Papierherz von Ur (Bleistiftspuren bleiben) ================================================================================ Kapitel 28: Eine letzte Sache ----------------------------- Daidai bekämpft Drachen in Fiesta Online, da habe ich die Zeit genutzt und ein kleines Kapitel zu meinen beiden Häschen geschrieben. Ich bin auf jegliche Art von Drohpost gefasst :D Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen und bedanke mich mal wieder für all das liebe Feedback, das ihr mir regelmäßig hinterlasst. Es folgen jetzt noch ein Kapitel und ein Epilog (der dann aus Koljas Sicht geschrieben sein wird). Liebe Grüße :) ______________________________ Jannis war aufgeregt. Eigentlich war er so aufgeregt wie noch nie in seinem Leben. Er stand schon seit über einer Viertelstunde auf einem Bahngleis, starrte die Anzeige für einen ICE an und wartete darauf, dass jemand eine Ansage machen würde, die ihm mitteilte, dass Koljas Zug jeden Augenblick eintraf. Jeden Augenblick meinte in seinem Fall: In weiteren fünfzehn Minuten. Er hatte das ganze Rumgesitze zu Hause nicht mehr ausgehalten. Die ganze letzte Woche hatte er nicht mit Kolja telefoniert. Sie hatten nur ab und an eine SMS geschrieben. Kolja hatte gesagt, er wäre fast den ganzen Tag im Übungsraum und Jannis hatte sich dabei ertappt, wie er geschmollt hatte. Marek hatte das sehr lustig gefunden. Jannis hingegen war nicht allzu begeistert von seinen merkwürdigen Gefühlsanwandlungen. Heute Morgen hatte er – völlig unvorbereitet – eine SMS von Kolja bekommen, die ihm mitgeteilt hatte, dass er um zwei Minuten nach halb vier auf Gleis sieben ankam. Und nun stand Jannis hier in der blässlichen Aprilsonne und wartete darauf, dass der Zug endlich ankam. Es war Ende April und Jannis befand, dass fast vier Monate genug Zeit waren, in der er und Kolja sich nur aus der Ferne hatten anschmachten können. Zugegebenermaßen war das Wort ›anschmachten‹ neu in seinem Wortschatz. Marek hatte herum gekichert und meinte, Jannis würde sich aufführen wie ein Drogensüchtiger auf Entzug. Das alles war schrecklich peinlich, aber was half es, die ganze Zeit so zu tun, als wäre er nicht vollkommen verrückt nach dem aufdringlichen Kerl mit der komischen Frisur, der immer dasselbe Armband trug und ihn anfangs regelmäßig auf die Palme gebracht hatte? Jannis ließ sich auf einem der Sitze auf dem Bahnsteig nieder und schob seine Brille die Nasenwurzel hoch. Die Ankunft von Kolja bezeichnete dann wohl den offiziellen Anfang seiner ersten Beziehung. Immerhin hatte er Kolja gesagt, dass er gern mit ihm zusammen sein wollte. Das machte ihn nur noch aufgeregter. War er ein Beziehungsmensch? Er hatte es noch nie ausprobiert. Aber immerhin waren auch die letzten Monate irgendwie so gewesen, als hätten er und Kolja in einer Beziehung gesteckt. Fernbeziehung. Oder so etwas in der Art. Aber von jetzt an würden sie sich regelmäßig sehen und Jannis hatte in den letzten Wochen erneut über sein selbsternanntes Problem nachgedacht: Sex. Nachdem er sich mühsam damit abgefunden hatte, dass Kolja mindestens drei Jahre seines Lebens Sex gehabt hatte, hatte sich ihm eine weitere unangenehme Frage gestellt. Die Frage des Oben- oder Untenliegens. Wahrscheinlich machte Kolja sich darüber kein bisschen Gedanken, er hatte ja alles schon hinter sich. Jannis fuhr sich durch die Haare und starrte hoch auf die Anzeige. Im nächsten Augenblick zuckte er heftig zusammen, als eine mechanische Frauenstimme ganz in seiner Nähe erklang. »Meine Damen und Herren, auf Gleis sieben fährt ein: ICE 786…« Jannis sprang von seinem Sitz auf und tippte mit seinen Fingern ungeduldig auf seiner Jeans herum, während er den weißen Zug dabei beobachtete, wie er in den Bahnhof einfuhr. Unsicher sah er sich um. Wo würde Kolja aussteigen? Der Zug war endlos lang. Jannis tigerte ein Stück in Richtung Anfang des Zuges, drehte sich wieder um und sah sich von Menschen überschwemmt, die aus dem Zug ausstiegen. Wunderbar. Kolja war zwar nicht klein, aber wenn er noch im Rollstuhl saß, dann würde Jannis ihn garantiert übersehen. Er verrenkte sich beinahe den Kopf in alle Richtungen, wurde zwei Mal fast von einer Horde Rentner und von einer Familie mit drei Kindern umgerannt und er wollte beinahe schon schlecht gelaunt nach seinem Handy kramen, um Kolja anzurufen, als er den blonden Haarschopf entdeckte, der mittlerweile wieder kürzer geschnitten und unterhalb abrasiert war. Jannis ertappte sich dabei, wie er die Luft anhielt. Koljas Augen suchten den Bahnsteig ab, dann fanden sie ihn und auf seinem Gesicht breitete sich ein endlos breites Strahlen aus. Jannis starrte ihn an, als Kolja den Kopf schief legte. Er stand auf Krücken. Jannis machte ein paar Schritte auf ihn zu und schob sich zwischen anderen Fahrgästen hindurch. Auch Kolja setzte sich in Bewegung. Er ging noch langsam und es schien ihn einige Anstrengung zu kosten, aber er setzte eindeutig einen Fuß vor den anderen. Jannis konnte seinen Blick nicht von den sich bewegenden Beinen lösen, bis er schließlich direkt vor Kolja stand und ihn in seine Arme zog. Kolja lachte und wankte leicht. Da er die Krücken hielt, konnte er die Umarmung nicht erwidern, doch Jannis störte sich nicht daran. »Du… stehst…«, krächzte Jannis mit trockener Kehle und drückte Kolja noch ein wenig fester. »Klingt wie das schönste Kompliment, das ich je bekommen habe«, gab Kolja amüsiert zurück und Jannis verkniff sich ein Schmunzeln, während er sein Gesicht an Koljas Halsbeuge vergrub und seinen Duft einsog. »Hier sind viele Leute«, murmelte Kolja. »Hm.« »Jannis?« »Hm?« »Darf ich dich trotzdem küssen?« Jannis hob den Kopf und sah Kolja an. Die blauen Augen funkelten sehnsüchtig und Jannis spürte, wie sein Gesicht heiß wurde und sein Herz einen Schlag zulegte. Es würde garantiert noch lange dauern, bis Jannis sich daran gewöhnt hatte, in der Öffentlichkeit zu zeigen, dass er auf Männer stand. Aber er hatte Kolja nun in vier Monaten nur einmal gesehen und er hatte ihn so sehr vermisst, dass es ihm in diesem Augenblick egal war, was die anderen Menschen hier auf diesem Bahnsteig von ihm dachten. Jannis beugte sich vor und presste seine Lippen auf die von Kolja, der ein leicht überraschtes Geräusch von sich gab, ehe er den Kuss erwiderte, und dann fielen die Krücken zu Boden, als Koljas seine Arme um Jannis’ Hals schlang. Kolja wankte leicht, doch Jannis hielt ihn fest. Wahrscheinlich wurden sie gerade von allen angestarrt. Aber was machte das schon, wenn sich dieser Kuss so gut anfühlte? Koljas Zunge ließ ihn leicht erschaudern und er krallte seine Finger in den Stoff von Koljas Jacke. »Wieso… ist… deine Familie eigentlich… nicht hier?«, nuschelte er in den Kuss und tastete wieder nach Koljas Lippen. »Waren gestern noch da… und haben dann den Rollstuhl mitgenommen«, kam die gemurmelte Antwort. »Ich wollte ohne das Ding hier ankommen.« Jannis löste den Kuss und sah Kolja ins Gesicht. Er sah aus, als wäre er auf Drogen. Sein Grinsen wirkte leicht verschwommen. Jannis zog seine Arme zurück, doch als Kolja begann zu schwanken, hielt er ihn wieder fest. Der Zug neben ihnen war mittlerweile wieder abgefahren. Jannis hatte es nicht gemerkt, weil der Kuss ihn viel zu sehr benebelt hatte. »Hab meine Krücken fallen lassen«, sagte Kolja verlegen und Jannis warf einen Blick hinunter auf den Boden. »Kannst du kurz stehen? Dann heb ich sie dir auf«, sagte Jannis ein wenig besorgt. Kolja grinste. »Wird schon. Sonst fall ich auf dich drauf. Ist nicht allzu übel«, meinte er und streckte Jannis die Zunge heraus. Jannis räusperte sich verlegen, schob sich die Brille auf der Nase nach oben und ließ Kolja vorsichtig los, ehe er sich rasch bückte und die Krücken vom Boden fischte. Kolja nahm sie dankbar entgegen und folgte Jannis langsam in Richtung Treppe, die hinunter in den Bahnhof führte. »Die meinten in der Klinik, dass ich nicht gleich so viel auf Krücken rennen soll, aber ich wollte unbedingt ohne Rollstuhl hier auftauchen«, erzählte Kolja bestens gelaunt, während sie den Bahnhof verließen und hinüber zur nächsten Bushaltestelle gingen. »Kann ich mit zu dir kommen?«, fragte Kolja dann aus heiterem Himmel, »Ich hab Pa und Marit in letzter Zeit echt oft gesehen und zu Hause hab ich keine Ruhe, weil alle mich betüddeln wollen… ich würd gern ein bisschen allein mit dir sein.« Jannis schluckte und nickte. Er schaffte ein halbes Lächeln, während seine Gedanken unweigerlich zu seinem Problem schweiften. Konnte er eigentlich nur noch an Sex denken? Das war ja anstrengend! »Ich muss dir noch was Wichtiges erzählen«, sagte Jannis schließlich. Es waren nur vier Haltestellen, bis sie in der Nähe von seiner Wohnung ankamen und ausstiegen. »Klingt gruselig, wenn du das so ernst sagst«, meinte Kolja, doch er klang unbekümmert. Jannis seufzte und sein Herz setzte einen Schlag aus. Wie sollte er es Kolja am besten sagen? In den letzten Wochen hatte Jessika ihn noch einige Male angerufen und nebenbei berichtet, dass Jannis’ Mutter sich immer mal wieder bei ihr meldete, um zu erfahren, wie es ›mit Jannis lief‹. Er musste Kolja irgendwie erklären, dass Jessika wieder da war. Eigentlich musste er ihm alles erklären, was mit Jessika zu tun hatte, aber er war so unglaublich schlecht darin, über solche Sachen zu reden. Wie sollte er am besten anfangen? Und was würde Kolja sagen? Wenn er sauer wäre… »Das allerbeste ist«, sagte Kolja bestens gelaunt, während sie langsam die Treppen zu Jannis’ Wohnung hinaufstiegen, »dass wir jetzt offiziell zusammen sind.« Jannis blinzelte und sah Kolja von der Seite an. Dann musste er lächeln. »Dachtest du, ich will wirklich nur mit dir zusammen sein, wenn du wieder gehen kannst?«, murmelte Jannis und spürte zum wiederholten Male, wie er rot anlief. Kolja lachte leise. Er atmete ziemlich schwer, da das Treppensteigen offensichtlich sehr anstrengend für ihn war. Jannis hätte ihm gern geholfen, aber er wusste, dass Kolja das allein schaffen wollte. »Nein, dachte ich nicht. Aber so richtig zusammen sein können wir ja erst jetzt«, meinte er und hielt kurz inne, um zu verschnaufen. Jannis musterte ihn besorgt. Noch zwei Stockwerke trennten sie von seiner Wohnungstür. »Ich hoffe, dass ich mich… schnell dran gewöhnen werd«, nuschelte Jannis verlegen und starrte die Wand an. »Hoffe ich nicht«, entgegnete Kolja und Jannis sah ihn erstaunt an. »Wenn man sich an jemanden allzu sehr gewöhnt, wird’s irgendwann komisch«, erklärte er und nahm dann entschlossen die nächste Treppe in Angriff. Jannis war ziemlich in Gedanken versunken, als sie schließlich den obersten Treppenabsatz erreichten, doch seine Nachdenklichkeit verflog rasch, als er jemanden vor seiner Tür stehen sah. Es war ein wenig wie damals, als Sebastian ihn überraschend besucht hatte. Auch wenn das hier ungefähr hundert Mal schlimmer war. Jessikas Haare waren immer noch sehr lang und hellbraun, doch sie hatte sie zu einem Zopf geflochten, der ihr vorn über die Schulter hing. Auf ihrem Gesicht breitete sich ein Schmunzeln aus, als sie Jannis erblickte, der sie wie vom Donner gerührt anstarrte. Ihre Füße steckten in Stiefeln, sodass sie beinahe so groß war wie er. Der dunkelrote Pulli, den sie trug, war einigermaßen weit ausgeschnitten. Sie war immer noch hübsch. Und er war immer noch kein bisschen interessiert an ihr. »Ich dachte schon, ich muss noch Stunden warten, bis du wieder nach Hause kommst«, sagte sie und ihr Blick huschte hinüber zu Kolja. Jannis sah, wie sie sich einen Moment lang schweigend musterten und dann wandten sich zwei Augenpaare ihm zu. Sein Herz hämmerte wie verrückt, er atmete einmal tief durch und dann sagte er es. »Jessika, das ist Kolja, mein Freund.« Ihre Gesichtszüge entgleisten, als sie Kolja anstarrte. »Kolja… das ist… das ist Jessika. Meine Verlobte.« Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)