Papierherz von Ur (Bleistiftspuren bleiben) ================================================================================ Kapitel 14: Sturz ins Fieber ---------------------------- Für meine Lisa, die mir bei dem Kapitel so schön Gesellschaft geleistet und es Korrektur gelesen hat :) *anlieb* Viel Spaß beim Lesen wünsche ich euch und einen schönen Sonntag! Liebe Grüße :) _____________________________ Er hatte es getan. Jannis konnte es nicht fassen. Er fragte sich, was zum Henker in seinem Gehirn schief gelaufen war, als er sich dazu entschlossen hatte. Es schneite, aber der Schnee blieb nicht liegen und machte die Straßen nass und glänzend. Jannis hatte eine Kapuze über den Kopf gezogen und unglaublich schlechte Laune im Gepäck. Nicht wegen des Schnees, sondern auch wegen des Inhalts seiner Tasche. Da waren nicht nur sein Ordner drin, sein Orangensaft und seine Stifte mitsamt Portemonnaie. Unfasslicherweise waren da auch noch Unterlagen, die er nicht für sich selbst besorgt hatte. Nein, er mutierte ebenfalls zum Stalker. Kolja hatte ihn angesteckt. Jannis hatte Kolja die Erkältung übertragen und Kolja hatte Jannis sein Stalker- Gen mitgegeben. Er war die letzte Woche durch die Uni getigert, hatte Unterlagen eingesammelt, nachdem er herausgefunden hatte, welche Pflichtveranstaltungen die Erstsemesterstudenten hatten. Dann war ihm eingefallen, dass Kolja ja nicht nur Germanistik studierte, sondern auch noch Geschichte. Es hatte ihn jeden Tag an die zwei Stunden gekostet, auch noch die Geschichtssachen zu besorgen, von denen er nicht nur wenig Ahnung hatte, sondern von denen er sich nicht einmal sicher war, dass Kolja sie überhaupt brauchte. Es war bereits dunkel und Jannis hatte normalerweise sehr viel bessere Dinge zu tun, als zu Koljas Haus zu gehen und… Innerlich fluchte er. Am besten wäre es, wenn Koljas Vater aufmachen würde. Mit dem konnte er sich verständigen und dann würde er ihm einfach die Unterlagen in die Hand drücken und wieder verschwinden. Mit ein wenig Glück hatte der Typ seinen Namen vergessen und würde nicht in der Lage sein, Kolja zu erzählen, wer die Sachen gebracht hatte. Rein hypothetisch klang das wunderbar. Praktisch gesehen war es allerdings nicht machbar. Jannis hatte zum Beispiel vergessen, den Hund mit in seine Berechnungen einzubeziehen, der seine Ankunft derartig laut ankündete, dass Jannis sich gewundert hätte, wenn nicht die gesamte Straße es gehört hatte. Allerdings war es diesmal scheinbar ein freudiges Bellen, da der Hund ihn auf wundersame Weise erkannte. Jannis wusste nicht, ob er sich darüber freuen sollte. Während Penny um ihn herumwuselte und an seiner Tasche schnupperte, ging Jannis auf die Haustür zu und blieb einen Moment davor stehen. Er konnte immer noch umdrehen und die Unterlagen in die nächstbeste Altpapiertonne werfen. Aber gerade, als er sich entschlossen hatte, dass dies womöglich die beste Idee war, wurde die Tür geöffnet und Jannis sah sich Koljas Vater gegenüber. Immerhin, dieser Teil des Plans hatte geklappt. »Ah, Jannis!«, sagte Herr Reichenau scheinbar bestens gelaunt, rollte zur Seite und Penny hechtete an ihm vorbei ins Haus. Er hatte Jannis’ Namen also nicht vergessen. Wie viel Pech konnte ein Mensch eigentlich haben? »Hallo«, sagte er etwas steif und wühlte in seiner Tasche herum, »ich wollte nur ein paar Unterlagen vorbeibringen.« Er hielt Koljas Vater den fein säuberlich sortierten Zettelwust hin. Der war einen Moment lang überrascht, dann winkte er Jannis ins Haus. »Komm doch rein, es ist kalt«, sagte er und es klang nicht wie eine Frage. Jannis kämpfte mit sich. Vielleicht war Kolja zu krank, um aufzustehen und dann könnte er ganz unbemerkt wieder von hier verschwinden…? Er trat ein, schloss die Tür hinter sich und zog sich die Schuhe aus. Herr Reichenau wartete hinten im Flur. »Willst du die Jacke nicht auch noch ausziehen?«, wollte er freundlich wissen. Jannis hätte gern ‚Nein’ erwidert, aber das erschien ihm doch zu unhöflich. Also pellte er sich aus seiner Jacke und seinem Schal und folgte Koljas Vater mit seiner Tasche und den Unterlagen ins Wohnzimmer. Aus einem Zimmer weiter hinten im Haus dröhnte laute Musik. Jannis setzte sich auf die äußere Sofakante und umklammerte die Unterlagen in seiner Hand. Herr Reichenau lenkte seinen Rollstuhl zurück in Richtung Flur. »Willst du was trinken?«, erkundigte er sich. Jannis seufzte und ergab sich seinem Schicksal. »Orangensaft?«, gab er matt zurück und Koljas Vater nickte lächelnd und verschwand in Richtung Küche. Jannis starrte hinaus in den Garten und beobachtete, wie die Flocken vom dunklen Himmel regneten und auf der beleuchteten Terrasse landeten und sofort schmolzen. Gerade als er sich fragte, ob Kolja eventuell mit hohem Fieber im Bett lag und nicht mitgekriegt hatte, dass jemand gekommen war, da wurde die Musik noch etwas lauter, so als hätte jemand eine Tür geöffnet und dann… »Jannis?« Er zuckte zusammen, als er Koljas Stimme vernahm. Dies war sein Ende. Alles war vorbei. Wie war er nur auf den schwachsinnigen Gedanken gekommen, hier her zu gehen und Kolja Unterlagen vorbei zu bringen? Er hasste sein Leben. Er hätte einfach gleich wieder gehen sollen. »Hallo«, sagte er abweisend und spürte zu seinem Ärger, dass sein Gesicht heiß wurde. »Ah, Kolja«, sagte Herr Reichenau in diesem Augenblick und kam mit einem Glas Orangensaft zu Jannis herüber gerollt, »Jannis ist hier, um dir Unterlagen zu bringen.« Mit diesen Worten drückte er Jannis das Glas in die Hand, strahlte kurz von seinem Sohn zu Jannis und verschwand dann im Flur. Schweigen machte sich breit, während Kolja ihn anstarrte und Jannis wiederum eisern in den Saft hinunter blickte, der ihm gerade gereicht worden war. »Willst du kurz mit in mein Zimmer kommen?«, fragte Kolja zögerlich und Jannis verfluchte sich selbst und Koljas Vater und Kolja. Dann stand er auf und balancierte den Saft und die Unterlagen hinüber zu Kolja. Der ging ihm voraus zu der Tür, hinter der die laute Musik hervor dröhnte. Jannis erkannte Queen. »…Don’t stop me now, I’m having such a good time…« »Du hörst Queen? Ich dachte die Jugend von heute steht auf Techno und HipHop«, sagte er matt. Kolja stutzte einen Moment, die Hand am Lautstärkeregler einer uralt aussehenden Stereoanlage. Dann lachte er und drehte die Lautstärke herunter. »Die Jugend von heute? Du bist doch nur zwei Jahre älter als ich«, sagte er amüsiert, kam zu Jannis herüber und schloss die Tür hinter ihm. Jannis stand etwas verloren inmitten von Koljas Zimmer. Ihm wurde erst einen Augenblick später klar, dass er hier das erste Mal Koljas Privatsphäre betreten hatte. Unweigerlich schaute er sich um. Es war ein großes, helles Zimmer mit Ahornparkettboden und zwei breiten Fenstern. Über dem zerwühlten Bett hing ein übergroßes Poster von Queen, am Kopfende prangte ein riesiges Aquarellbild, das wie ein Abbild des Familienfotos im Flur aussah. Jannis starrte es an. »Hat Marit gemalt«, erklärte Kolja beiläufig und ließ sich auf ein quietschgrünes Sofa sinken, das vor einem ziemlich ramponiert wirkenden Holztisch stand. »Sieht gut aus«, sagte Jannis und konnte nicht umhin, beeindruckt zu klingen. Die Regale waren voll gestopft mit Büchern aller Art. Bildbände, Sachbücher, Biographien, historische Atlanten, Sammelbände von bekannten Schriftstellern… Jannis kam sich vor wie in einer Mini- Bibliothek. Er hätte nie gedacht, dass Kolja so viele Bücher besaß. »Willst du dich nicht setzen?«, fragte Kolja und deutete auf den Platz direkt neben sich. Jannis kam zögernd zu ihm herüber. Kolja trug eine graue, ausgeleierte Jogginghose und einen dicken Wollpulli. Seine Nase war etwas gerötet, aber ansonsten sah er ziemlich gesund aus. Nachdem Jannis sich schließlich gesetzt hatte, stellte er das Glas umsichtig auf dem Tisch ab und fragte sich dunkel, was er eigentlich in diesem Zimmer zu suchen hatte. In einem fast bis zur Decke reichenden Regal standen abgesehen von weiteren Büchern ein alter Plattenspieler und eine Sammlung von uralt aussehenden Schallplatten. »Pa meinte irgendwas von Unterlagen?«, sagte Kolja in einem beiläufigen Ton. Er klang ein wenig heiser, so als hätte er die letzten Tage ständig husten müssen. Jannis spürte, wie sein Gesicht eine garantiert dunkelrote und sehr auffällige Farbe annahm und er warf die geordneten Unterlagen schnaubend in Koljas Schoß, sodass sie alle auseinander flatterten und teilweise auf dem Boden landeten. Kolja sammelte jedes Blatt sorgsam ein und blätterte dann mit einem Gesichtsausdruck ungläubiger Dankbarkeit durch die Unterlagen. »Da sind ja sogar Skripte aus meinen Geschichtsvorlesungen dabei«, sagte er verwundert und blickte auf. Jannis grummelte nur, verschränkte die Arme vor der Brust und starrte auf sein unberührtes Glas Orangensaft. Unpassenderweise musste er an die letzte Begegnung denken, die in seinen eigenen vier Wänden stattgefunden hatte. Ein Kribbeln machte sich in seinem Körper breit und der durchdringende Blick, den Kolja ihm aus meerblauen Augen zuwarf, half ihm nicht besonders, den Gedanken daran zu vertreiben. »Ja. Hat lange gedauert, das alles zusammen zu suchen«, brummte er und wagte einen Blick hinüber zu Kolja. Der sah aus, als würde er sich mit aller Macht davon abhalten, jetzt sehr breit zu strahlen. »Das hättest du nicht… also… vielen Dank«, sagte Kolja leise, als wüsste er nicht genau, wie er sich verhalten sollte. Jannis konnte sich denken wieso. Immerhin hatte er versprochen, Jannis nicht mehr auf den Keks zu gehen. Plötzlich kam ihm diese ganze Abmachung unglaublich dämlich vor. »Kein Problem«, sagte er abweisend. Kolja schwieg eine Weile lang und Jannis griff endlich nach seinem Orangensaft, um zwei Schlucke zu trinken. Jannis dachte daran, wie sie sich geküsst hatten. Wie Kolja ihn festgehalten hatte. Plötzlich fühlte sich sein Hals sehr trocken an und seine Finger schlossen sich zu Fäusten. Sein Körper erinnerte sich an all die letzten Nächte, in denen er… er sollte nicht daran denken! Aber ihm wurde unweigerlich heiß und er spürte deutlich, wie ein Teil seines Körpers sich wünschte, dass es noch einmal passierte. Dass noch mehr passierte. »Ich wollte mich noch mal bei dir entschuldigen«, sagte Kolja dann plötzlich und legte seine Unterlagen auf den Tisch, »weil ich dir so oft auf den Schlips getreten bin. Ich wollte dich wirklich nur besser kennen lernen und dachte… ach na ja… es tut mir jedenfalls Leid, wenn ich dich zu sehr bedrängt hab.« Jannis starrte ihn an. Koljas Augen waren direkt auf ihn gerichtet, aber er sah eindeutig verlegen aus. Jannis war auf einmal empört darüber, dass Kolja sich entschuldigte. Erst mischte er sein ganzes Leben auf, brachte alles durcheinander und jetzt tat es ihm Leid? Hätte er sich das nicht vorher überlegen können? »Das fällt dir ja früh ein«, sagte er aufgebracht. Kolja wirkte ziemlich betreten. »Na ja… du hast deine Grenzen überschritten und mich geküsst, nur damit ich dich in Frieden lasse. Da ist mir klar geworden, dass ich vielleicht etwas… übertrieben habe«, sagte er und klang irgendwie niedergeschlagen. Als würde er es wirklich bereuen, dass er es verbockt hatte. Jannis’ Kopf kämpfte mit aller Macht gegen seinen Körper an. Der schrie nach Berührung und Küssen und Festgehaltenwerden. »Ach so? Dann tut es dir also Leid, dass du mich geknutscht hast?«, fragte er aufgebracht. Kolja blinzelte erstaunt und legte den Kopf schief. Die blauen Augen wirkten offen. Ehrlich verwundert. Wieso musste dieser Volltrottel ihn so ansehen, als würde er ihn wirklich mögen? Als wäre er wirklich interessiert an ihm? Jannis wollte sich die Haare raufen, wollte Kolja küssen, wollte aufstehen und gehen und sich von der nächstbesten Brücke stürzen, damit dieses Gefühlschaos aufhörte. Sein Körper hatte nichts zu sagen. Das hatte er noch nie gehabt. Wieso sollte es jetzt anders sein? »Nein. Es war… ein toller Kuss«, murmelte Kolja und senkte zum ersten Mal den Blick. Jannis spürte, wie ihm noch heißer wurde. Seine Finger krallten sich einen Moment lang in seine Hose. Dann richtete er sich halb auf und beugte sich mit hämmerndem Herzen hinüber zu Kolja, dessen Kopf nach oben ruckte. »Bist du noch ansteckend?«, brummte Jannis. Sein Herz sprengte ihm fast die Rippen. Sein Körper seufzte hingerissen, als er Koljas Geruch wahrnahm. Kolja schüttelte den Kopf und sah Jannis an, als wäre er hypnotisiert. »Hab Antibiotikum genommen«, nuschelte er. Jannis wusste, dass es absolut wahnsinnig war, was er hier gerade tat. Dass er so etwas noch nie getan hatte. Er hatte noch niemals jemanden aus freien Stücken von sich aus geküsst. Aber dann war es auch schon zu spät und er hatte seine Lippen auf Koljas Mund gelegt. Es war mehr ein Fragen als ein Kuss. Jannis hatte die Augen geschlossen, weil er sich nicht traute, in Koljas Gesicht zu sehen. Sein Körper schrie nach mehr. Seine Gedanken überschlugen sich. Koljas Lippen waren weich und nachgiebig und warm. Er schmeckte nach Cola. Jannis hasste Cola. Und er hasste Kolja. Ja, abgrundtief hasste er diesen jungen Mann, der ihn in diese körperliche Verwirrung gestürzt hatte. Er hasste diesen jungen Mann, der ihn so behutsam küsste, dass Jannis’ Körper schier wahnsinnig wurde vor Verlangen. Und dann war es plötzlich wieder vorbei. »Meinst du, dass das eine gute Idee ist?«, wisperte Kolja sehr heiser. Jannis hätte ihm zu gern seine Faust ins Gesicht geschlagen. Stattdessen rückte er näher, brummte ungehalten und presste seine Lippen verlangend auf die seines Gegenübers. Kolja schien das als ‚Ja’ zu deuten, denn plötzlich schlang er die Arme um Jannis, zog ihn näher zu sich, strich mit den Fingern fahrig über Jannis’ Rücken. Sie küssten sich so heftig, dass Jannis beinahe in Koljas Armen zerschmolz. Seine Hose wurde eng und ein Keuchen entfloh seiner Kehle, als er Koljas Zunge an seinen Lippen fühlte. Koljas Finger stahlen sich unter seinen Pullover, die Fingerspitzen huschten über Jannis’ erhitzte Haut, die bei der tastenden Berührung aufseufzte. Sein Denken schaltete sich aus. Er spürte Koljas Zunge, die nach seiner suchte, spürte, wie ihre Körper sich aneinander schmiegten und wie Kolja ihn Stück für Stück noch näher zu sich zog. So als wollte er ihn nicht mehr loslassen. So als würde es ihm wirklich etwas bedeuten. Jannis’ Herz überschlug sich. Er wusste nicht wohin mit all seinen Empfindungen. Eine Hand stahl sich in seinen Nacken, zwang ihn tiefer in den Kuss. Seine Lippen brannten, sein ganzer Körper stand in Flammen. Koljas andere Hand glitt über seinen Bauch, fuhr den Hosenbund entlang. Jannis schnappte nach Luft, als Koljas Finger kaum merklich über seinen Schritt huschten. Doch dann war die Hand wieder verschwunden, vergrub sich in Jannis’ Haaren, streichelte ihn im Nacken. Koljas Atem ging sehr schnell, Jannis spürte den Herzschlag des anderen an seiner eigenen Brust. Koljas Herz hämmerte genauso sehr wie Jannis’. Sie küssten sich und küssten sich… und Jannis wollte nicht mehr aufhören. Nie mehr. Die Wärme, die ihn durchflutete, das leichte Zittern, die betäubten Gedanken… Jannis hatte keine Ahnung, wie lang er halb auf Kolja lag und wie lang sie sich küssten. Im Hintergrund sang Freddie Mercury »Oh, love, oh lover boy…«. Irgendwann wagte Jannis es, sich von Kolja zu lösen und seine Brille abzunehmen. Die blauen Augen musterten ihn fiebrig. Koljas Gesicht war ganz heiß. Jannis räusperte sich verlegen und legte seine Handfläche auf Koljas Stirn. »Hast du Fieber?«, fragte er krächzend. Kolja lächelte. »So was Ähnliches vielleicht«, flüsterte er. Dann zog er Jannis erneut zu sich herunter und küsste ihn. Küsste ihn bis tief in die Nacht, bis Jannis’ Lippen beinahe wund geküsst waren, und bis sein Körper beinahe unerträglich kribbelig und sensibel wirkte. Wie sollte er so schlafen? Wie sollte er nach Hause kommen mit seinen Beinen, die sich anfühlten, als wären sie aus Gummi? »Ich werd dann… langsam mal…«, krächzte er. Seine Stimme schien sich verabschiedet zu haben. Er hatte sie wohl zu lange nicht benutzt. Kolja grummelte. »Kannst du nicht… bleiben?«, fragte er und tupfte seine Lippen auf Jannis’ Wangenknochen, seine Nasenwurzel und seine Stirn. Jannis’ Haut konnte sicher bald kein Kribbeln mehr vertragen. Womöglich würde sie sich jeden Augenblick in Brausetabletten auflösen. »Nein«, murmelte er und setzte sich auf. Die CD war wieder bei »Don’t stop me now« angelangt. Jannis hatte keine Ahnung, zum wievielten Mal sie das Album durchgehört hatten. Aber ein Blick auf seine Uhr verriet ihm, dass es kurz vor elf war. Er konnte es nicht fassen. Er hatte fast drei Stunden am Stück hier gelegen und sich mit einem Kerl geküsst, den er nicht ausstehen konnte. Sein Leben hatte eine Macke. Er stand auf und taumelte leicht zur Seite weg. Seine Knie waren Pudding. Soviel stand fest. Kolja rappelte sich ebenfalls auf und fuhr sich über das Gesicht. Seine Lippen waren ziemlich gerötet, die Augen immer noch glasig und Jannis’ Augen huschten unweigerlich zu Koljas Schritt hinunter und Jannis wurde sehr deutlich bewusst, dass er nicht der Einzige mit einem Problem in der Hose war. Kolja grinste verlegen. »Du bist Schuld«, sagte er und kam zu ihm herüber. Jannis räusperte sich verlegen und bückte sich nach seiner Brille. »Ich hab… überhaupt nichts gemacht«, grummelte er und spürte, wie seine Wangen erneut aufflammten. Seine Lippen kribbelten. Kolja umarmte ihn von hinten und Jannis spürte überdeutlich Koljas Unterkörper, der sich leicht an ihn drückte. Ihm wurde leicht schwindelig. Vermutlich würde er die ganze Nacht davon träumen. Herrgott, wieso war er so anfällig? Koljas Lippen strichen seinen Hals entlang, während Jannis versuchte, seine Brille wieder aufzusetzen, ohne sich einen der Bügel ins Auge zu rammen. »Heißt das jetzt, dass ich doch eine Chance bekomme?«, flüsterte Kolja in seinen Nacken. Jannis bekam eine heftige Gänsehaut. Er konnte nichts anderes erwidern als ein klägliches, zittriges »Hm«. Kolja drehte ihn zu sich herum und drückte ihm erneut einen Kuss auf den Mund, dann löste er sich von ihm und lächelte. Seine Augen funkelten wie die Mittagssonne auf dem Meer. Jannis fand diesen kitschigen Vergleich zum Kotzen. »Danke noch mal für die Unterlagen«, nuschelte Kolja, »ich bring dich noch zur Tür.« Jannis nickte benommen. Dann nahm er seine Tasche, warf einen letzten Blick auf das quietschgrüne Sofa, ehe er Kolja durch den Flur folgte, wo er sich seine Jacke und seine Schuhe anzog. »Wann seh’ ich dich wieder?«, fragte Kolja. Jannis griff fahrig nach der Türklinke. Sein Herz überschlug sich beinahe. Was war das, wo er sich hinein geritten hatte? Wo steuerte er eigentlich hin? »Weiß nicht«, gab er unsicher zurück. Er erwischte die Türklinke. Ein eisig kalter Wind und Schneeflocken schlugen ihm entgegen. Kolja ging rasch hinüber zu der Kommode, kramte in einer der Schubladen und schrieb etwas auf einen kleinen, grünen Post- It Zettel. Grün wie das Sofa. »Meine Handynummer«, sagte Kolja und er sah schon wieder verlegen aus. Wenn er so verlegen war, konnte Jannis ihn kaum noch furchtbar finden. »Du kannst mir… ja einfach schreiben, wenn dir danach ist. Oder, wenn du zu Hause angekommen bist«, meinte er und klang ungeheuer hoffnungsvoll. Jannis schluckte schwer, doch dann rang er sich ein Nicken ab, wandte sich ab und stapfte hinaus in den Schneesturm. Er wusste, dass es eisig kalt war, doch er fror einfach nicht. Sein Körper fühlte sich immer noch hitzig von all den Küssen an. Oder war es nur ein Kuss gewesen? Er merkte kaum, wie er zu Hause ankam, wie er sich auszog und sofort ins Bett fiel. Den kleinen grünen Post- It Zettel hatte er zwischen den Fingern und er kramte schließlich sein Handy hervor. Zögernd tippte er die Nummer mitsamt Koljas Namen ein und speicherte sie. Jetzt hatte er drei Telefonnummern in seinem Adressbuch. Nachdenklich starrte er darauf. Beim Klang von Koljas Namen in seinem Kopf wurde ihm schon wieder heiß. Schließlich tippte er vier Worte und schickte die SMS ab, ehe er sein Handy auf den Nachtschrank legte. »Bin zu Hause angekommen.« Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)