos zurück. Ein Umstand, den der Andere nur zu gerne nutzte, indem er diese Rolle übernahm. Schneller als ihm lieb war, hatte Ariel ihn gänzlich entkleidet, während er selbst noch vollständig angezogen war. „Was ist mit dir?“, fragte er zwischen zwei Seufzern, die nur eine Ahnung dessen verkündeten, was er fühlte. „Wir haben nicht viel Zeit“, antwortete der Braunhaarige und unversehens wurden seine Berührungen fordernder, drängender. Fragend blickten Shirasagis goldene Augen zu ihm hinab. Keine Zeit? Sie hatten alle Zeit der Welt! In all den Jahren hatten sie sich kaum mehr als ein halbes Dutzend Male geküsst und sich – eher selten als gelegentlich – umarmt. Ariel hatte sich nie darüber beklagt, zumindest nie ernsthaft beklagt, also warum hatte er es jetzt so eilig? Als die Hände des Älteren sein empfindlichstes Körperteil berührten, vergaß er die Frage. „Mh...ah!“ Der Andere schien zu wissen was er tat, denn er entlockte ihm Laute, die nie zuvor über seine Lippen gekommen waren. Plötzlich hielt er in der Bewegung inne und nur mit Mühe konnte Shirasagi ein enttäuschtes Seufzen unterdrücken. Ariel lag seitlich von ihm, auf den rechten Unterarm gestützt, sein Gesicht ganz nah an dem seinen, sodass seine Lippen beinahe Shirasagis Ohr berührten. „Und? Wann wirst du heiraten?“ Der Jüngere erstarrte. Von einem Moment auf den anderen war der Zauber verflogen. Mit kreidebleichem Gesicht starrte er ihn ungläubig an. Ariels Lippen umspielte ein böses Lächeln, seine Augen funkelten vor Zorn. „Dein Vater hat es dir befohlen nicht wahr?“ Er kam ihm noch näher. „Was glaubst du werden sie sagen, wenn dein Körper die Spuren eines anderen trägt?“ Klatsch! Seine flache Hand hatte die Wange seines Gegenüber sehr präzise getroffen. „Deshalb also!“ In Shirasagis Augen schimmerten Tränen der Wut. „Wenn es hier um Unschuld geht, die Mühe kannst du dir sparen! Ich hatte schon Partner als ich noch Mensch war!“ Zornig entwand er sich dem Griff des Anderen, auch wenn sein Körper sehr deutlich den gegenteiligen Wunsch bezeugte. Am liebsten wollte er überhaupt nichts mehr sagen, doch die Worte sprudelten nur so aus seinem Mund. „Und ich Idiot habe tatsächlich geglaubt, du würdest es aus Liebe zu mir tun!“ Lüge. Er wusste, dass Ariel ihn liebte. Aber dass er hierher gekommen war um ihn wie einen Besitz, ein Revier zu kennzeichnen... Der Schmerz in seiner Brust war unerträglich und bot seiner Wut nur immer neue Nahrung. „Du hast ihn noch nie leiden können! Aber dass du so etwas tust, nur um ihm eins auszuwischen! Bist du dir selbst nicht mehr wert?!“ Ariel merkte auf. Seine Miene verfinsterte sich. „Wen meinst du mit 'ihm'? Ich dachte wir reden hier von Selen.“ Das nahm Shirasagi für einen Moment den Wind aus den Segeln. Doch schon einen Augenblick später hatte er sich wieder gefangen. Er lachte auf. „Selen? Sie wird meinen Bruder heiraten! Hast du es schon vergessen? Ich bin nicht der Erstgeborene!“ Auf dem Gesicht des Anderen arbeitete es, doch noch bevor er die alles entscheidende Frage stellen konnte, schrie ihm Shirasagi die Antwort auch schon entgegen: „Ich werde nur Kitanos Geliebter sein!“ Ariel erstarrte. Der ungläubige Ausdruck auf seinem Gesicht ging in Ekel über und er wich vor ihm zurück. Dieselben Augen, die ihm eben noch Zuneigung gezeigt hatten, betrachteten ihn nun, als wolle ihr Besitzer nichts lieber tun, als ihn zu verlassen. Und er hätte es nicht ertragen können, wenn der Ältere es ihm gesagt hätte. Deshalb sagte er es selbst, schrie es ihm mit all der Wut entgegen, die seine Gefühle für ihn – für die er einfach keinen Ausdruck fand – angestaut hatten. „Dann geh doch! Hau ab! Verschwinde! Wenn du es nicht ertragen kannst, dann brauche ich dich auch nicht!“ Harte Worte. Grausame Worte. Worte, die nicht der Wahrheit entsprachen. Worte, die er nie hatte sagen wollen. Ariel sah ihn an als sei er ein Fremder. Er sah Zorn in den Augen des Älteren aufblitzen, dann zog er sich langsam vor ihm zurück. Er ließ Shirasagi nicht einen Moment unbeobachtet und sein Blick ließ Böses ahnen. Ein letztes Mal fixierte er ihn – unmöglich zu sagen was er dachte – dann verschwand er durch das Fenster hinaus in die Nacht. Lange saß Shirasagi unbeweglich auf seinem Bett und starrte in die Finsternis. Dann, die Beine angezogen, das Gesicht in den Händen vergraben, begann er stumm zu weinen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)