Lumiél von Voidwalker (Königreich der Monde) ================================================================================ Kapitel 9: Gezeitenwechsel -------------------------- Immer schon hatte er gespürt, dass er anders behandelt wurde. Seine hohe Geburt sei der Grund, so hatten es ihm die ängstlichen Kammerdiener erzählt. Doch er wusste einfach, dass sie ihn belogen. Die Naivität, die sich andere Achtjährige leisten konnten, war ihm rasch und mit harter, strenger Hand aberzogen worden. Mit anderen Kindern spielen? Gewiss nicht! Es gab Unterricht, zu jeder freien Stunde, Teilnahme an diplomatischen Besuchen und Protokollführungen. All die Dinge, die ihn tagtäglich langweilten. Doch heute war anders. Er hatte am morgen seine Amme erwischt, wie sie sich in das Zimmer seines Vaters zu schleichen versucht hatte. „Niemand stört den König!“ hatte er sie lauthals angeherrscht. Wenn selbst er Prügel bezog, weil er seines Vaters Schlaf störte, dann durfte es dieses Weibsbild erst Recht nicht! Wo käme der Staat denn hin, wenn jede Zofe und Magd tun und lassen dürfe, wie ihr der Sinn stand?! Am Nachmittag aber trieb er sich in den Gärten jenseits der Festung herum. Die Apfelbäume trugen ihre Früchte zur Schau und auch nur einen davon zu stehlen endete in der Regel damit, eine Hand zu verlieren. Dabei war es von des Königs Gnade abhängig, ob man den Verwandten und Freunden des Verurteilten zuvor noch die Gnade gewährte, Verbandszeug herbei zu bringen. Sollte die Strafe aber sofort vollstreckt werden, musste der Querulant oftmals zusehen, dass er zu einem Medicus kam, bevor ihm das Blut ausging. Er aber verlor sich zwischen den Wiesen in seiner Melancholie. Das rotblonde Haar setzte sich kurzgeschnitten und allzu chaotisch von der grünen Wiese ab und unterhalb der wachen Augen zog sich eine kleine Schar von Sommersprossen jenseits der Nasenflügel dahin. Er vermutete, dass man ihn deshalb anders behandelte. Doch heute wollte er es wissen. Hastig rappelte der Bursche sich auf, stürzte zum Eingang der Festung herauf – nur um rasch umzukehren und die Perücke aus dem Gras aufzulesen. Sein Vater mochte es nicht, wenn er sich ohne sie zeigte und ein kleiner Hof, da wurde mehr geflüstert als in der ganzen restlichen Stadt. Das falsche Haarteil zurecht schiebend und schon jetzt der sich aufstauenden Hitze wegen ächzend, raste der Junge wieder den Pfad herauf. Durch zahllose Korridore wanderte er, immer zügigen Schrittes über den dicken Samtteppich, aber ohne dabei zu rennen. Das letzte Mal hätte er fast eine Vase umgerannt und hatte auch dafür seine Rüge bekommen – drei Tage ohne Abendbrot zu Bett gehen. Er fand seine Amme beim Vorbereiten der Wäsche vor. Worte fielen, seine, ihre, er verstand sie nicht genau, zu undeutlich war alles, doch dann wurde mit einem Schlag der Schleier hinfort gerissen, die Welt klarte auf – und er hörte jenen einen Satz. „Bei Damaste, bei Eurer Geburt habe ich seiner Majestät schon mein Beileid ausgesprochen – Ihr tragt ein böses Omen und werdet uns nur Verderben bringen!“ Er spürte, wie er zu zittern begann, wie die Tränen in seinen Augen aufstiegen, hörte sich Verwünschungen spüren. Die Amme zuckte zusammen, erkannte, dass sie sich deutlich im Ton vergriffen hatte, und das zugleich der falschen Person gegenüber. Doch er war nicht fähig, seine Macht zu erkennen, die Möglichkeiten, die ihm offen standen, um sie zu bestrafen. Einzig fluchen tat er, dann stürmte er davon, seine wackelig gewordenen Beine trugen ihn schneller und schneller voran, bis hin zum Zimmer seines Vaters. Er drückte ungeniert die Klinken herab und stürmte in den Schlafsaal. „Ich bin nicht schlecht!“ keifte er den träge erwachenden Monarchen an. Erst die Reaktionslosigkeit seines Vaters versetzte ihm den eigentlichen Schlag. Tief in der Nacht schreckte Phillipe in seinem Bett auf. Wo war er? Was war geschehen? Der zwölfjährige Junge sah sich hektisch um. Sein Bett erkannte er. Dann die Portraits von seinem Vater an den Wänden, die edel eingefassten Türrahmen, die unbezahlbare Handwerkskunst der Stühle in der Raumecke, die antiquierte Kommode. Er war im Schloss, in seinem Zimmer. Mit schwerem Seufzen ließ er sich in die Kissen zurück fallen. Die kostbaren Nachtstunden waren dahin. Ein Alptraum, nicht mehr – das versuchte er sich einzureden. Aber er wusste, dass es das nicht war. Er war tatsächlich vor vier Jahren in das Zimmer seines Vaters gestürmt und hatte Prügel dafür bezogen, ihn zu wecken und obendrein sein Personal mit Fragen zu belästigen. Vorsichtig schob Phillipe die Füße aus dem Bett, schob sie unter seidenem Stoff teuerster Art aus fernen Ländern hervor und tippte mit leisen, vorsichtigen Schritten über die Dielen seines Zimmers zum Fenster. Der Mond stand klar und groß am Himmel, kaum eine der zahlreich verteilten Wolken wagte sein Antlitz zu verdecken. Damaste, die Herrin des Mondes, die Schutzpatronin der Familien, Hüterin der Kinder und Schwangeren. Im Stillen machte sich der Knabe Gedanken darüber, dass er seine Mutter nie kennen gelernt hatte. Ob er wirklich verflucht war? Er verstand es nach all den Jahren noch immer nicht. Durch seinen Ausbruch hatte sich nur eines geändert: Man mied ihn noch mehr. Die Kammerdiener schlichen vor ihm davon, sobald sie konnten, die Mägde senkten scheu den Blick und selbst seine Lehrer wagten nie, ihn zu berühren. Die Prügel auszuteilen, das war Aufgabe des königlichen Beraters. Ein fetter, feister Kerl mit fleischigen Pranken. Phillipe schüttelte sich vor Ekel. Sein Blick fiel dabei zur Seite, vorbei an edlem Mobiliar, hin zu der Kommode. Auf ihr ruhte ein Ständer, darauf fein drapiert die Perücke. Goldenes Haar, in schwungvollen Wellen und schulterlang. Er hatte sie erst hassen gelernt und dann versucht, sich mit ihr zu arrangieren. Was sollte er auch sonst tun? Vor drei Jahren hatte er sie verbrennen wollen. Und was war passiert? Man hatte ihn grob gepackt, stetig vor gehen lassen zum Gemach seines Vaters, immer an die Schulter geschubst, bis er dort vor einen Schrank gestellt wurde. Seine Majestät persönlich zog die Türen auf und verpasste ihm eine Schelle, dass er zu Boden geworfen wurde – noch ehe er begriff, dass er auf ein endloses Repertoire der ewig gleichen Perücken starrte. Er würde sie niemals los werden. Der Gedanke hatte ihn damals so hart getroffen, dass er überlegte, den Schrank in Brand zu stecken. Doch dabei hätte sein Vater sterben können und das wollte er nicht... trotz des Umstandes, dass dieser ihn nicht einmal als Mensch zu sehen schien. Die wenigen Stunden bis zum Morgengrauen zogen rasch dahin und Phillipe erwartete seinen Vater im Stillen. Er saß an der Kommode, starrte in den Spiegel. Rotblonde Haare, wirr und widerspenstig und lauter Punkte im Gesicht. Wie hatte er dieses Bild zu hassen begonnen. Niemand würde ihn so behandeln, wenn er nur anders aussehen würde! Es klopfte. Sein Vater trat ein, suchte ihn im Bett. Sein Blick fand ihn vor der Kommode. „Mach dich fertig.“ lautete die Begrüßung dieses Morgens. Kein Lob, das er so früh schon auf war. Wozu auch. Der Knabe begann stattdessen mit dem, was er gelernt hatte, was ihm bis zur Schmerzgrenze in endlosen Stunden von den Kammerdienern beigebracht worden war. Kämmen, parfümieren, anlegen, die Perücke aufsetzen, straff ziehen, nachprüfen. Dann kam das Puder. Es musste genug sein, um all die verräterischen Flecken verschwinden zu lassen. Die Prozedur dauerte fast eine Stunde – und das jeden Morgen. Dennoch empfand er eine gewisse Genugtuung dabei, das verhasste Gesicht immer mehr verschwinden zu sehen. Wenn er so hinaus trat, das hatte er inzwischen begriffen, dann war er kein 'Ding', kein 'dunkles Omen', wie seine Amme ihn damals genannt hatte. Dann war er seines Vaters Sohn, eine ernstzunehmende Persönlichkeit. „Du wirst heute lernen, wie die Mägde ihren Lohn verdienen.“ wies ihn des Königs Berater an. Schon früh am Morgen schnaufend und bei jedem Schritt keuchend, wälzte er sich den Gang herab. Phillipe durfte nicht zurück fallen und nicht voraus eilen, dann gäbe es Hiebe, aber neben diesem Monstrum zu laufen, machte ihm Angst. Er malte sich aus, wie es wäre, wenn dieses Ungetüm einfach umkippt. Der flachste Thronfolger der Welt. Seine schmächtige Gestalt schüttelte sich nicht einmal in einem unterdrückten Kichern, geschweige denn einem Lachen. Zu viel Zeit war darauf verwendet worden, ihm die Kontrolle über sich zu geben. Er Lachen und Kichern wie dumme Bauernkinder, das geziemte sich keines Thronerben. Dennoch empfand er ein gewisses Amüsement. Im Stillen – wie immer. Die Mägde waren heute also dran. Der Bursche wollte seufzen, konnte sich aber im letzten Moment beherrschen. Die Kammerdiener waren es letzte Woche, die Knappen die Woche davor. Wozu lernte er, womit sich der Pöbel herum trieb? Solange sie ihre Arbeit gut taten, sollten sie angemessenen Lohn bekommen und sobald sie das nicht mehr taten, gebührte dem faulen Pack sowieso nur die Peitsche oder der Strang. Zumindest dahingehend war sein Vater mit ihm zufrieden: Er zeigte die gleiche Härte, Konsequenz und Unnachgiebigkeit im Umgang mit einem Volk, das seinem Vater nach 'einfach eine starke Hand braucht'. Der Tag war noch nicht weit voran geschritten, da schlich Phillipe sich davon. Die Mägde hatten Angst vor ihm, das spürte er, und obwohl er das Gefühl mochte, langweilte es ihn doch zu sehr, sich ihre belanglosen Arbeiten den ganzen Tag anzuschauen. Stattdessen erkundete er die Burg. Weder sein Vater noch dessen Berater noch die Kammerdiener kannten jeden Raum darin und so war es nicht verwunderlich, dass der gelangweilte Bursche schließlich vor eine Tür trat, die bis dato nur einem Menschen bekannt war. Ein merkwürdiges altes Schloss versperrte den Durchgang. Mehrere Hebel und Riegel, die in scheinbar wahlloser Art an der Tür angebracht waren und allesamt ein komplexes Mosaik aus Mechanik ergaben. Phillipe besah sich die Tür sehr genau, doch es gab keine Kerben, keine Inschriften, nichts. Nur eine eiserne Tür mit einer Menge Hebel und Riegel. Schließlich erinnerte er sich eines Satzes, den sein Vater bei guter Laune hatte fallen lassen. „Du bist ein Thronerbe. Du kannst in diesem Land gehen, wohin du willst.“ Natürlich hatte er rasch lernen müssen, dass dem nicht so war. Man ließ ihn nicht einmal die Wehrmauer passieren und die Stadt erkunden. Aber vielleicht galt dieser Satz ja zumindest innerhalb der Mauern? Er wollte es herausfinden. Phillipe mühte sich an den Hebeln ab, versuchte die schweren Riegel weg zu schieben, doch seine Kraft reichte nicht. Überhaupt kam es ihm vor, als würden die Metalle sich weigern, als wären sie verrostet und blockiert. In einem letzten, von Unmut begleiteten Versuch wollte er eines der Zahnrädchen drehen und schnitt sich daran den Finger. Als das Blut aber das Metall besudelte, begann das Zahnrad sich zu drehen, die Hebel sich langsam aus den Ankern zu hieven und die Riegel sich zu entsperren. Ein Klirren und Rattern und Scharren erfüllte den kleinen Treppengang, der von den Vorratskammern hierher geführt hatte, dass Phillipe schon glaubte, man müsse ihn hören. Unweigerlich wandte er sich um, blickte die Stufen hinauf, doch dort oben war nichts und niemand zu sehen oder zu hören. Dann verstarben die Geräusche so rasch, wie sie eingesetzt hatten. Die Tür hörte er leise quietschend aufschwingen und spürte noch im gleichen Moment einen starken Luftsog. Muffiger, abgestandener Geruch drang aus dem Spalt hervor, als die verbrauchte Luft daraufhin entwich. Und wieder der Sog. Eine weitere Wolke des verbrauchten Gestanks – ein Wechsel schien entstanden, den Phillipe mit Schrecken zu erkennen glaubte. Die Geräusche stammten von der Luft, die in den Raum gesaugt und von dort heraus gestoßen wurde, es war nur die Luft... oder war es doch Atem? Langsam, wie in Trance, wandte sich der Knabe zu der Tür um. Sie schwang weiter auf, ganz zaghaft und leise quietschend, dahinter streckte sich eine gähnende Schwärze, die schier undurchdringlich zu sein schien. Erst als er in eben jener Finsternis eine Bewegung zu sehen glaubte, stürzte der Bursche panisch die Stufen herauf. Drei Mal legte er sich auf der Treppe lang, ehe er durch die Holztür hastete und sie ins Schloss warf. „Was habe ich euch gesagt, wo ihr zu sein habt?“ keifte der Kämmerer sofort und packte ihn noch beim Ohr, als Phillipe sich gerade versichern wollte, dass die Tür wirklich zu blieb. Vorsichtigen Schrittes trat er immer weiter von ihr zurück, da erwischte ihn der Bedienstete. Kein Wort wurde über den Treppengang und die Tür verloren, nicht von dem Jungen, der nicht wusste, was er denn hätte erzählen sollen, noch von des Königs Getreuem. Doch sein Schweigen galt nicht für das leise Wimmern, dass ihm trotz aller Beherrschung vom Schmerz der Bestrafung aus der Kehle trieben wurde. Zwei Monate später waren die Tür und der Treppengang vergessen. „Die Arbeit der Bellatoren beobachten“, so lautete sein neuster Auftrag. Gelangweilt in der Wachstube herum sitzen und den Tag vertrödeln, so gedachte der Bursche selbst es zu nennen. Die Stunden zogen quälend langsam herum. Die Wachen wagten ihn nicht anzusprechen, wollten mit ihm nichts zu tun haben, schroff und kaltschnäuzig antworteten sie ihm auf Fragen, so beschied Phillipe, sich wie Luft zu verhalten und das schien offenkundig allen nur allzu Recht. Als er sich an diesem Abend in seine Gemächer begab, da wurde er bereits erwartet. Schon als er die Tür öffnete und eine Gestalt am Fenster sah, blickte er sich um. Es standen Wachen im Flur, der Fremde konnte unmöglich unbemerkt herein gekommen sein. Ein weiterer 'Lehrer' also, den sein Vater ihm sandte? Zögerlich trat die schmächtige Figur ein und schloss die Tür hinter sich. „Ihr wünscht?“ erkundigte er sich so freundlich, wie es ihm die Laune noch zuließ. Als der Besucher sich umdrehte, erschrak der junge Knabe gar. Eine solche Gestalt, bei Leibe, hatte er noch nie gesehen! Die Wangen eingefallen wie von hohem Alter, spannte über kahlem Schädel und dürren Händen eine totenbleiche Haut, während die Augen von einem kränklich wirkenden Gelbton unruhig herum starrten und alles zu durchbohren schienen. „Mit Wünschen sollte man vorsichtig sein, meint ihr nicht auch?“ erwiderte der Besucher mit einer schauderhaften Stimme. Ganz schrecklich leise sprach er, schien die Lippen kaum zu bewegen, und doch hörte man seine Stimme nur zu deutlich. Darin lag ein Klang, so sanftmütig wie kratzend, so schwächlich wie stark. Noch ehe Phillipe entscheiden konnte, ob er doch die Wache rufen und jenen hinaus werfen lassen sollte, trat die fremde Gestalt ein paar Schritte vom Fenster hinfort. Fast schien es, als würde er die Schatten des Zimmers anziehen. „Ich bin hier, um euch zu unterrichten.“ erklärte die kränkliche Gestalt. Phillipe seufzte innerlich enerviert, behielt aber seine starre Fassade bei. Also doch ein Lehrer. Da hatte sein Vater ihm ja eine schöne Vogelscheuche geschickt! „Wenn ihr es wünscht.“ setzte der Fremde verspätet nach – und nun stutzte der rothaarige Knabe. Wenn er es wünschte? Sein Vater hatte ihm noch nie die Wahl gelassen, ob und was er lernen wollte. „Worin gedenkt ihr mich zu unterrichten?“ verlangte Phillipe zu wissen und taxierte den Fremden mit genauen Blicken. Doch der lumpige schwarze Mantel ließ kaum etwas von der Gestalt erahnen. Seine Finte indes schien durchschaut, als der Lehrer zu lächeln begann. „Ich kann euch die Politik lehren, ich kann euch zeigen, wie man Freunde gewinnt, die wichtig und nützlich sind, ich kann euch zeigen, wie ein Mann zu Ansehen kommt, wie man ein Volk lenkt, wie man in der ganzen Welt zu Ruhm kommt und seinen Namen in den Geschichtsbüchern verewigt.“ Die Erklärung des Besuchers schien verlockend zu sein. Wider aller Kontrolle vermochte der Knabe nicht zu verhindern, dass seine Augen zu leuchten begannen. Da kam diese erbärmliche Gestalt daher und bot ihm an, ihn all das Wissen zu lehren, dass er in den Jahren ersehnt, nach dem er so sehr gedürstet hatte? Sein Vater hatte ihm nie Gelegenheit geboten, sich als würdiger Sohn und Nachfolger zu beweisen. War dies etwa seine Chance? Dennoch kannte Phillipe mit seinen zarten zwölf Jahren seinen Vater gut genug, um zu wissen, dass dieser 'Lehrer' nicht von ihm geschickt worden war. „Wer seid ihr...?“ verlangte der Bursche in einem letzten Aufbegehren seiner Skepsis zu wissen. „Ich? Oh, ich bin gänzlich unbedeutend, glaubt mir. Ich bin viel gereist, habe die Welt gesehen, viele Völker kennen gelernt. Ich stand eurem Vater eine Weile als Berater zur Seite, bis er entschied, sich meiner Dienste entledigen zu wollen.“ Ein früherer Berater? Phillipe stutzte und blickte erneut zur Tür. Die Wachen waren nur einen Ruf entfernt. „Dann steht ihr nicht in meines Vaters Diensten?“ verlangte der Knabe zu wissen und funkelte den Fremden so bedrohlich an, wie er es nur konnte. Dieser aber setzte völlig unbeeindruckt ein geradezu schelmisches Lächeln auf die schmalen, blutleer wirkenden Lippen und verneigte seine ausgemergelte Gestalt. „Aus meiner gemeinsamen Zeit mit eurem Vater kenne ich so manchen Gang im Schloss, der nicht bewacht wird. Aus Kostengründen. Ihr könnt nun entscheiden, ob ihr die Wachen rufen und mich verraten wollt. Dann werdet ihr viele Jahre noch eures Vaters unerwünschter Sohn sein, bis er eines Tages entscheidet, euch als Bedrohung zu sehen. Oder ihr lernt von mir alles, was ihr braucht und wissen wollt, um eines Tages selbst die Krone zu tragen.“ „Und eure ach so bescheidene Position bei dieser Posse wäre dann...?“ Ein humorloses, kaltes Lachen erschütterte den Raum, als Phillipe sofort seine Einwände vorbrachte. Obwohl der Bursche fürchtete, man könne die Erheiterung dieser Vogelscheuche auf dem Gang gehört haben, reagierte keine der Wachen entsprechend. „Ich bin gänzlich bescheiden. Mehr als ein Berater verlangte es mich nie zu sein.“ Phillipe wandte sich nunmehr gänzlich von der Tür ab. Mit einigen Schritten durchmaß er den Raum bis zum Fenster. Er blickte hinaus auf den Hain von Apfelbäumen, auf die Wehrmauer und die unerreichbar fern scheinende Stadt, die er noch nie betreten durfte. Als er sich herum wandte, sein Blick die dürre Gestalt erfasste, die so kriecherisch scheinend die Schultern hängen ließ und leicht gebeugt ging, schlich sich doch noch ein Lächeln auf die jugendlichen Lippen. „Wie ist dein Name?“ wollte Phillipe wissen. Der Fremde aber verneigte sich tief und einen Moment, so glaubte der Bursche, habe er sogar eine gewisse Genugtuung in dessen Gesicht erkannt. „Nennt mich Celsor, mein Herr... stets zu euren Diensten.“ Noch am gleichen Abend hatte der Unterricht begonnen. Für Phillipe stellte dies den Wendepunkt seiner eigenen Geschichte dar. Der Kämmerer und sein Vater erfuhren nichts, bemerkten nichts. Selbst für die Mägde und Kammerdiener, für die Wachen und Höflinge schien der Fremde der reinste Geist zu sein. Der Thronerbe tat, was man ihm auftrug, ehe er jeden Abend geradezu nach Wissen gierend in seine Gemächer stürzte. Er lernte über die verschiedenen Formen eines Staates, wie effektiv diese jeweiligen waren, lernte, wie eine gute Wirtschaft funktionierte, wann ein Volk in Aufruhr geriet, welche Verträge von Vorteil waren, welche man besser ausschlug. Celsor, so schien es Phillipe, würde niemals sein Wissen zurückhalten oder sich verweigern, es mit ihm zu teilen. Hatte der junge Knabe anfangs noch Ekel verspürt, einen inneren Widerstand gegen die abstoßende Gestalt seines Lehrers, so saßen sie nach wenigen Wochen schon Seite an Seite an der Kommode und blätterten in alten Büchern, die Celsor mitbrachte. Nur die Götter allein mochten wissen, woher er sie nahm – aus seines Vaters Bibliotheken, das wusste Phillipe, stammten sie zumindest nicht. „Und wenn ein Sklavenhändler um Audienz ersucht, mit einer Garde von vier Leibwächtern, was tut ihr dann?“ verlangte die dürre Gestalt zu wissen. Phillipes nunmehr dreizehn Sommer messende Stirn legte sich in Falten. „Ich gewähre sie ihm, verdopple aber die Wachen und lasse ihn wissen, dass er keine Sklaven mitbringen darf und nach Waffen durchsucht werden wird. Wenn er mir einen Vertrag vorlegt, nehme ich mir die Zeit, ihn zu lesen und sollte er angreifen, statuiere ich ein Exemplar.“ „Sehr gut – nur, dass es 'Exempel' heißt.“ Phillipe wiederholte das schwierige Wort, rügte sich innerlich für sein Ungeschick und erfreute sich doch zugleich. Hatten sein Vater oder der Kämmerer oder die unzähligen Lehrer ihn jemals gelobt? Er hatte ja gar nicht geahnt, welch ein Ansporn ein einfaches 'sehr gut' sein konnte. Sein Blick wanderte zum Fenster. Sie standen weit offen und dennoch schien es nur noch wärmer und wärmer zu werden. Phillipe blickte Celsor an, zweifelnd, abschätzend. Dieser Fremde war ohne das Wissen seines Vaters in das Schloss eingedrungen! Wenn man ihn fand, würde man ihn aufknüpfen. Bestenfalls. So entschied er, die Maskerade fallen zu lassen – zumindest einen Teil davon. Der Hitze wegen zog der Bursche die Perücke von seinem Haupt und wischte sich nachlässig einen Gutteil des Puders aus dem Gesicht. Noch während er das Haarteil auf dem Ständer drapierte, bemerkte er den Blick seines Lehrers. Darin sah er nicht den Ekel, den seine Amme gezeigt hatte, nicht die Geringschätzung des Kämmerers oder den Zorn seines Vaters. Etwas anderes lag in diesen widerlichen Augen... „Ich verbiete euch, darüber ein Wort zu verlieren!“ ereiferte sich Phillipe in der Unsicherheit, nicht zu wissen, was er da in den fremden Augen sah. Celsors Mundwinkel aber hoben sich unmerklich. „Ihr müsst deshalb viel erduldet haben. In anderen Teilen der Welt ist das völlig normal. Zweifellos hatte eure Mutter rotes Haar, nicht wahr? Schade, dass es hier als schlechtes Zeichen gilt. Dieses rückständige Volk ist so arm und kleinlich in seinem Geiste...“ flüsterte die dürre Gestalt daher. Phillipe jedoch sah sich nur an all die Hass – und Spottreden erinnert, die er hinter verschlossenen Türen gehört hatte, an die Blicke und das Zurückweichen, wenn man ihm zu nahe gekommen war. Seine Mutter hatte an all dem Schuld getragen, ihr allein verdankte er diese Strafe! Und das Volk war es, das es erst zur Strafe machte. Wie hatte Celsor gesagt? Arm und kleinlich im Geiste. Phillipe nickte andächtig, ehe er sich erhob und an das Fenster trat. Dort unten, irgendwo, da waren sie und wälzten sich im Dreck. Sie soffen sich den Verstand weg, sie hurten herum und zeugten Bastarde, die einem Ork ähnlicher waren als einem Menschen. Primitiv, wertlos... ekelhaft. Und doch, so hatten die Lektionen ihm bewiesen, unabdingbar. Ein König war nur König, wenn er jemanden hatte, den er beherrschen konnte. Der Besitzer eines leeren Flecken Land war noch lange kein König, sonst hätte jeder tumbe Bauer Anspruch auf diesen Titel. Celsor hatte das Volk einst verglichen mit einer Herde Schafe. So nützlich sie auch waren, als Nahrung, ihre Wolle, Milch, so maßlos dumm waren sie auch und bedurften der Führung durch eine starke, disziplinierte Hand. Nur Kontrolle konnte ihrer Idiotie Einhalt gebieten. Der junge Knabe bemerkte nicht einmal, dass sein Drang, die Stadt zu erkunden, sich völlig verflüchtigt hatte. La Coeur war ihm egal geworden. Wozu sollte er sich ansehen, was dort war, wenn er es hören und riechen konnte, wenn er hören und riechen musste, dass jedes Wort von Celsors Lippen über das Leben jenseits der Wehrmauern völlig richtig sein musste? Seine Majestät der König gab einen Ball für die Aristokratie Lumiéls. Phillipe sah diese Anlässe nicht länger als fade Veranstaltungen höfischer Langeweile, sondern dank Celsors Lehren als Gelegenheit. Wie hatte ein Berater es ihm beigebracht? „Ein Ball bedeutet, dass die einflussreichsten Familien und die wertvollsten Verbündeten an einem Abend an einem Ort zusammen kommen. Lerne über sie so viel du kannst, präsentiere dich gut und mache dir Freunde. Du wirst kaum eine bessere Gelegenheit bekommen.“ Getreu dieser Lektion erschien Phillipe in seiner feinsten Tracht, bemüht, seinem Vater den Rang abzulaufen. Er lauschte den Gesprächen von Generälen und Offizieren, begrüßte in aller Höflichkeit die feinen Damen und hörte sich die Beschwerden und Ratschläge der Kaufleute an. Nun, auf ganz andere Weise motiviert, empfand Phillipe ein tatsächliches Interesse an all diesen Dingen, die ihn zuvor stets gelangweilt hatten. Ein gutes, starkes Heer, so hatte eine Lektion gelautet, war die sichernde Rückhand jeder guten Regentschaft. So war es unabdingbar, den Generälen zu lauschen, Fragen zu stellen. Wie sich zeigte, waren diese tatsächlich von Phillipes Neugier angetan – offenbar ignorierte der König schon zu oft und zu lange ihre Anliegen. Aus einer Laune heraus sicherte der Knabe ihnen zu, dass es Veränderungen geben werde, wenn er erst einmal die Krone trage. Ein einfacher Satz – der Stille nach sich zog und im Kreis der umstehenden ein anerkennendes Nicken provozierte. Fast den ganzen Abend lang unterhielt sich Phillipe mit der versammelten Gästeschaft seines Vaters. Es war unvermeidlich, dass ein Teil des Ansehens, das der Dreizehnjährige sich verdiente, auch seinem Vater zugeschrieben wurde. Doch darüber schwieg sich der Junge beharrlich aus. Stattdessen demonstrierte er mit dem von Celsor erlernten Wissen in mancher Debatte, dass er trotz seiner Jugend bereits wusste, wovon gesprochen wurde – und damit, dass er mehr wusste, als die Gäste und selbst sein Vater ihm zugetraut hätten. Es war der Kämmerer, der sich unauffällig in des Jungen Gegenwart aufgehalten hatte und schließlich seiner Majestät dem König und Phillipes Vater Bericht erstattete. Doch es wäre unschicklich gewesen, die Feier zu verlassen, also blieb nur das Vorhaben, den Schein zu wahren und seinen Burschen später zur Rede zu stellen. So mussten sie mit ansehen, wie Phillipe die Bekanntschaft der Lady Emilia Caluhn von Bres machte, einer Matrone aus hohem Hause, deren Adelsgeschlecht in Sundergrad beheimatet war und durch den Handel mit den dortigen Piraten reich wurde. Während Phillipe der festen Überzeugung war, die betagte Dame würde sich einem gealterten Schlachtross gleich durch die Menge bohren, erregte rasch darauf schon ihre Tochter Anna das Interesse des jungen Thronerben. Eine Weile versuchte Phillipe sich von dem Gespräch mit Emilia loszureißen oder Selbiges zumindest eher in die Richtung ihrer Tochter zu lenken, doch als ihm dies partout nicht gelang, entschuldigte sich Phillipe schlicht und zog verstimmt in einen ruhigeren Teil des Ballsaals davon. Sehr zu seiner Überraschung wurde er dort wiederum bereits erwartet. Eine Gestalt mit schwarzer Kutte saß an einem der Tische, von der gesamten Menge unbeachtet. Selbst als der Thronerbe sich zu ihm gesellte, schien sich niemand weiter dafür zu interessieren. „Habt ihr Gefallen an diesem Weib gefunden?“ erkundigte sich Celsor leise. Phillipe aber antwortete allein schon darin, kein Wort zu sagen, sondern Anna Caluhn von Bres nach zu starren. Ihre nachtschwarzen Haare wirbelten bei jeder Drehung des Tanzes und der ungewöhnlich dunkle Teint betonte die Exotik ihres Wesens. „Geht zu ihr und beginnt die nächste Lektion.“ forderte Celsor seinen Schüler auf. Phillipe nickte andächtig, ehe er sich tatsächlich erhob und seinen Weg durch die Menge suchte. Er versuchte zunächst, mit der Adelstochter ein Gespräch zu führen. Über die Politik, die Wirtschaft, den Staat, ihre Wünsche, mögliche Verträge – doch rasch zeigte sich, dass ein vierzehnjähriges Weib aus einer Sundergrader Familie, die mit Piraten verkehrte, nicht annähernd das gleiche im Kopf hatte wie er. Sie beschwerte sich über die viel zu langsame Musik, über den aufdringlichen Parfümgestank – weshalb Phillipe peinlich berührt einen Schritt von ihr abrückte – und über den Ball an sich. Es schien, als sei kein vernünftiges Thema mit ihr zu finden, bis Anna schließlich durchaus ein zumindest für sie interessantes Gespräch auftat: Phillipe selbst. Zunächst zog sie es lediglich vor, ihn damit zu behelligen, dass sein Aufzug schon längst aus der Mode gekommen sei und sie das wissen müsse, würde man in Sundergrad doch nur das Neuste tragen. Darüber hinaus merkte sie an, dass ein Mann in seinem Alter bereits einen guten Kopf größer als sie hätte sein müssen und warf in dem Dreizehnjährigen damit erstmals die Überlegung auf, warum er noch so 'klein' war. „Ach, nimm das doch ab, das ist ja lächerlich!“ erklärt sie schließlich herum gestikulierend und riss, noch bevor Phillipe einschreiten konnte, ihm die Perücke vom Schopf. Abgesehen davon, dass sie ein paar Haare erwischt hatte und der Schmerz ihm die Tränen in die Augen trieb, wich Anna sofort von ihm zurück, als das Licht zahlloser Kerzen und Öllampen auf den rotblonden Schopf fiel. „Ih, wie hässlich!“ entfuhr es dem Mädchen, ehe sie den Kopf schief legte, „Da würde ich auch weinen müssen.“ schob sie andächtig gegen ihre Lippe tippend nach. Phillipe aber, das Gefühl der Bloßstellung nicht ertragend, stürzte aus dem Ballsaal. Durch unzählige Gänge und Korridore eilte er, ehe er sich in seinen Gemächern einschloss. Das Gesicht in der Decke vergraben, ließ er die Maskerade fallen. Er hörte keine Tür, keine Schritte, keinen Laut. Erst, als das Bett sich von neuem Gewicht belastet verschob, spürte der Bursche die Gegenwart eines anderen. „So. Und nun lass uns über Weiber reden, und warum du keine Mutter hattest...“ flüsterte die Stimme seines Lehrers ruhig wie eh und je daher. Phillipe wollte nicht lernen, nicht jetzt, nicht heute, am liebsten nie mehr, und doch hatte der Kämmerer ihm über die Jahre genug Pflichtbewusstsein eingedroschen, damit er sich artig aufsetzte, die Tränen von seinen Wangen wischte und neben Celsor Platz nahm. „Was denkst du, warum dein Vater kein Weib neben sich duldete? Oder warum er ohne Mutter aufwuchs? Was denkst du, warum die lange lange Linie der Könige stets vermied, eine Königin zu dulden? Eine jede starke Frau, das merke dir gut, ist eine Gefahr für den Regenten. Eine Königin begleitet ihren Gemahl zu Verhandlungen und Bällen wie diesem dort unten, sie lernt Generäle kennen und Kaufleute, sie kann ein todbringendes Netz aus Intrigen und Lügen zwischen ihren Freunden, Verbündeten, Feinden, ihrem Gemahl und sogar jenen drehen, denen sie ihren Körper als guten Lohn darbietet oder auch nur feiste Versprechungen von späterem Aufstieg. Nun magst du denken, dass man die Königin ja daheim lassen könne, doch ihr steht es ebenso zu, sich frei zu bewegen, zu gehen und zu sprechen, wohin und mit wem sie will – und niemand bekommt leichter die Gelegenheit, euer Leben zu beenden, als das Weib in eurem Bett. Was denkt ihr, warum Huren stets Frauenzimmer sind? Längst haben sie alle Ehre und Tugend verloren und nutzen in ihrer Hinterlist alles, was sie in die Finger bekommen, um ihre eigenen Ziele zu erreichen. Denkt ihr, eure kleine Freundin dort unten hat aus einer Laune gehandelt? Woher wollt ihr wissen, dass ihre Mutter ihr nicht auftrug, euch zu denunzieren, damit ihr vor allen Gästen blamiert seid? Woher wollt ihr wissen, ob sie sich nicht einfach mit eurer Blamage den langweiligen Abend zu erheitern versuchte? Woher wollt ihr wissen... ob nicht vielleicht euer Vater selbst dies hat einfädeln lassen?“ Wie Hammerschläge schmetterte sich jeder Satz, jedes Wort, jede düstere Erkenntnis in den Geist des Thronerben. Er war hintergangen worden, belogen, betrogen, verkauft worden, weil er sich einen Moment der Schwäche geleistet hatte, weil er einen Augenblick nur nicht mehr der Thronerbe und künftige Regent hatte sein wollen, sondern ein Bursche, der ein Mädchen hübsch fand. Noch lange redete Celsor auf den flauer werdenden Verstand seines Schülers ein, bis selbst aus der Ballhalle alle Geräusche erstarben. Phillipe begab sich tief in der Nacht zu Bett, beseelt von dem Wunsch, Anna Caluhn von Bres Übles widerfahren zu lassen. „Was wünschst du ihr?“ erkundigte sich Celsor, im Begriff, die Tür zu öffnen und zu gehen. „Sie soll leiden!“ zischte der Rothaarige in der stillen Dunkelheit seines Zimmers. „Und wie sehr?“ „So wie ich gelitten habe!“ Phillipe bemerkte trotz der eingebrochenen Nacht, wie die Tür geschlossen wurde und Celsor sich erneut an ein Bett begab. Die kränkliche Gestalt ließ sich auf den Rand sinken und strich seinem Schüler in einer fast väterlichen Geste über das wirre, kurze Haar. „Nein. Bedenke: Wenn ihr sie nur so sehr leiden lässt, wie sie euch hat leiden lassen, dann seid ihr gleichauf. Sie kann hoffen, das nächste Mal davon zu kommen, sie kann hoffen, euch beim nächsten Mal schwer genug zu treffen, dass ihr zu solchen Wünschen nicht mehr fähig seid. Wenn ihr ihr etwas wünschst, dann müsst ihr selbst dann als Herrscher handeln, umsichtig denken! Straft sie normal und ihr erschaffst ein Gesetz. Aber straft sie hundertfach, und ihr statuierst ein Exempel an ihr und ihresgleichen, dass niemand mehr wagen würde, ihren Fehler zu wiederholen. Also frage ich euch erneut: Wie sehr soll sie leiden?“ Stille kehrte in das Zimmer ein. Phillipe überdachte Celsors Worte und befand sie für treffend und richtig. Es machte alles Sinn. „Hundertfach.“ presste der Thronfolger schließlich zwischen seinen Zähnen hervor. Celsor erhob sich von Phillipes Bett, wünschte ihm abermals eine angenehme Nachtruhe und entschwand. Der Knabe sah mühsam auf, blickte sich im Zimmer um – hatte er überhaupt die Tür auf und zu gehen hören? Eine Zofe war es, beauftragt, den Ballsaal zu säubern, die ein merkwürdiges Poltern und Gekicher hörte. Aus Angst vor einem Einbrecher oder gar Attentäter rief sie die Schlosswache zur Hilfe. Sieben schwer gewappnete Soldaten, die in ihrer Langeweile gefangen nur auf eine Gelegenheit warteten, stürmten herbei und traten die verriegelten Türen zu einer Vorratskammer ein. Anna Caluhn von Bres floh panisch aus dem Raum, stürzte die Flure entlang. Was würde ihre Mutter wohl sagen? Was würde der König denken? Das Ansehen ihrer Familie stand auf dem Spiel und dort standen drei Kammerdiener ohne ihre Beinkleider. Während man am nächsten Morgen drei Galgen in Nutzung gab, fehlte von dem jungen Mädchen jede Spur. Niemand konnte wissen, dass sie in der Stadt den falschen Männern in die Arme gerannt war. Erst Tage später traf Kunde ein, dass man sie am Hafen von Varakas gesehen habe, wie sie geschunden und einer Ware gleich verschnürt auf ein auslaufendes Sklavenhändlerschiff verladen wurde. Obwohl es niemand sagte, erinnerte sich die Gästeschaft des Balles noch gut an den Moment, als der gedemütigte Thronerbe überstürzt die Festivität verließ. Wozu hätten sie es auch aussprechen müssen? Phillipe sah die Veränderung jeden neuen Tag, wenn er durch die Korridore flanierte oder der Küche der Burg einen Besuch abstattete. Das Bild hatte sich stark verändert. Der Ekel und die Vorbehalte waren völlig verschwunden. Man redete noch immer nicht mit ihm, man mied ihn noch immer – aber diesmal nicht, weil er rotblondes Haar oder Sommersprossen hatte, dieses Mal scheuten alle aus purer Angst heraus, denn niemand war zu begreifen fähig, wie diese Ereignisse zusammen hingen. So, dachte sich Phillipe im Stillen, fühlte sich also Macht an... Erst zwei kurze Wochen lag der vierzehnte Geburtstag des Thronerben zurück. In den vergangenen nunmehr zwei Jahren hatte sich viel geändert und doch gab es augenscheinlich nur wenig, das nicht gleich geblieben war. Noch immer zog seine Majestät der König es vor, seinem Sohn nur durch den Kämmerer als Mittelsmann zumeist gleichermaßen ermüdende wie belanglose Arbeiten zukommen zu lassen, während sich im Anschluss an diese langwierigen Teile des Tages dann der weitaus interessantere Unterricht Celsors anschloss. In zwei Jahren, die die kränkliche Gestalt hier herum schlich, war er nie bemerkt worden und Phillipes allmählich aus kindlicher Naivität erwachender Verstand glaubte zu verstehen, wie das möglich war. Celsor hatte gelogen. Ganz simpel. Er nahm es ihm nicht übel, warum auch sollte er? Die Lüge, so hatte er gelernt, war eines der wichtigsten Werkzeuge jedes guten Herrschers und Diplomaten und warum sollte er sich beschweren, war diese Lüge doch keineswegs zu seinem Schaden? Zweifellos, so vermutete der rothaarige Bursche, gab es keine geheimen und aus Kostengründen unbewachten Gänge. Viel zu paranoid war sein Vater, als dass er dergleichen zulassen würde. Nein, Celsor musste ein Magier sein! Das würde auch erklären, warum er seinem Vater einst beratend beigestanden habe, denn inzwischen verstand der junge Mann sich darauf, Gespräche zu belauschen und obendrein auch zu verstehen. Seine Majestät hatte Angst, hauptsächlich vor der eigenen Endlichkeit, so wie es laut Celsor ein jedes sterbliche Lebewesen hatte, aber er fürchtete ebenso Gifte und Attentäter und alle, die seinem Leben vorzeitig ein Ende setzen könnten. Unlängst hatte Celsor Phillipe in die Praktiken eingeweiht, mit denen die großen Könige der Weltgeschichte ihrem Tod zu entkommen versuchten. Er hatte von Bädern in Jungfrauenblut gehört, von vergeblicher Jagd nach Einhörnern, von der Suche nach Wunsch – und Flaschengeistern. Sein Vater war weit weniger exzentrisch in seinem Streben nach Unsterblichkeit. Mit kleinen Mengen Arsen versuchte er sich gegen einen größeren Anschlag zu immunisieren, die Wachen wurden hart trainiert und waren jederzeit überall verfügbar und darüber hinaus unterhielt der König rege Korrespondenz mit allerhand zwielichtigen Magiern, die ihm helfen sollten, die Uhr seines Lebens anzuhalten, zurück zu stellen oder zumindest langsamer laufen zu lassen. „Warum hat er euch verstoßen?“ verlangte Phillipe zu erfahren. Celsor setzte sich neben seinen Schüler auf das Fensterbrett und vereinnahmte wie immer den schattigen Teil für sich. „Ich bot ihm wahre Unsterblichkeit zu einem geringen Preis, doch er misstraute mir. Ich vermag viel zu bewirken... aber er war nicht bereit, mir für meine Dienste die Rolle seines Beraters zuzugestehen. Ich glaube, er fürchtete mich, meine Erscheinung. Er wollte mich nicht den ganzen Tag um sich haben müssen.“ erklärte Celsor mit einem genüsslichen Lächeln. Es war unabstreitbar, dass er eine gewisse Genugtuung dabei empfand, vom König abgewiesen worden zu werden, nur um danach zu vernehmen, wie dessen Sohn seinen Vater nach diesen Worten leise einen Narren nannte. Ein Klopfen ließ das Gespräch ersterben. An diesem Tag hätte der Kämmerer frei haben sollen – wer wagte ihn nun zu belästigen? Zweifelnd blickte Phillipe zu Celsor. „Es ist unhöflich, nicht zu reagieren, obwohl man da ist.“ erklärte sein Lehrer lediglich. Also erhob sich der reifende Erbe und begab sich zur Tür. Ein letztes Mal wandte er sich sorgenvollen Blickes um – und fand das Zimmer leer. Ein Lächeln schlich über seine Züge, ehe er die Tür öffnete. Man holte ihn ab, zu einer Audienz bei seiner Majestät. Als Phillipe seinem Vater vorgeführt wurde, spürte er schon an dessen bohrendem Blick, dass ihm etwas missfiel. „Ihr habt nach mir schicken lassen, Vater?“ erkundigte sich Phillipe und verspürte eine merkwürdige Genugtuung, als er den Widerstand in des Königs Augen las, als dieser die Bezeichnung 'Vater' vernahm. „Mir sind Gerüchte zu Ohren gekommen. Ich hätte sie zu ignorieren gewusst, wäre es nur eines gewesen, doch sie häufen sich. Du sollst des Abends häufiger Selbstgespräche führen. Auf dem Ball sah ich dich mit den Kaufleuten reden und die Generäle trugen mir Lob über dein Verhalten zu. Die Zofen sprachen davon, dass du dich herrischer aufführst.“ Stille. Phillipe wusste, dass sein Vater erzürnt war und eine Antwort verlangte, doch der Erbe ließ ihn bewusst warten, hielt ihn hin und ließ ihn in seiner Wut gären, ehe er sich zu einer Antwort herab ließ. „Nun, Vater, wie ihr sagtet: Gerüchte und allerlei Hörensagen.“ Die Hände seines Vaters spannten sich noch ein Stück mehr, als sie es ohnehin schon taten. „Nach dem Missgeschick mit der Tochter der Caluhms beim Ball vergangenes Jahr ist ein Tumult entstanden, den ich noch immer nicht gänzlich zu legen vermochte. Angesichts des Lobes, das alle für dich übrig zu haben scheinen, erscheint es mir eine gute Idee, dich auf eine Seereise ins Ausland zu schicken. Du wirst einen Vertrag in meinem Namen unterzeichnen und zu mir bringen. Dabei wirst du beweisen können, dass du so viel Lobes auch wert bist.“ Phillipe spürte die Verachtung, die ihm aus der Stimme seines eigenen Vaters entgegen schwang. Nichts, was er nicht schon gewohnt gewesen wäre, hatte er eben dies doch all die Jahre nur als Widerstand oder Geringschätzung verkannt. Der heranreifende Mann verneigte sich vor dem Thron – dem Thron und nicht dessen Inhaber – und trat mit einem gleichgültigen „Wie ihr wünscht, Vater“ davon. Erst in den Räumen seines Gemaches ließ er die inzwischen zur Makellosigkeit herangereifte Maske fallen und ballte im eigenen Jähzorn die Fäuste. „Wie kann er es wagen...!“ fauchte Phillipe leise. Selbst als sich ihm die dürren, zerbrechlich wirkenden Finger seines Lehrers aus dem Nichts kommend auf die Schulter legten, beruhigte er sich nicht. „Ich will nicht verreisen!“ blaffte der Rotschopf und fixierte seinen Lehrer, als würde dieser seinen Befehl blindlings verstehen und sofort los ziehen, ihm die Welt zurecht zu biegen. Sein Lehrer jedoch schüttelte abwehrend den Kopf und trat dann an Phillipe vorbei. „Er wird eure Reise planen müssen,“ begann Celsor scheinbar laut denkend in den Raum zu sprechen, während er das Zimmer gemächlichen Ganges durchschritt, „und ich bin durchaus in der Lage, ihm diese Planung zu erschweren. Ein paar Wochen werde ich herausschinden können – nicht mehr. Aber diese Reise ist nicht euer Problem. Ihr werdet, so es nach seinem Wunsch verläuft, nicht lebend zurückkehren. Zudem giert die Amme schon lange danach, einen Bastard aus seinem Schoße in die Welt zu setzen. Allein in den letzten zwei Jahren wäre es ihnen zwei Mal fast gelungen, hätte ich nicht einen kleinen Zusatz in ihr Wasser gegeben, dass dem Kind das Leben nahm. Wenn er einen Erben bekommt, ob Bastard oder nicht, was glaubt ihr wohl, wie rasch ihr 'verschwinden' würdet? Erinnert euch der Lektionen, die ich euch zur Blutfolge erteilte, statt mich so entgeistert anzustarren. Für falsche Skrupel und Höflichkeiten ist kein Platz mehr, euer Vater hat begonnen, euch als Gefahr zu sehen. Ihr müsst handeln... und ich habe hier, was ihr dazu braucht.“ Celsor übergab seinem Schüler ein Pergament. Schon als Phillipe den rauen Stoff berührte, schauderte er unter der unnatürlichen Kälte, die das Papier abzugeben schien. Als er trotz allen Unbehagens die Rolle entfaltete, fand er darauf in einem verzerrten Schwarz geschrieben das Rezept eines Giftes, wie er allein anhand der ersten zwei Zutaten erkannte. Nachdem er alles sorgfältig gelesen hatte, die Ingredienzien, die Mengenangaben, die Zubereitung, war er sich sogar sicher, dass es ein überaus wirksames und rasches Gift sein musste. Immerhin sprach der letzte Absatz davon, dass das Rezept eine Phiole ergebe, aber nur ein Tropfen in den Brunnen reiche, um eine ganze Festung auszulöschen. „Zuvor müsst ihr natürlich eine kleine Reise tätigen. Der Kämmerer wird einem unschönen Unfall erliegen, er hat das Viergespann nicht kommen sehen, aber während der König mit der Suche nach gutem Ersatz beschäftigt ist – und bei seinem Verfolgungswahn wird ihn das viel Zeit und Konzentration kosten – werde ihr das Land durchreisen müssen. Eure wichtigsten Ziele sind Samara und Sundergrad. Dort leben viele Adels – und Offiziersfamilien, manche kennt ihr noch vom Ball. Versprecht ihnen alles, was immer sie wollen – denkt an meine Lektionen! -, aber gewinnt ihr Vertrauen. Wenn ihr euren Vater stürzten wollt, braucht ihr Hilfe.“ „Ich will ihn aber nicht stürzen!“ verweigerte sich Phillipe entschieden. Es war eine Sache, viel zu lernen und einem dummen Weib die Qualen des Sklavinnendaseins zu bringen, aber etwas völlig anderes, den eigenen Vater zu töten – ganz gleich wie sehr dieser den eigenen Sohn verachtete. „Ihr habt nicht die Wahl. Ihr wollt leben, das weiß ich, sehe es euch an – und solange ihr das wollt, steht nunmehr nur die Wahl zwischen euch oder ihm.“ erwiderte Celsor entschlossen. Er schlug das zurückgewiesene Pergament aus, ließ es unbeachtet zu Boden sinken und schritt durch die Tür nach draußen. Phillipe wusste auch ohne sich umzudrehen, dass die Wachen ihn nie zu Gesicht bekommen hatten. Verlassen stand er dort, blickte zweifelnd auf das Pergament am Boden. Versuchte sein Vater tatsächlich, ihn unter dubiosen Umständen los zu werden? Andererseits, nach allem, wie er ihm begegnet war, stellte sich da nicht eher die Frage, warum dieser weichliche Narr erst jetzt so handelte und dergleichen Prävention nicht schon viel früher in Betracht gezogen hatte? Phillipe hob langsam die eisig kalte Papierseite vom Boden auf. Die Amme versuchte also, ein Kind von seinem Vater zu erpressen? Seit wann ließ sich seine Majestät – ein König! - auf das Geschmeiß von Huren aus dem Pöbel ein? War er so verzweifelt oder seines eigenen Sohnes so überdrüssig? Vielleicht waren die hinterhältigen Verführungskünste der Vettel auch einfach nur so effektiv... es spielte keine Rolle. „Jetzt nicht mehr.“ setzte Phillipe flüsternd nach, während seine Augen erneut über die Zeilen des Pergaments huschten. Fast vier Wochen dauerte die Reise Phillipes durch das Land. Mit einer Kutsche, aus der er sich nur traute, wenn sie das Grundstück eines weiteren Generals, Offiziers oder Grafen betreten hatten, preschte er von Stadt zu Stadt und gab in unzähligen Siedlungen zudem zahlreiche Schreiben mit dem königlichen Siegel auf, die von Eilboten an alle anderen relevanten Ansprechpartner versandt wurden. Einem jeden Brief, gerissen formuliert, lag zudem die Bitte bei, alle Antworten nach Sundergrad zu schicken – seiner letzten Station vor der straffen Heimreise. Es gelang Phillipe, viele ranghohe Generäle für sich zu gewinnen. Viele der Kaufleute hingegen brachten zum Ausdruck, ihn aus Vermeidung des Risikos nicht zu unterstützen, einem eventuellen Herrschaftswechsel jedoch gewiss auch nicht im Wege stehen zu wollen. Feiglinge allesamt, wie Philippe befand. Als er wieder in La Coeur eintraf, berief ihn sein Vater noch am selben Abend zu sich. „Ich habe dir die Reise nicht erlaubt.“ herrschte der König ihn an. „Ich weiß, Vater.“ Stille. Die Feindseligkeiten zwischen beiden waren nunmehr eher offener als verdeckter Natur, boshaft stierte seine Majestät seinen Sprössling an, während dieser völliger Ruhe um Erlaubnis bat, sich entfernen zu dürfen. „Ja, geh!“ herrschte sein Vater ihn mit einer Geste davon scheuchend, „Ach und... Phillipe?... Du brichst morgen auf. In fünf Tagen geht dein Schiff von Varakas aus.“ „Wie du wünschst, Vater.“ Als der einst schuldlose Bube aufbrach, die Thronhalle zu verlassen, ließ er seinen Vater in einem Zustand, gefangen zwischen Verzweiflung und Zorn, zurück. Er wusste darum, wusste, welche Qual er seinem Vater bereitete, nun, da er zu erkennen begann, dass die Schritte, die er selbst eingeleitet hatte, seinen Sohn nicht nur ebenso zum handeln zwangen, sondern, dass dieser wider seiner Einschätzung auch durchaus dazu bereit war. Doch offenen Konflikt wollte sich der König trotz allem nicht leisten – es wäre eine zu schmachvolle Blöße vor dem Volk und seinen Verbündeten gewesen, hätte er seinen Sohn per offiziellem Dekret inhaftieren und ein Urteil an ihm vollstrecken lassen. Ein wissendes Lächeln hob Phillipes Mundwinkel, als er den Blick seines Vaters auf sich haften spürte. Ein nie erlebtes Hochgefühl beschlich ihn – sein Plan würde aufgehen. Er hatte zahllose Händler, Aristokraten und Offiziere auf seiner Seite, er hatte seinen scheinbar schier allwissenden Celsor als Berater und Lehrer, er hatte von eben jenem alles Nötige gelernt, um selbst die Krone zu tragen und heute, da sein Vater an ihm scheitern würde, war der Tag gekommen, der Tag, an dem all die Jahre der Verachtung und Ablehnung, der Geringschätzung und des Verweigerns abgerechnet werden würden. „Alles ist bereit.“ eröffnete Phillipe, als er seine Gemächer betrat. Wo Celsor sich befand, wusste er nicht, glaubte aber schon zu ahnen, dass dieser ihn hörte, weil er, wenngleich auch nicht sichtbar, doch irgendwie irgendwo anwesend war. Tatsächlich erschien der Lehrmeister wenig später und lächelte mild. „Ich habe die Zutaten dabei.“ ließ der vermeindliche Magier seinen Musterschüler wissen, der daraufhin jedoch mit breitem Grinsen den Kopf schüttelte. „Nein, nicht nötig. Ausnahmsweise haben mir die Lektionen des fetten Kämmerers etwas gebracht. Ich habe mich bei den Mägden in der Küche eingeschlichen. Sie werden heute Abend einen exzellenten Wein feil bieten, der wahrlich seines Gaumens würdig ist.“ offenbarte der Knabe. Tatsächlich las er das erste Mal in den zwei Jahren, die sie einander kannten, ein maßloses Erstaunen aus dem fahlen Gesicht seines Beraters – und verspürte einen grenzenlosen Stolz darüber, als dieser anerkennend nickte. Trotzdem, als sei es eine Art Übung für Phillipes Fingerfertigkeiten, nutzten sie Celsors mitgebrachte Vorräte und mischten das Gift erneut. Der Erbe erinnerte sich noch gut daran, wie das eisig kalte Pergament die Wirkung des Giftes in umschweifigen, ausufernden Tiraden beschrieben hatte. Krämpfe waren nur der Anfang. Ein stechender Schmerz an vielerlei Stellen des Leibes, Atemnot und Kraftlosigkeit, ehe man Blut erbrach – in rauen Mengen. Zudem strömte es auch aus Augen, Ohren, Nase, praktisch jeder Öffnung des Körpers zu seiner Umwelt. Ein ekelhaftes Gift mit widerwärtiger Wirkung – und es erschien ihm nur angemessen, dass es heute serviert werden würde, war ihm beim Lauschen und Schleichen in der Küche doch zu Ohren gekommen, dass die Amme sich heute Nacht mit einer Tinktur, die die Fruchtbarkeit steigern solle und ein halbes Vermögen verschlungen habe, zu den Gemächern seiner Majestät schleichen wolle. Sollte dieses Hurenpack nur gemeinsam krepieren! Gemeinsam mischten sie das Gift ein weiteres Mal an um Phillipes einzige Waffe zur Selbstverteidigung, mit der er nur dank Celsors Lehre umzugehen gelernt hatte, damit zu beschichten: Einen kleinen, unscheinbaren Dolch, der scharf und spitz in jedem noch so straffen Gewand einen unauffälligen Platz finden würde. Es waren Schreie, die Phillipe zu tiefer Nachtstunde aus dem Schlaf rissen. Er schreckte im Bett auf, die Stirn feucht von den Alpträumen vergangener Jahre, von Träumen über herab gerissene Perücken, spöttische Blicke und den schmerzenden Klang von Verachtung aus einer Stimme, die mit Stolz hätte belegt sein sollen. Rasch entwand er sich dem Wust aus Decken und trat an die Tür, da die Schreie nicht abreißen wollten. Er griff nach der Klinke... und hielt inne. Wer schrie, wusste er nicht. Wohl eine Magd oder Zofe. Das 'Warum' hingegen konnte er sich gut vorstellen. Sein Blick wanderte zur Kommode. Ja – es war Zeit. Er zündete die kleine Öllampe an, drapierte sie vor dem Spiegel und setzte sich. In aller Eile und ohne es dabei jedoch an Sorgfalt mangeln zu lassen, legte er Puder auf sein Gesicht, bis die hässlichen Flecken verschwunden waren, zog die Perücke über das unliebsame Haar, bis dessen Sturheit zur Gänze verschwunden war. Er kleidete sich in seine edelste Tracht und trat, eine gute halbe Stunde später, erneut zur Tür. Als er die Gänge entlang schritt, folgten ihm zweifelnde Blicke der Wachen. Phillipe merkte sich ein jedes ihrer Gesichter – ab morgen würden sie die Schweine schrubben dürfen. Vorsichtig und mit der Eleganz eines jungen Knaben schob er sich durch die Menge der entsetzten Gesichter und trat in die offene Flügeltür. Die Laken des königlichen Schlafgemaches waren rot, die Decke, die Kissen, alles schwamm im royalen Blut. Der König war in den Qualen der Krämpfe erstarrt, die Hand zur Tür gereckt, das Gesicht noch vom stummen, gequälten Schrei verzerrt. Die Amme aber, die ihn geboren, aufgezogen und in seines Vaters Auftrag ernährt und erzogen hatte, ruhte auf seinem Schoß. Das Haar klebte von Blut, das es offenbar sogar durch die Poren ihrer Haut getrieben hatte. Unter einem überraschten Ausruf wich die Menge abermals auseinander, als sich eine zweite Gestalt herbei schob. Niemand hatte je dieses kränkliche Geschöpf im Schloss gesehen, niemand wusste, wie er hierher gelangt war, doch die bleiche Gestalt, die alle umstehenden zu ekeln schien, gesellte sich neben den Knaben und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Ist es vorbei?“ verlangte Phillipe ungerührt von den umstehenden Mithörern zu wissen, wenn ab dieser Stunde waren sie alle sein Eigen und würden selbst dann nur widersprechen dürfen, wenn er es ihnen gestattete – und darauf würden sie fortan lange warten können! „Nein. Jetzt hat eure Herrschaft begonnen.“ antwortete des neuen Königs Berater und ergötzte sich am Blutbad gleichermaßen wie am eifrigen, zufriedenen Funkeln in den Augen seines Schülers. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)