Papierherz von Ur (Bleistiftspuren bleiben) ================================================================================ Kapitel 20: Die Augen seiner Mutter ----------------------------------- So! Die Klausuren sind rum und ich habe wieder Zeit und Muße mich meinen beiden Dramaqueens zu widmen :D Ich hoffe, dass euch das Kapitel gefällt, auch wenn es nicht ganz so lang ist. Viel Spaß beim Lesen und entschuldigt noch einmal die lange Wartezeit! Liebe Grüße! ______________________________ »Herr Hofstetter, Sie sind ein sehr anstrengender Patient!«, klagte Schwester Anna zum ungefähr hundertsten Mal. Jannis sah sie halb missmutig und halb amüsiert an. »Das weiß ich. Sie könnten mich einfach entlassen, dann haben Sie weniger Stress«, entgegnete er und ließ sich dazu herab, endlich stillzuhalten, damit die Krankenschwester seinen Gips erneuern konnte. »Wenn sie so weiter machen, legen wir Sie und Herrn Reichenau einfach in dasselbe Zimmer, dann muss ich Sie nicht ständig suchen, wenn sie doch eigentlich Visite haben«, schlug sie resigniert vor. Jannis räusperte sich verlegen. »Ich denke nicht, dass das nötig ist«, meinte er und wandte das Gesicht ab. Ja, er war eigentlich dauernd in Koljas Zimmer. Der andere schlief viel und Marit oder Herr Reichenau waren meistens mit ihm im Zimmer. Nur nachts nicht. Dann saß Jannis oft im Dunkeln in Koljas Zimmer und beobachtete ihn beim Schlafen. Er hatte keine Ahnung, warum er das tat, immerhin brachte es weder ihm noch Kolja irgendetwas, aber Jannis war einfach so froh, dass Kolja wieder aufgewacht war, dass er das Gefühl hatte, er müsste darauf aufpassen, dass Koljas Zustand sich nicht verschlechterte. Schwester Anna musste ihn regelmäßig suchen. Er sträubte sich gegen die meisten Untersuchungen. Jannis mochte Krankenhäuser einfach nicht und er mochte es nicht, dass um ihn solch ein Wirbel veranstaltet wurde. Zwar tat sein Kopf ab und an weh, aber er hatte nur einen gebrochenen Arm. Was machte das schon? Marek hatte ihm erzählt, dass Lana und Hermes ihn vermissten und Jannis wollte gern in die Ruhe seiner vier Wände zurückkehren. Auch wenn er vermutlich ohnehin jeden Tag hierher kommen würde, um Kolja zu sehen. Dunkel fragte er sich, was seine Eltern nun dachten. Es hatte unglaublich gut getan, ihnen endlich richtig die Stirn zu bieten und zu sagen, was schon so lange in ihm vorging. Als der Gips endlich fertig war, erhob Jannis sich. »Danke für den Gips«, sagte er und Schwester Anna warf ihm einen halb belustigten und einen halb verärgerten Blick zu. »Gern geschehen, Herr Hofstetter«, sagte sie mit einer ordentlich Portion Sarkasmus in der Stimme. Jannis verkniff sich ein Schmunzeln und wandte sich ab. »Sie wissen ja, wo Sie mich finden«, sagte er noch, ehe er das Zimmer schließlich verließ und sich auf den Weg zu Koljas Zimmer machte. Er fand ihn sitzend im Bett mit einem Buch auf den Oberschenkeln und lesend. »Hey«, sagte Kolja, als er ihn bemerkte, und klappte das Buch zu. »Wie geht’s dir?«, wollte Jannis zögerlich wissen. Er stellte diese Frage ständig. Und Kolja sagte immer, dass es ihm gut ging. »Gut, danke. Ich durfte mich endlich mal setzen…«, gab Kolja lächelnd zurück. Weder Marit noch Koljas Vater waren da. »Wo sind Marit und dein Vater?«, fragte Jannis und setzte sich auf den Stuhl neben Koljas Bett. »Sie reden mit irgendeinem Arzt«, sagte Kolja. Irgendein Unterton in Koljas Stimme brachte Jannis dazu, die Stirn zu runzeln. »Was ist denn?«, wollte er wissen. Plötzlich war ihm kalt. Kolja schaffte ein Grinsen. »Nichts. Ehrlich«, sagte er und strich sich mit einer Hand ein paar Haare aus dem Gesicht. Der untere Teil seiner Haare, die dort immer kurz rasiert gewesen waren, war mittlerweile länger worden. Alles in allem sah Kolja ziemlich wuschelig um den Kopf herum aus. »Sag schon«, sagte Jannis und hatte das Gefühl, er würde in ein Loch fallen. Was war los? Was wollte Kolja verheimlichen? Einerseits wollte Jannis es nicht wissen, denn was immer es war, es würde seine Schuld sein. Aber andererseits musste er wissen, was mit Kolja los war. »Nein, nein. Es ist nichts Tragisches, nichts, was nicht wieder in Ordnung kommen könnte.« Jannis starrte ihn an. Gerade als er anfangen wollte sich bei Kolja zu beschweren, ging hinter ihm die Tür auf. »…ein paar Tests und dann werden wir sehen, wie Ihr Sohn… oh, Herr Hofstetter.« Dr. Mertens brach ab, als er Jannis entdeckte. »Was ist nicht in Ordnung?«, fragte Jannis und stand hastig auf. Er starrte abwechselnd den Arzt, Koljas Vater und Kolja an, die sich nun alle einen Blick zuwarfen. Schließlich seufzte Kolja und nickte ergeben. Dr. Mertens räusperte sich. »Herr Reichenau… zeigt keine Reaktion auf physische Reize an seinen Beinen.« Jannis starrte den Arzt an. »Sie wollen sagen… er spürt seine Beine nicht mehr?«, fragte er und seine Stimme drang wie durch Watte an seine Ohren. Der Boden unter ihm wollte wegsacken. »Er leidet an einer Rückenmarksquetschung, die die entsprechenden Nervenbahnen blockiert. Aber die Chancen dafür, dass er wieder aufstehen wird, liegen immerhin bei 25% und –« »25%?«, echote Jannis tonlos und starrte Kolja an, der aussah, als wollte er dieses Gespräch lieber nicht führen. »Ich werd das schon schaffen«, sagte Kolja und die Zuversicht in seiner Stimme war beinahe mehr, als Jannis ertragen konnte. Wie konnte Kolja das sagen und dabei so klingen, als würde er es wirklich glauben? 25%, was war das schon? Nichts! Und es war seine Schuld… seine Schuld, dass Kolja nie wieder gehen würde. Genauso wie sein Vater. Er nahm nur noch Wortfetzen wahr. »…Reha…« »…Physiotherapie…« »…weitere Operation…« Jannis starrte in diese blauen Augen, die ihm keinen Vorwurf machten, die ihn nicht anklagten und ihm keine Schuld zuwiesen. Er blickte in diese glitzernden Augen, die hartnäckig und optimistisch und stark waren. »Ich…«, brachte er mühsam hervor und seine Stimme klang wie Schmirgelpapier auf Holz, »es tut mir… so Leid…« Kolja öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch Jannis wollte es gar nicht hören. Er drehte sich um und hastete aus dem Zimmer. Fünfundzwanzig Prozent. Kolja hatte es wohlmöglich schon vorher gewusst und er hatte es ihm nicht gesagt. Wieso hatte er es ihm nicht gesagt? Jannis kannte die Antwort. Kolja hatte gewusst, dass Jannis sich die Schuld geben würde. Aber was blieb ihm auch übrig? Immer und immer wieder hatte er sich diesen Tag ins Gedächtnis gerufen, war den Unfall im Kopf durchgegangen, er hatte Alpträume gehabt. Und es gab nur diese eine Erklärung für ihren Unfall. Er hatte sich nicht mit in die zu steile Kurve gelegt. Es war seine Schuld, dass Kolja ein paar Tage lang im Koma gelegen hatte und dass er nun querschnittsgelähmt war. Wie sein Vater. Womit hatte diese Familie das verdient? Und wie konnte er das jemals wieder gut machen? Wieso hatte sich Kolja überhaupt mit ihm eingelassen, dann wäre all das nie passiert. Er verkroch sich in seinem Zimmer, legte sich freiwillig ins Bett und begrub sich unter der weißen Bettdecke. Wenn er schlafen könnte, dann müsste er nicht mehr denken. Aber er konnte nicht schlafen. Immerzu huschten die Worte des Arztes durch seinen Kopf, immer wieder blickten ihn Koljas Augen an. Er hörte kaum, wie die Zimmertür aufging und sich wieder schloss. »Jannis?« Es war die Stimme von Herrn Reichenau, die da mit ihm sprach. Jannis überlegte einen Moment lang sich schlafend zu stellen, doch dann zog er die Bettdecke zurück und drehte sich um, um Koljas Vater anzusehen. Er hatte nicht dieselben Augen wie sein Sohn. Aber das verschmitzte Lächeln und die schmutzig blonden Haare, die Grübchen, wenn er lächelte. All das hatte Kolja von ihm geerbt. Vermutlich hatte er die Augen seiner Mutter. »Kolja wird das schaffen«, sagte Herr Reichenau, ohne um das Thema herumzureden. Jannis konnte einfach nicht anders als ungläubig zu schnauben. »25% sind so wenig. Sie wissen doch gar nicht, ob er es schafft«, sagte Jannis und er hörte, wie verbittert er dabei klang. Herr Reichenau schwieg einen Moment, dann kam er zu Jannis’ Bett herüber gerollt und blickte Jannis aus seinen grünbraunen Augen ernst an. »Ich kenne meinen Sohn sehr viel länger als du, Jannis. Er ist immer schon wieder aufgestanden und er wird es auch jetzt wieder tun.« Jannis starrte diesen Vater an. Sein Vater hatte garantiert niemals so von ihm gesprochen oder so über ihn gedacht. Trotzdem beruhigten ihn diese Worte nicht. »Das ist doch keine Frage der Persönlichkeit«, sagte er matt. Nicht, dass er es nicht wollte, dass Kolja wieder aufstand. Aber man sollte sich auch keine falschen Hoffnungen machen. »Doch, das ist es. Als ich meinen Unfall hatte und aufwachte und ich irgendwann bemerkt habe, dass ich meine Beine nicht mehr spüren kann, da hatte ich schon aufgegeben. Man sagte mir damals, ich hätte eine fünfzigprozentige Chance darauf, wieder gehen zu können. Aber ich habe selbst nie daran geglaubt. Und irgendwann ist es zu spät, wenn die Muskeln abgebaut sind und man es zu lange nicht versucht… ich habe meine Chance damals verspielt, obwohl sie viel größer war als die, die mein Sohn jetzt hat.« Jannis schwieg. Er dachte darüber nach. Herr Reichenau betrachtete die Zimmerdecke. Einen Moment lang herrschte Stille im Raum, dann sprach er weiter. »Als meine Frau gestorben ist, war es mein sechsjähriger Sohn, der mich wieder aufgebaut hat. Es hätte andersherum sein müssen. Kinder sollten nicht die Stützen für ihre Eltern sein müssen und schon gar nicht, wenn sie noch so jung sind. Kolja hat mir immer wieder gesagt, dass seine Mutter es nicht wollen würde, dass ich mich verkrieche. Er hat mir keine Ruhe gelassen. Er bestand darauf, jeden Tag Hausaufgaben mit mir zu machen, nach draußen zum Spielen zu gehen… Obwohl er selbst seine Mutter verloren hat, hat er sich so schnell aufgerappelt. Er muss sie schrecklich vermisst haben. Als Marit eine Phase hatte, in der sie sich gewünscht hat, wieder hören zu können, da hat er sie aufgemuntert. Er hat ihr immer gepredigt, dass sie nicht minderwertig ist, nur weil sie nicht hören kann. Kolja ist es nie müde geworden, Marit ihre Stärken zu zeigen und sie wieder aufzubauen. Als ich meinen Unfall hatte, hat mein Sohn sich um alles gekümmert. Er ging zur Schule, ging jobben, besuchte mich, machte Hausaufgaben mit seiner Schwester. Ich habe früher viel Basketball gespielt. Nach dem Unfall ging das natürlich nicht mehr. Kolja hat mich ermutigt, eine Mannschaft zu trainieren. Heute spiele ich selber nicht mehr, aber ich arbeite mit Jugendlichen und Kindern, die im Rollstuhl sitzen und trotzdem Sport machen wollen. Kolja wird wieder aufstehen. Nicht für sich selbst. Aber für mich und seine Schwester. Und für dich. Weil er nicht will, dass du dir die Schuld an irgendetwas gibst…« Jannis spürte einen dicken Kloß im Hals. Er sah den kleinen, blonden Jungen vor sich, der seinen Vater aufmunterte, obwohl es ihm selbst schrecklich ging. Er sah einen jugendlichen Kolja, der für seine kleine Schwester Mittagessen kochte und ihr bei den Matheaufgaben half. Mit hämmerndem Kopf und tonnenschwerem Herzen schloss er die Augen. Er hatte Kolja immer abgewiesen und plötzlich hatte er das Gefühl, den Jüngeren überhaupt nicht verdient zu haben. »Sei einfach bei ihm… und dann wird er wieder aufstehen. Ok?« Jannis öffnete die Augen und sah, dass Herr Reichenau wieder zur Tür gefahren war und sie nun öffnete. »Ok«, murmelte Jannis heiser und dann ging die Tür zu und er blieb allein mit seinen Gedanken an Koljas Augen, die sein Leben lang schon so gefunkelt haben mussten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)