Spiegelverkehrt von Ur (Liebes Tagebuch, ...) ================================================================================ Prolog: Liebes Tagebuch ----------------------- Diese Geschichte basiert auf einer ehemaligen J-Rock Geschichte von mir und wurde komplett umgeschrieben. Ich freue mich wie immer über Feedback :) Viel Spaß beim Lesen! ___________________ Liebes Tagebuch, Heute habe ich den neuen Gitarristen unserer Band kennen gelernt. Ich habe ihn anfangs für ein Mädchen gehalten. Er sieht wirklich kein Stück aus wie ein Mann. Ich fand ihn – oder besser gesagt sie – ziemlich scharf, also hab ich mich neben sie gestellt und gefragt, ob sie am Abend etwas vorhätte. Als sie anfing zu lachen, hab ich gestutzt. »Nein, habe ich nicht«, hat sie gesagt und nach meiner Hand gegriffen. Ich war ziemlich verwirrt und wusste nicht, was genau das nun werden sollte. Bis sie – oder besser er – meine Hand vollkommen ungeniert in seinen Schritt gedrückt hat. Einen winzigen Moment lang dachte ich, dass SIE es wohl ziemlich nötig haben muss. Bis mir aufgefallen ist, dass sie definitiv kein Mädchen ist. »Immer noch interessiert?«, hat er geschnurrt und sich über meinen hochroten Kopf halb totgelacht. Aber das schlimmste daran war, dass ich SEINE Frage eigentlich mit ‚Ja’ hätte beantworten können. Leon las den Eintrag durch und schüttelte den Kopf. Damals. Das fühlte sich an, als wäre es schon so lang her … Der blonde Bassist von Limelight saß in seinem Zimmer, hatte die Füße auf den Schreibtisch gelegt und las sich alte Tagebucheinträge durch. Hin und wieder verzog er dabei das Gesicht, als könnte er nicht ganz glauben, dies wirklich geschrieben zu haben. …eigentlich könnte er sich das Wort ‚Homo’ auf die Stirn tätowieren lassen. Er geht damit so offen hausieren, dass ich mich ab und an frage, ob er das nur macht, um andere zu provozieren. Wir sind nun seit einigen Monaten gemeinsam am Proben. Der Vollidiot scheint es sich zur Aufgabe gemacht zu haben, mir auf den Sack zu gehen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich Nicci verzeihen kann, dass sie ihn mitgebracht hat. Aber sie hat mir erzählt, dass sie ihn über ihren großen Bruder kennt und die beiden manchmal zusammen spielen. Sie war so begeistert von Felix, dass sie ihn gleich gefragt hat und wie es der Zufall so wollte – und der Zufall scheint mich nicht sonderlich zu mögen – hat er schon länger nach einer Band gesucht. Da Kevin ja jetzt bald nach München geht… Das waren noch Zeiten gewesen. Allerdings war sein wahres Unglück erst mit dem Studium gekommen. Und mit Christian. Christian war wie Felix. Offenkundig schwul, nahm niemals ein Blatt vor den Mund und machte auch keinen Hehl daraus, wenn ihm Jemand gefiel. Und Christian und Felix gefielen sich offensichtlich außerordentlich. Vom ersten Moment an, da Leon gesehen hatte, wie Felix und Christian sich angeschaut hatten, hatte er Chris gehasst. Wie die Pest. Und noch ein wenig mehr. Er war sich nicht einmal genau sicher, wieso es ihn so wurmte, dass die beiden sich öffentlich besabberten. Immerhin war Felix ein freier Mensch und konnte begaffen wen immer er wollte, wenn er in seinen Chemie- Vorlesungen saß. Ich hasse es, wie er dich ansieht. Ich hasse es, wenn er Späße über dich macht, als würdest du mit jedem in die Kiste springen. Und am allermeisten hasse ich es, dass du darauf anspringst, mit ihm flirtest, dir sogar manchmal begehrlich über die Lippen leckst, wenn er dir zu nahe kommt. Warum hast du mich noch nie so angesehen? Ich… Leon knallte das Tagebuch zu und pfefferte es auf den nächstbesten Sessel. Allein die Tatsache, dass er so etwas schrieb, war peinlich genug. Man merkte deutlich, wie die Einträge sich gewandelt hatten. Am Anfang war es eher ein nüchterner Tatsachenbericht gewesen. Er konnte sich nicht einmal mehr erinnern, wieso er überhaupt in der zehnten Klasse angefangen hatte, Tagebuch zu schreiben… Und dann, ganz langsam, hatte er nach und nach nur noch über Felix geschrieben, nachdem dieser ihrer Band am Ende der zwölften Klasse beigetreten war. Die Einträge waren schon länger nicht mehr an irgendjemanden adressiert. Es hieß nicht mehr ‚Liebes Tagebuch’. Es war alles nur an Felix gerichtet. Als würde der Gitarrist es jemals lesen, was Leon sich da zusammen geschrieben hatte. Leon war überzeugt heterosexuell. Doch seit er Felix kannte, war er nicht mehr derselbe. Zwar interessierte er sich immer noch nicht für andere Männer. Doch immerhin war Felix auch ein Mann und für den Brünetten interessierte er sich mehr als deutlich. Auch wenn er es sich nur ungern eingestand. Leon fuhr sich mit den Händen über das Gesicht. Er kannte sich nicht mehr. Er wusste nicht, seit wann in ihm all diese lächerlichen Emotionen steckten, die er absolut unpassend und unnötig fand. Was war das? Was sollte das? Zuneigung? Eifersucht? Besitzansprüche? Seit wann fühlte er so etwas? In der Oberstufe war er berüchtigt gewesen, dass ihm die Mädchen nachliefen und sich um ein Grinsen oder ein Zwinkern von ihm rissen. Er hatte mit den meisten, die ihm gefallen hatten, schon etwas gehabt, auf Parties, oder auch einfach zwischendurch. Doch jetzt starrte er nur noch auf den dunkelhaarigen Chemiestudenten, der mit ihm zu allem Übel auch noch in einer Band spielte. All diese Gefühlsduselei wäre ja auch nur halb so schlimm gewesen, wenn sie sich auf eine Frau gerichtet hätten. Aber nein. Egal, wie man es drehte und wendete, egal wie weiblich Felix aussehen mochte: Felix war ein Mann. Der erste Mann, den Leon begehrte. Und es würde wohl auch der letzte sein. Langsam stand er auf und ging hinüber zu dem Sessel, in dem das Tagebuch lag. Langsam hob er es auf, blätterte zurück und ließ sich erneut auf die Couch sinken. Du bist anders. Ich habe versucht, dir so gut es ging aus dem Weg zu gehen, dich zu meiden, seit wir uns in der Zwölften kennen gelernt haben. Das ist nun fast 2 Jahre her. Aber jetzt, wo wir auch noch zusammen auf einer Uni gelandet sind, kann ich dir kaum noch ausweichen. Ich habe das Gefühl, du suchst meine Nähe. Aber ich kann deine Nähe nicht ertragen. Ich will mich zu keinem Mann der Welt hingezogen fühlen, egal wie weiblich er aussieht… Leon schnaubte bei dem Gedanken an die Zeit, in der er Felix mit größter Ablehnung behandelt hatte. Es war von vornherein klar gewesen, dass dies nicht lange funktionieren würde, wenn sie in einer Band spielten. Aber er hatte es einfach nicht wahr haben wollen. Und natürlich war das Unvermeidliche passiert… Es hatte diesen Krach gegeben. Nachdem… Er blätterte einige Seiten weiter vor. Heute war ich das erste Mal mit dir allein. Nicht, dass ich es gewollt hätte. Aber die Anderen haben uns nun einmal dazu verdonnert, im Proberaum aufzuräumen. Es sah auch schon ganz schön beschissen aus und Nicci hasst Unordnung. Eine halbe Stunde lang hab ich es geschafft, eisern zu schweigen. Und dann… musste ich mir ja auch den Gott verdammten Kopf stoßen. »Alles ok?«, hast du gefragt und bist zu mir gekommen. Ich wollte nicht, dass du mich anfasst, ich wollte nicht, dass du in meine Nähe kommst. Aber du hast dich neben mich gehockt und mit den Fingerspitzen meine Stirn berührt. Nichts auf der Welt hätte mich darauf vorbereiten können, wie es sich anfühlt, von deinen Fingerspitzen auf nackter Haut berührt zu werden. Der sentimentale Scheiß, den ich mir hier zusammen schreibe, zeigt jawohl mehr als deutlich, dass mein Gehirn immer noch vernebelt ist. Und das nur, weil du meine Stirn berührt hast. Dabei bin ich ganz Anderes gewohnt! Das war der Anfang vom Ende gewesen. Stundenlang hatten sie im Proberaum gesessen und sich unterhalten. Felix’ Lachen war angenehm gewesen, genau wie seine Stimme und seine natürliche und offene Art. Diese Art hatte ihn vollkommen entwaffnet. Es hatte alles für ihn noch schwerer gemacht, denn eigentlich hatte er Felix nicht mögen wollen. Das hatte der Gitarrist auch bemerkt… denn zwei Tage später… Er blätterte eine Seite weiter und las: Scheiße. SCHEIßE! Verpiss dich endlich aus meinem Leben, hörst du? Ich will nichts mit dir zu tun haben, du Gott verdammte Schwuchtel! Ich bin nicht schwul! Ich stehe auf Weiber und nicht auf Schwänze. Scheiße! Wieso musst du mich trotzdem so aus der Fassung bringen? Warum kannst du mich nicht in Ruhe lassen? Und warum um alles in der Welt musst du mich durchschauen, als wär mein Hirn aus Glas? »Was hast du eigentlich für ein Problem mit mir?«, hast du mich angeschnauzt, als die Anderen schon weg waren. Deine Augen haben so wütend gefunkelt, ich dachte, du würdest mich gleich schlagen. Jeder Schlag wäre besser gewesen, als das, was du mir dann gesagt hast. »Ich dachte echt, du wärst ok! Aber du bist einfach nur ein Feigling, der es nötig hat, vor Anderen den großen Macker raushängen zu lassen, oder? Kannst du dein Scheiß- Ego nicht mal für zwei Sekunden abstellen? Kannst du nicht mal der sein, der du wirklich bist?« Und auf unerklärliche Weise hatten ihn diese Worte so sehr umgehauen, dass er beinahe fluchtartig den Raum verlassen hatte. Er erinnerte sich noch daran, dass es draußen geregnet hatte. Seine Gedanken waren in etwa so geordnet gewesen, wie sein Kleiderschrank. Und Nicci sagte immer, dass man in seinem Kleiderschrank schwerer etwas fand, als auf einer Müllkippe. Wieso musste Felix ihm so deutlich unter die Nase reiben, dass er überhaupt nicht so selbstsicher war, wie er immer tat? Dass er verdammt viel Bestätigung brauchte und sich vor Anderen nicht so geben konnte und wollte, wie er nun einmal war? Eher unsicher. Im Umgang mit Menschen war er ein vollkommener Loser. Er war in etwa so sensibel wie ein riesiger Holzhammer und es war einfach nicht seine Art, vor anderen Leuten Schwäche zu zeigen. Aber im Gegensatz zu anderen Menschen, – vielleicht einmal abgesehen von Nicci, die ihn als beste Freundin einfach am besten kannte – die ihn einfach als aufgeblasenen Obermacker hinnahmen, musste Felix ihm ein rotes Leuchtschild auf die Stirn drücken, auf dem ‚Unterentwickeltes Ego’ stand. Der einzige Kerl, bei dem ich so sein kann, wie ich bin, bist du, Scheiß-Schwuchtel! Leon klappte das Tagebuch erneut zu, legte es auf seinen Schreibtisch und erhob sich ein weiteres Mal. Draußen war es windig und bewölkt. Es war Herbst. Sein erstes Tagebuch war voll. Lange Zeit hatte er mit niemandem über Felix geredet, nicht einmal mit seiner besten Freundin. Er hatte sich ja nicht einmal vor sich selbst eingestehen können, dass er Felix gegenüber nicht abgeneigt war. Er öffnete eine Schreibtischschublade und zog ein neues, eingebundenes Buch daraus hervor, griff nach einem Stift und ließ sich auf sein Bett sinken. Es ist November. Ich kenne dich jetzt schon ziemlich lange und du bist mir immer noch ein Rätsel. Ich hab das Gefühl, bald zu platzen, wenn ich nicht mit jemandem über dich rede. Normalerweise bin ich mit meinen Problemen immer selbst fertig geworden, manchmal vielleicht mit Niccis Hilfe. Aber dieses Problem ist jetzt schon so lang anhaltend, dass ich mich frage, ob es wirklich noch irgendwann verschwindet. ANMERKUNG: Ich werde gleich Nicci anrufen und fragen, ob ich vorbei fahren kann. Sie hat gesagt, dass ich immer zu ihr kommen kann, wenn irgendwas ist. Es ist zwar schon sau spät, aber das stört sie sicher nicht. Nicci ist nicht der Typ Mädchen, der dümmlich kichern würde… hoffe ich jedenfalls. Er verstaute das Buch wieder im Schreibtisch, warf den Kugelschreiber unachtsam auf die Tischplatte und stapfte in den Flur des Hauses, das er mit seinen Eltern allein bewohnte. Beim Telefontisch angekommen, wählte er Niccis Handynummer und verschwand mit dem schnurlosen Telefon hastig in seinem Zimmer. Seine Eltern schliefen schon und wären sicherlich nicht begeistert, wenn sie wüssten, dass ihr Sohn nachts um halb drei noch durch die Straßen irrte, um seiner besten Freundin davon zu erzählen, dass er sich zu einem Mann hingezogen fühlte. Er würde ja sehen, ob es ihm weiterhalf, über all den Mist zu reden. Wenn er das überhaupt konnte. »Ja?« »Hey Nicci, hier ist Leon, kann ich vorbei kommen?« Nicci klang ziemlich verschlafen und gleichzeitig alarmiert, so als würde sie eine Offenbarung erwarten, die sich um den Tod eines nahen Verwandten drehte. »Ja sicher. Wann?«, nuschelte sie und gähnte herzhaft. »Jetzt gleich…bitte«, sagte er und schob seine freie Hand in die Hosentasche. »Ok. Bis gleich«, kam es gemurmelt vom anderen Ende und Leon hoffte, dass sie nicht wieder einschlief und ihn von selbst hereinließ. Die Vorstellung, dass ihr Vater die Tür öffnete, weil er nachts um halb drei geklingelt hatte, erschien ihm nicht sonderlich verlockend zu sein. »Bis gleich!« Ich werd dich schon aus meinem Kopf bekommen… Da kannst du Gift drauf nehmen, Arschloch! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)