Papierherz von Ur (Bleistiftspuren bleiben) ================================================================================ Kapitel 6: Kleiner als Drei --------------------------- Achtung: Dieses Kapitel spielt lange vor Jannis' Studiumszeit. Er ist in diesem Kapitel etwa 13 Jahre alt. Viel Spaß beim Lesen und nochmals danke für all die lieben Reviews! Liebe Grüße :) ________________________________ »Herr und Frau Clemens kommen zum Tee, ich möchte, dass du dich anständig anziehst.« Jannis saß auf seinem Bett und starrte auf den sterilen Dielenboden. Seine Brille hatte er abgenommen und – auf Wunsch seiner Mutter – gegen Kontaktlinsen getauscht. Er trug eine schwarze Stoffhose und ein kurzärmliges, weißes Hemd. Wenn er in den Spiegel sah, kam er sich vor wie verkleidet, als würde er zum Fasching als Bürgermeister gehen. Es fehlte nur noch die Fliege. Lustlos stand er auf und trat hinüber zum Balkon, der von seinem Zimmer hinaus in Richtung Garten führte. Draußen konnte er Frank erkennen, ihren Gärtner. Er war gerade dabei, die Rosenbüsche zu beschneiden und Jannis meinte einen besonders konzentrierten Ausdruck auf seinem Gesicht zu sehen. Seiner Mutter waren die Rosen heilig und Jannis fühlte sich bei diesem Aspekt jedes Mal an die Herzkönigin aus Alice im Wunderland erinnert – die er nie gemocht hatte. »Jannis! Es ist fünf vor drei, kommst du bitte runter?«, hörte er die Stimme seines Vaters von unten herauf rufen. Jannis seufzte leise, wandte sich von dem sonnigen Garten ab und durchquerte sein großes, sorgfältig aufgeräumtes Zimmer, öffnete die Tür und schlüpfte in seine Hausschuhe, ehe er die Marmortreppe hinunter ins Wohnzimmer ging. Der Tisch war bereits sorgfältig gedeckt. »Sie bringen ihre Tochter mit«, sagte sein Vater, der ebenfalls ein Hemd trug und eine geschäftliche Miene aufgesetzt hatte, »sei nett zu ihr. Sie ist in deinem Alter, ihr versteht euch sicher gut.« Jannis hatte nie verstanden, was das Alter damit zu tun hatte, inwiefern man sich mit einem anderen Menschen gut verstand. Er verstand sich gut mit Frank und der war mindestens dreißig Jahre älter als er. Mit den meisten Leuten in seinem Alter verstand sich Jannis überhaupt nicht. Eigentlich mit allen. Menschen lagen ihm nicht. Jannis seufzte innerlich. »Wie heißt sie denn?«, wollte er wissen. Sein Vater warf ihm einen Seitenblick zu. »Jessika«, entgegnete er knapp. Wie sich fünf Minuten später herausstellte, war Jessika gar nicht so übel. Sie war auch nur ein Mensch und Jannis kam mit Menschen einfach nicht gut aus, aber sie war nicht so hochnäsig wie ihre Eltern und sie schien genauso wenig Lust auf Schwarzwälderkirschtorte und schwarzen Tee zu haben wie er selbst. Also ging er mit ihr in den Garten und erntete dafür einen zufriedenen Blick von seinen Eltern. Diese Blicke bekam er selten. Beinahe nie. Gute Noten in Deutsch wurden natürlich gut geheißen, aber seine miserablen Noten in Mathe und die durchschnittlichen Noten in Politik, Sport und den anderen Naturwissenschaften konnten dadurch scheinbar nicht genügend ausgebügelt werden. Jessika und er und ließen sich auf den blitzblanken Gartenmöbeln auf der Terrasse nieder. »Ihr habt ein ziemlich großes Haus«, stellte Jessika fest. Sie hatte langes, hellbraunes Haar, trug ein gelbes, sommerliches Kleid und weiße Sandalen. »Ja. Ihr doch sicher auch, oder?«, entgegnete er leicht abwesend und beobachtete, wie Frank sorgfältig Unkraut hinten am weiß- gestrichenen Zaun jätete. »Ja, aber es ist nicht ganz so schön und hat auch nicht so einen tollen Garten«, erklärte Jessika. Sie hatte einen frechen Unterton in der Stimme. Jannis kannte diesen Ton von vielen Mädchen in seinem Alter. Die meisten, die in diesem Ton sprachen, wollten immer die Aufmerksamkeit von Jungs, sie kicherten und lachten schrill und wurden es nicht müde, sich hübsch zu machen, damit die Jungs dumme Sprüche über ihren Körper machten. Jannis schien das ein befremdlicher Lebensinhalt zu sein. »Der Garten ist das schönste daran«, murmelte er. Er mochte den Garten. Eigentlich war der Garten wirklich das einzige, was er an diesem Haus mochte. Der Nachmittag zog sich hin wie zähes Kaugummi – oder wie eine besonders anstrengende Mathestunde. Jessika und er verbrachten die meiste Zeit draußen im Garten. Sie redete, er hörte zu – oder er schaltete auf Durchzug. Sie schien ziemlich begeistert von ihm zu sein. Wahrscheinlich, dachte Jannis sich dunkel, weil Jungs ihr sonst nie solange zuhörten. Schließlich mussten sie doch eine Tasse Tee trinken und Jannis zwang sich dazu, die Schwarzwälderkirschtorte zu probieren. Er fand sie furchtbar, verzog aber keine Miene, während er sein Stück aß. »Ich denke, das ist ziemlich gut gelaufen«, sagte sein Vater zufrieden, als Jessika und ihre Eltern gegangen waren. »Habt ihr euch gut verstanden?«, wollte er dann wissen und in seinen Worten lag der Nachsatz ‚Das will ich doch hoffen!’. Jannis nickte nur. Er wollte sich gerade umdrehen und in sein Zimmer verschwinden, um ein wenig zu lesen, als seiner Mutter etwas einfiel. »Wir wollten noch mit dir über dein letztes Zeugnis reden«, sagte sie. Jannis erstarrte. Die Fünf in Mathe prangte wie eine Leuchtschrift über seinem Kopf. Eine Fünf in Mathe war unentschuldbar. Mathe war schließlich wichtig. Genauso wie Politik und Wirtschaft. »Es wird wirklich Zeit, dass du dir mehr Mühe gibst«, sagte sein Vater tadelnd. Jannis hatte ihm schon gefühlte vierhundert Mal erklärt, dass er sich wirklich bemühte. Er verstand es einfach nicht. Nüchterne Zahlen und steife, unausweichliche Lösungswege waren nichts für ihn. Er liebte es, in Bücher und Geschichten und Gedichte abzutauchen und zu vergessen, dass er jemand war, an den unerfüllbare Erwartungen gestellt wurden. Er liebte den Deutschunterricht mehr als alles andere und dass er gut in Englisch und Geschichte und in Philosophie war, das interessierte alles nicht vor der einen Tatsache: Nämlich, dass er als Junge der schlechteste in Mathe war. »Ich bemühe mich«, sagte er resigniert. Er hasste diese Gespräche. Sie brachten ohnehin nie irgendetwas. »Anscheinend nicht genug. Die vier in Physik ist auch nicht viel besser«, fuhr seine Mutter fort und stemmte die Hände in die Hüften, wie sie es immer tat, wenn sie eine pädagogisch wertvolle Wirkung erzielen wollte. Diese Taktik war bisher noch jedes Mal fehlgeschlagen. »Und die Drei in Chemie-«, begann sein Vater. »Ich kenne mein Zeugnis«, fuhr Jannis dazwischen und sah trotzig zu seinen Eltern auf. Er kannte sein Zeugnis besser als die beiden. Sie schauten immer nur auf die schlechten Noten. »Sei nicht so frech«, zeterte seine Mutter sofort. Jannis zwang sich mit aller Macht dazu, nicht die Augen zu verdrehen und einfach zu gehen. Er hasste dieses Haus und er hasste diese Gespräche. Er hasste den Druck und Mathe und er hasste einfach alles an seinem Leben. Außer seine Bücher. Es hatte ihm schon immer gefallen, sich sein Herz als ein Stück Papier vorzustellen, wie eine Buchseite. Und Menschen kamen und gingen und schrieben mit Tinte etwas in sein Herz. Tinte verblasste schnell. Er hatte sich schon oft bei der Hoffnung ertappt, dass eines Tages jemand kam, der mit einem Bleistift etwas schrieb, das ihm erhalten blieb und nicht mehr verblasste. Zwei Tage später – ungefähr eine Woche nach Beginn der Sommerferien – kamen seine Eltern mit einer erschreckenden Erkenntnis zu ihm ins Zimmer. Sie hatten erkannt, dass er allein nie besser in Mathe werden konnte. Und damit man die Zeugnisse den Verwandten auch vorzeigen konnte und damit Jannis später einmal einen Durchschnitt von mindestens 1,3 auf seinem Abiturzeugnis schaffte, musste Nachhilfe her. Das musste selbstredend ein Geheimnis bleiben, dass der einzige Sohn von Herrn und Frau Hofstetter Nachhilfe in Mathe bekam. »Wir haben uns mit deinem Mathelehrer abgesprochen«, erklärte seine Mutter mit strengem Blick und ebenso strenger Frisur, »und er hat uns einen jungen Mann aus deinem Jahrgang empfohlen. Er soll ein wahres Genie sein.« Jannis konnte sich nicht vorstellen, dass ein Mathegenie ein Mensch sein sollte, mit dem er besser auskam als mit ‚normalen’ Menschen. Aber es gab keinen Weg aus diesem Dilemma und so sah er seine Sommerferien, die er fürs Lesen hatte nutzen wollen, verdorben von beinahe täglicher Mathenachhilfe. Entweder das unbekannte Mathegenie hatte keine Hobbys, keine Freunde, oder akuten Geldmangel. Wie sich bald herausstellte, war es keine dieser drei Möglichkeiten. Es war an einem Donnerstag, als es unten an der Tür klingelte. Jannis wusste, dass es das Mathegenie war und dass von ihm erwartet wurde, dass er hinunter ging, um ihn zu begrüßen. Also schlich er unmotiviert die Treppen hinunter und sah seine Mutter unten im Flur stehen. Neben ihr stand ein hagerer Junge mit dunklen Haaren und einem so verträumten Blick, dass es aussah, als wäre er zufällig hereingeschneit. Seine Mutter sah eindeutig sehr skeptisch aus. Der Junge trug verblichene Jeans und ein ausgeleiertes T-Shirt. Alles in allem war er das Merkwürdigste, was dieses Haus jemals betreten hatte. »Ich bin Jannis«, sagte er immer noch verwundert über diese unerwartete Erscheinung. Der Junge wandte ihm den Blick zu und musterte ihn interessiert. »Schöner Name«, sagte der Fremde und betrachtete ihn von oben bis unten. Jannis spürte, wie er rot wurde. Der Fremde hatte einen osteuropäischen Akzent. Er rollte das ‚R’ beim Sprechen. »Viel Erfolg«, sagte seine Mutter irritiert. Jannis wusste, dass sie sich fragte, ob dieser Junge überhaupt ein Fünkchen Intelligenz in sich barg. Während sie ins Wohnzimmer verschwand, zog der Junge seine durchgelaufenen Turnschuhe aus und stellte sie sorgfältig neben die Pumps seiner Mutter. »Das Haus ist groß. Wenn man den Boden einfrieren würde, dann könnte man Schlittschuhlaufen«, erklärte er und schritt an Jannis vorbei, sich neugierig umsehend. Jannis starrte ihm nach, dann folgte er ihm. Völlig unbegreiflicherweise ging er die Treppe hinauf, ohne zu wissen, wo es eigentlich lang ging. »Hey, woher weißt du, wo mein Zimmer ist?«, fragte er verwirrt. Der Junge lachte leise. »Weiß ich nicht. Aber ich will den Garten von oben sehen«, entgegnete er, betrat Jannis’ Zimmer und ging hinüber zum Balkon. Jannis wusste nicht, was er sagen sollte, also schloss er die Tür, setzte sich einfach auf sein Bett und beobachtete seinen neuen Nachhilfelehrer dabei, wie er in den großen Garten hinaus sah. »Rosen erinnern mich immer an Alice im Wunderland«, sagte er verträumt, wandte sich um und setzte sich auf den Dielenboden. Er zog eine zerschlissene Tasche von seiner Schulter und packte Papier, Stifte und ein ziemlich zerfleddertes Buch aus. Jannis starrte ihn an. »Mich auch«, sagte er vollkommen perplex. Der Junge lächelte ihm verschwommen zu und klopfte vor sich auf den Boden. Jannis zögerte, dann stand er auf und ließ sich ihm gegenüber nieder. Er hatte noch nie zum Lernen auf dem Fußboden gesessen und hatte auch keine Ahnung, wozu das gut sein sollte, wenn er doch einen Schreibtisch hatte. »Magst du Mathe?«, erkundigte sich sein Gegenüber interessiert und griff nach einem Bleistift. »Ich hasse Mathe«, gestand Jannis. Der Junge gluckste leise. »Ich heiße Marek«, entgegnete sein Nachhilfelehrer. Jannis nickte. Marek verwirrte ihn immer mehr. Er war so ziemlich der seltsamste Mensch, den Jannis je gesehen hatte. »Mathe ist schön. Es ist leicht, weil es immer nur richtig oder falsch gibt. Wenn das Leben schon so kompliziert sein muss, dann kann man doch froh sein, wenn wenigstens manche Sachverhalte so eindeutig sind«, sagte Marek gut gelaunt, klappte das Buch auf und schob es Jannis hin. »Rechne das da«, sagte er. Jannis blinzelte und starrte die Aufgabe an. »Ich kann das ni-« Marek streckte blitzschnell die Hand aus und legte sie Jannis auf den Mund. »Du willst nicht«, sagte er nickend. Jannis hatte keine Ahnung, wohin ihn diese Nachhilfe führen sollte, wenn Marek ihm nicht erklärte, was er eigentlich tun sollte. Auch in den nächsten Nachhilfestunden machte Marek keine Anstalten, Jannis irgendetwas zu erklären. Jannis war schon so weit zu glauben, dass Marek es selbst nicht konnte. Anstatt ihm Mathe zu erklären, erzählte Marek ihm Geschichten, stellte ihm Fragen und legte sich auf seinen Balkon, um die Wolken zu betrachten. Während Jannis sich mit den Aufgaben plagte und mühsam eine nach der anderen rechnete, döste Marek bei ihm in der Sonne. Wenn Jannis mit den Aufgaben fertig war, dann zog Marek den Block zu sich und betrachtete die Aufgaben. Er verbesserte Jannis nie, sondern strich die Lösungen durch, die falsch waren. Dann musste Jannis von vorn beginnen. Zwischenzeitlich übte Marek Kopfrechnen mit ihm. Jannis war miserabel im Kopfrechnen, vor allem, weil Marek unerhört große Zahlen von ihm multipliziert oder dividiert haben wollte. »Als könnte irgendwer solche Zahlen im Kopf rechnen«, sagte Jannis an einem Dienstagnachmittag, als er gerade einen neuen Zettel mit Kopfrechenaufgaben von Marek bekommen hatte. Marek lächelte kaum merklich und sah Jannis auffordernd an. Mittlerweile wusste Jannis genau, was Marek von ihm wollte, auch wenn er nicht sprach. »76895 – 6419?« »70476.« »384 * 27?« »10368.« »44907 / 53?« »Ungefähr 847,3.« Und zum ersten Mal begriff Jannis, was genau sein Mathelehrer gemeint hatte, wenn er Marek als Mathegenie betitelte. Marek sah nicht so aus, als wären diese Aufgaben für ihn etwas Besonderes und Jannis konnte ihn nur anstarren. Marek war ein merkwürdiger Junge mit einer ungewöhnlichen Begabung für Zahlen, Rechnungen und logisches Denken. Und da lag er auf seinem Dielenboden und lächelte ihn an. Jannis bemerkte, dass er es nicht schlimm fand, neben Marek auf dem Boden zu liegen und Matheaufgaben zu rechnen. Wenn er mit Marek hier in diesem Zimmer saß und Mathe lernte, dann ließ ihn das ebenso alles um ihn herum vergessen, wie seine Bücher. Er hatte Mathe immer gehasst. Einfach weil von ihm erwartet wurde, dass er es konnte. Aber Marek stellte keinerlei Erwartungen an ihn. Jannis hatte zum ersten Mal in seinem Leben einen Menschen gefunden, mit dem er zusammen sein konnte. Und beinahe ließ Marek ihn in diesen Mathenachhilfestunden vergessen, dass er nie wirklich eine richtige Familie gehabt hatte oder jemals haben würde. Während seine Eltern ihm mit Tinte immer nur ihre $- und §- Zeichen ins Papierherz gezeichnet hatten, war Marek mit einem Bleistift gekommen und hatte still und heimlich ein ‚kleiner als Drei’ daneben gesetzt. ____ Falls die 'Metapher' nicht richtig rüber gekommen ist: Kleiner als Drei = :) Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)