Lumiél von Voidwalker (Königreich der Monde) ================================================================================ Kapitel 2: Durch Sturm und Nacht -------------------------------- „Ha‘, da brat‘ mir doch einer ‚nen Storch, Viererpasch!“ verkündete der Zwerg stolz und stieß den Lederbecher auf das schmierige Holz des Tisches nieder, dass man einen Moment hätte fürchten können, das gute alte Mobiliar der Taverne würde den Kampf gegen rüde Besetzer aufgeben und zusammen brechen. Die Runde am Tisch war gesellig – und das schon seit einigen Stunden. Immer wieder setzten sich neue Gesichter hinzu, während bereits Bekannte murrend und maulend abzogen. Der Wirt warf immer wieder skeptische Blicke zu jenem Tisch. Ihm gefiel das Treiben dort nicht, ihm gefiel nicht, dass dieser Elb hier ein Glücksspiel nach dem Anderen durchzog. Würfel, Karten, Ratespiele, nein nein, der König hat’s unter Strafe gestellt! Aber was sollte er schon tun? Ihn rauswerfen? Dank diesem Spitzohr tranken die Gäste dreimal mehr an diesem Abend, da wäre es doch eine Schande, ihn der Stadtwache zu übergeben. „Na dann kann ich ja froh sein, dass es kein Sechser war...“ schmunzelte Gilian breit und deckte seine drei Würfel auf – drei Fünfen. Die eben noch freudig zu einem Lächeln seines Bartes verzogene Miene des Zwerges gefror, er schob mürrisch die drei Silberlinge Wetteinsatz über den Tisch und schüttelte den Kopf. „Spiel nie mit einem Elb...!“ wiederholte der Kurze in Erinnerungen an Sätze, die sein Vater ihm mit auf dem Weg gab, die kleinen Lektionen und schob sich schließlich samt knarrendem Stuhl zurück. Ein Platz wurde frei – und aus der Menge an Schaulustigen und Wagemutigen, die an den Tischen und Tafeln rund um sie herum saßen, nahm der Nächste seine Chance war, erhob sich samt des Bierhumpens und nahm ungefragt Platz. „Un‘, wat spiel’n wa?“ hakte der Einäugige mit dem Flair eines Gossenbettlers nach und packte ein überraschend fülliges Ledersäckchen auf den Tisch – zweifellos die Beute neuster Halsabschneiderei. Gilian warf einen völlig unbedeutend scheinenden Blick um sich, nicht mehr als Wachsamkeit vortäuschend, doch seine zwei Crewmitglieder, die derweil unscheinbar ihren eigenen Machenschaften nachzugehen schienen, waren alarmiert. Nun saß jemand am Tisch, beim Kapitän, der vielleicht gefährlich war – sie würden eingreifen können, ehe es zu weit ging. Auch den Bettler oder Räuber oder was immer er war, konnte Gilian mühelos ausnehmen. Man hätte meinen können, für den spitzohrigen Seebären sei es ein guter Abend, doch sein feistes Lächeln und die Finessen, mit denen er seine Gegner gleichermaßen erheiterte, bei Laune hielt und wie Weihnachtsgänse ausnahm, waren kaum mehr als gut einstudiertes Theater. Der Abend war elend, er war sogar verdammt elend! Hergekommen war er in der Annahme, einen guten, lukrativen Auftrag zu bekommen. Irgendein reicher Schnösel hatte eine Überfahrt nach Bervenia verlangt und sich nun ausgerechnet ein berüchtigtes Schiff ausgesucht, wohl in der Annahme, man würde ihn dann nicht angreifen wollen. Doch kaum angekommen, zeigte sich, wie nötig der Schutz durch ein paar halbe Piraten war – der Bursche lag im eigenen Blut am Pier des Hafens. Natürlich waren Gilian und seine Männer zunächst über den Toten gestiegen, sie wussten ja noch nicht, dass es sich bei diesem bleichen Bengel um ihren Auftrag handelte... gehandelt hatte. Nun saßen sie hier fest und in drei verschiedenen Tavernen versuchten unterschiedlich große Trupps seiner Crew – aufgeteilt nach der Bedrohlichkeit des dort gegenwärtigen Volkes – irgendwie an genug Geld zu kommen, damit sie sich den Proviant leisten konnten, um wieder auf See zu gelangen. Nur war das hier nicht irgendein Land. Der König war streng und die Hungersnot der letzten Winter hatte dazu geführt, dass Proviant elendig teuer war. Also saßen sie hier, spielten, während anderswo Feuer geschluckt oder Seemannsgarn erzählt wurde. Gute Miene zum bösen Spiel, mehr zu tun blieb einfach nicht. Es war bereits tief in der Nacht, die auf merkwürdige Weise immer wieder rasch und unbemerkt verschwindenden Einnahmen der Spielrunde – es sollte ja niemand sehen, dass Gilian ständig gewann – waren inzwischen recht ansehnlich, da setzte sich ein weiterer hagerer Bursche zu ihm an den Tisch. „Würfel, vier Stück pro Becher.“ erklärte der mit frostiger, leiser Stimme. Einen Moment beäugte Gilian seinen Gegenüber kritisch. War von so einem Gefahr zu erwarten? Er sah recht harmlos aus, aber man konnte es im Grunde ja nie wissen... dennoch entschied der Elb, dass keine Notwendigkeit zu größerer Vorsicht bestand. Sie spielten, wie schon unzählige Male zuvor. Gilian gewann, mal mehr, mal weniger knapp und irgendwann, nachdem sich der noch am Tisch hinzugekommene Ork mit den Worten „Spiel dumm, Geld leer!“ maulend verzogen hatte, wurde der Kapitän doch unruhig. Sein gegenüber nahm geradezu erschreckend gelassen hin, dass seine Geldbörse immer weiter schrumpfte. Gewiss hatten sie längst, allein durch das Glücksspiel, genug Geld für den Proviant zusammen, aber Gilian konnte einfach nicht mit spielen aufhören. Einerseits hätte es jetzt Verdacht erweckt und er saß in einer Taverne – man würde ihn mit Freude am nächsten Baum aufknüpfen. Andererseits wollte er wissen, warum dieser Kerl so ruhig blieb. Es schien ihn nicht im Geringsten zu interessieren, dass er ausgenommen wurde, seine ganze Habe verlor. Einmal hatte er mit den Worten, dass er ihm nicht noch die Unterkunft und Schuhe rauben wolle, das Spiel abzubrechen versucht, doch der Fremde deutete nur ein kaltes Lächeln an und meinte, dass das so gut wie sicher sei. Verwirrende Worte. Letztlich wurde es bereits allmählich Morgen, die Taverne leerte sich und die Zeit war gekommen, die Karten auf den Tisch zu legen. „Gilian,“ begann sein gegenüber, legte den Würfelbecher weg und stützte die Ellbogen auf den Tisch. Bereits bei jenem Satzbeginn wurde der Elb unruhig – er hatte seinen Namen nicht genannt und auch, wenn er samt seinem Schiff und seiner Crew hier und da kleine Lokalberühmtheiten waren, so war er es hier, in diesem Hafen, ganz gewiss nicht. „du hast dich wirklich ansehnlich lange verstecken können. Aber du weißt sicherlich, du hättest es einfach wissen sollen, dass niemand – und ich meine niemand! – den Piraten entkommt. Uns gehört die See, du aber... pff... du bist nur zu Gast. Du schuldest den Clans von Lumiél eine Menge. Wir wissen, dass der Bauch deines Schiffes voll davon ist. Wenn du die Ware endlich heraus gibst... dann muss auch niemand irgendwie zu Schaden kommen.“ Bei jenen Worten war der Elb tatsächlich ein wenig blass um die Nase geworden. Er streckte den Arm, da klickte etwas. Sein Blick huschte zurück in das nunmehr finstergrimmige Gesicht des Piraten, da rang er sich ein müdes Lächeln ab. „Keine Sorge, ich bin nicht so dumm.“ meinte der Elb und rief die Bedienung herbei, „Mehr Wein!“ meinte er schon von weitem, die nickte brav und verschwand wieder in Richtung des Vorratskellers. Gilian aber schwenkte dem Mann am Tisch zu und betrachtete ihn eingehend. „Hätte nicht gedacht, dass ihr mich ausgerechnet hier erwischt. Wie habt ihr es angestellt?“ „Wir haben unsere Quellen. Spielt doch jetzt auch keine Rolle mehr, oder? Sei kein Narr, Elb. Die Dragov und die Ikamar kreuzen draußen auf See und sind auf dem Weg hierher. Stell keine Dummheiten an. Wir wollen nur die Ware, die du uns versprochen hast.“ „Diese Ware ist viel, aber wirklich viel viel mehr wert, als ihr uns gezahlt habt! Mein Schiff wurde fast völlig zerlegt von allerlei Seekreaturen, Eumenes war auch nicht gerade erfreut über unser Erscheinen und-„ „Gilian, das interessiert nicht. Weder mich, noch sonst irgendwen! Du wurdest bezahlt und hast nicht geliefert. Nur darum geht es. Wir fordern, was uns zusteht und ehe du jetzt auf die Idee kommst, irgendwelche Spielchen abzuziehen: Das macht es für dich nur noch teurer!“ Der Elb bedachte sich angespannt seine Optionen. Er neigte sich zur Seite, blickte unter die Tischplatte und gewahrte einer Steinschlosspistole mit großem, breitem Lauf. „Du weißt, dass diese Dinger fast nichts treffen, oder?“ erkundigte sich das Spitzohr einen Moment vage lächelnd. Vielleicht hatte er ja Glück und die Waffe war nur als Druckmittel zugegen. „Und du weißt, dass sie auf diese Distanz durchaus treffen und obendrein hässliche Wunden schlagen.“ erwiderte sein Gesprächsgegner lediglich kühl. Gilian seufzte – der Abend bot einfach kein Glück. Er blickte sich nach der Bedienung um und rief fast schon zornig erneut nach mehr Wein. Plötzlich knallte es, sprangen Scherben im Raum herum und ergoss sich kostbarer Schnaps über das zerzauste Haar des Piraten. Klackend fiel die Pistole zu Grund und wurde von Gilian rasch aufgesammelt. Er erhob sich hastig vom Tisch, blickte auf den Bewusstlosen und spähte dann in die Runde – nun, da der Kapitän eine Kugelwaffe trug, wollte ihn wahrlich niemand mehr angreifen. Sie hatte nur eine Kugel im Lauf, das mochte sein, aber das bedeutete immer noch, dass sich irgendwer in die Schusslinie werfen müsste – und danach stand dem angesoffenen Volk so gar nicht der Sinn. Gilian jedoch, statt die Flucht zu ergreifen, packte einen seiner zwei Crewkameraden beim Hemdkragen und zerrte ihn dicht zu sich. Wut funkelte in seinen Augen. „Hör‘ mal, ich weiß, du bist neu, aber wenn du noch einmal überlegst, meine Befehle in Frage zu stellen, dann tu das in einer Situation, in der mein Leben nicht von ihrer Umsetzung abhängt!“ blaffte er den Neuling in der Crew an und stieß ihn ein Stück von sich. Es war eine der ältesten Taktiken: Gilian trank, sofern es um Alkohol ging, einzig und ausschließlich Met, den Honigwein. Wenn er sich umsah, war das Grund zur Vorsicht. Verlangte er Bier, wollte er, dass einer seiner Kameraden an den Tisch kam und ihm ein Spiel zu manipulieren half. Wollte er Wein – nun, dann war eine rasche Flucht nötig. Sie stürmten zu dritt aus der Taverne hinaus auf das kalte Kopfsteinpflaster. Es hatte endlich zu regnen aufgehört, aber die Wolken hingen noch immer schwer am Himmel. „Sargas, renn zu den Anderen, sie sollen aufhören und sofort zum Schiff kommen, wir müssen unverzüglich ablegen!“ wies der Elb seinen Schützling an. Der Junge nickte eifrig und stürmte davon, so rasch, dass man ihm kaum hätte folgen können. Ein eilfertiger kleiner Knabe – ein Waisenkind, aber immerhin hatte er Gilian, der sich seiner schon seit Jahren annahm. Nun wandte sich der Kapitän erneut an den Neuling, der ihn so furchtsam anblickte, als fürchte er, der berühmte Kapitän Gilian würde ihm nun das Wasser aus den Adern saugen. Ein hässlicher Zauber, der durchaus im Repertoire des Spitzohres verfügbar gewesen wäre, doch dieser Grünschnabel war solcher Mühe gar nicht wert. „Du nimm das hier, geh zum Hafenmeister und drück’s ihm in die Hand, dann wird er uns auslaufen lassen. Bete zu Eumenes, dass er den Proviant schon auf Vorschuss eingeladen hat!“ erklärte der Kapitän dem Neuling und eilte in die selbe Richtung wie jener davon. Nach einigen Minuten zweigten sich die Straßen ebenso wie ihre Wege, der Grünschnabel strebte zum Hafenmeisterquartier zu, während Gilian nur sein kostbares Schiff im Sinn hatte. Als er es endlich sah, wie es ruhig und friedlich im Hafen lag, atmete er einen Moment durch. Elbische Kondition hin oder her, so ein Sprint durch die halbe Stadt machte jeden müde und als Seebär war er solche Rennerei einfach nicht mehr gewöhnt. Doch dort lag sie, unbeschädigt und nicht etwa von zwei der mächtigsten Piratenschiffe auf See eingekreist. Sie war ein Schmuckstück, ein Verbundswerk. In seinem Kahn vereinte sich das elbische Wissen um Schönheit und federleichte Bauweise mit der menschlichen Kenntnis der See und des Kampfes darin. Er eilte dem Schiff zu, wenngleich auch nicht mehr ganz so hastig und begann die Taue zu lösen. Über die Planke an Bord geraten, stellte er zufrieden fest, dass der Frachtraum unter Deck – einer von vielen – tatsächlich voll beladen war. Nach und nach traf seine gesamte Crew wieder ein. Fünfzehn Mann insgesamt, mehr brauchte es nicht. „Los los, sputet euch, Sturm zieht auf!“ drängte Gilian zur Eile und verschwand mit Sargas unter Deck. Sie stromerten eine Weile zielstrebig durch die Korridore, vorbei an der Kombüse, vorbei an Fracht – und Lagerräumen, an den Kabinen der Crew, tiefer und tiefer in die Eingeweide des Schiffes. An Deck herrschte reges Treiben. Man wusste, dass der Hafen rasch verlassen werden musste. Die Meisten waren Menschen, einen Zwerg hatten sie dabei und zwei Orks, aber alle, ob nun über höhere Kräfte gebietend oder nicht, gaben ihr Bestes. Man sah die Sturmwolken am Himmel, man sah den Hafen in aufwallenden Winden und als die Segel gesetzt waren, da sah man mit ersten Befürchtungen auch die Silhouetten der zwei massigen Kriegsschiffe, die auf die kleine Hafenbucht zuhielten. Es stand auf Messers Schneide, ob sie ohne einen schweren Kampf würden entkommen können. Gilian jedoch hatte eine Geheimwaffe. Genau genommen, hatte er mehrere Frachträume voll mit Geheimwaffen, aber hier nun suchte er eine sehr Spezielle, die zu finden Sargas ihm helfen musste. Neben dem Kapitän war das kleine Waisenkind der Einzige an Bord, der die Befugnis des Elben hatte, diesen tiefsten Frachtraum des Schiffes zu betreten – alle anderen würden schmerzlich lernen müssen – oder hatten diese Erfahrung bereits gemacht –, dass der alte Elb sich gut mit Schutzzaubern auskannte. Viele Türrahmen und Korridore waren mit feinen elbischen Runen verziert und inzwischen wussten auch alle, dass man sich besser an Gilians Wort hielt. „Es sind Glyphen, sie scheinen rot zu ein, sind auf der Rückseite flach und klebrig, bestehen aber aus massivem Basalt...!“ erklärte jener, den Sargas als Vater betrachtete. Gemeinsam durchwühlten sie den Frachtraum, fanden die nötigen sechs Glyphen und hasteten den Weg wieder zurück an Deck. Unlängst hatte der Sturm die Segel erfasst und trieb das Schiff rasant aus der Bucht – und den Piraten entgegen. Als der Kapitän an Deck erschien, wollte die Crew schon um Anweisungen flehen, weil sie allmählich beim Anblick der immer größer werdenden Schiffe ahnten, dass sie keine Chance hatten. Aber ehe es dazu kam, erteilte ihr Kommandant eben jene und ließ die sechs Glyphen auf dem Schiff verteilen. Sie wurden gegen die Bordwand gedrückt und saugten sich förmlich daran fest, fast augenblicklich begannen die rot eingravierten Runen zu leuchten und die ihnen innewohnende Magie zu entfesseln. Nun blieb nur zu hoffen, dass die Kapitäne sein Schiff noch nicht als ihr Ziel erkannt hatten. Sie standen an Deck, bangend und insgeheim zu ihrer aller Herrin Eumenes betend, als ihr plötzlich wie eine Nussschale wirkendes Schiff zwischen den gewaltigen Kanonenfesten hindurch glitt. Für die Piraten, die an Deck standen und herab sahen, war dort nur ein erbärmlicher Fischkutter mit einer verängstigt an Deck stehenden Mannschaft. Der Pirat, den Gilian in der Taverne niedergeschlagen hatte, würde später auf sein Schiff zurückkehren und die Mannschaft dafür rügen, sich so idiotisch blenden zu lassen – welcher Fischkutter zog schon bei aufkommendem Sturm auf die offene See hinaus! Doch da war es auch längst schon zu spät. Sie hatten den Schiffsbauch voller Proviant, sie hatten sogar noch ein paar Extraeinnahmen gemacht und sie waren der Klaue der Piraten entkommen. Gilian stand an der spitz zulaufenden Front seines Schiffes, streichelte fast schon verliebt über das von Gischt feuchte Holz und klopfte darauf, als hätte die List einzig dank der Sammlung von Holz und Metall funktioniert. Niemand aus seiner Mannschaft wagte zu fragen, warum sie fliehen mussten. Niemand wagte zu fragen, warum Piraten hinter ihnen her waren. Und niemand fragte, woher die Glyphen kamen. Die meisten Crewmitglieder waren alt eingesessene Seemänner. Sie segelten seit Jahren unter dem Kommando des Elben und wussten, dass er schweigsam war. Was er erzählen wollte, das würde er schon von sich aus preis geben – nachfragen hatte einfach keinen Sinn. Nur der Grünschnabel, den sie vor zwei Wochen in einem Hafen auf dem Kontinent aufgenommen hatten – ein ehemaliger Bauerssohn – hatte zu fragen gewagt. Dafür durfte er auch prompt das Deck schrubben. Nicht, weil er eine Frage stellte, hatte Gilian ihn bestraft, sondern weil seine Kameraden ihn genau davor gewarnt hatten und er diese Warnung ignoriert hatte. Eine Crew musste zusammen halten, musste einander glauben und blind vertrauen können, sonst würden sie sich allesamt schnell auf dem Meeresgrund wiedersehen. „Wohin Kurs?“ grunzte der Ork, der gegenwärtig das Steuer in seinen muskulösen Armen fest hielt, während der Sturm verzweifelt mit ihm um die Herrschaft über das Schiff stritt. Gilian schritt an der Grünhaut vorbei und besah sich den Himmel. „Dreh in den Wind, wir folgen Eumenes‘ Willen. Dass wir entkamen, verdanken wir ihr. Wir sind ihr etwas schuldig.“ erklärte der Elb nunmehr wieder halbwegs zufrieden und zog sich in seine Kajüte zurück. Die Tage zogen dahin und das Wetter begann die Crew zu langweilen. Es herrschte starker Wind – was eigentlich hätte gut sein müssen – und beständiger Regen. Die Sonne sahen sie höchstens irgendwo weit im Osten aufgehen, doch dann stieg sie höher und verschwand unter der dicken Wolkendecke, die seit Tagen schon mit ihnen mit zu ziehen schien. Als würden sie auf der ersten Welle dem Strand entgegen reiten, ihn aber nie erreichen, schob der Sturm das kleine Schiff beständig vor sich her. „Wohin segeln wir?“ wollte Sargas neugierig wissen und lugte mit den Augen über die Tischplatte. Sein Ziehvater hantierte mit Zirkel und Linealen, steckte die Karten ab und legte hier und da die Stirn in Falten. Der Junge aber, kaum von Gilian bemerkt, quiekte heiter auf und rannte davon – der Elb hatte einen kleinen Tintentropfen aus dem Fass gehoben und dem Burschen an die Stirn ‚geworfen‘. Während der Junge versuchte, sich die Tinte abzuwischen und dabei auf herzerweichende Weise eine Art kindlicher Kriegsbemalung zurecht schmierte, beendete der Elb seine Arbeit und erhob sich schließlich mit einem knappen Murren. Er nahm auf einem kleinen Sofa in seiner stattlichen Kabine Platz, klopfte neben sich auf den Stoff und lachte kurz auf, als er Sargas mit blau verschmiertem Gesicht herbei eilen sah. Der Junge rollte sich auf der Sitzgelegenheit zusammen und barg den Kopf auf dem Schoß des Kapitäns, welcher ihm nunmehr mit langen, schmalen Fingern durch die Haare glitt. „Nach Lumiél. Wenn der Kurs sich nicht ändert, reisen wir nach Lumiél zurück. Der Sturm trägt uns direkt nach Lithlad. Eine Elbensiedlung.“ Selbst der Bursche konnte ihm anhören, dass er darüber nicht unbedingt erfreut war. Gilian war im Grunde ein Abtrünniger seines Volkes. Er verehrte und beschützte eine Konstruktion aus dahin geschlachteten Bäumen, behauen mit dem Boden entrissenen Erzen und Metallen, er segelte mit Orks, Zwergen und Menschen und verhielt sich stets so untypisch für seinesgleichen. Gilian hatte dazu einst einen guten Satz geprägt, der sein Denken nur allzu gut wiedergab: Ich kann sein, was ich sein muss, um zu bekommen, was ich will. Man hatte ihn verstoßen, lange nachdem er auf See sein neues Leben gefunden hatte. Es hatte ihn nie weiter gekümmert, aber der Gedanke, sich nun wieder mit der steifen, hochnäsigen Art seines Volkes abgeben zu müssen, deprimierte ihn. Kaum zwei Wochen später – um den Proviant sah es schon wieder eher mager aus – kam das fremde Land in Sicht. Die ersten Inseln Lumiéls streiften an ihnen vorbei und am Horizont ragte der gewaltige Höllenschlund auf. Der Vulkan brach von Zeit zu Zeit aus, scheinbar völlig willkürlich. Gilian hatte einst versucht, etwas darüber heraus zu finden, war jedoch nach halber Arbeit ins Stocken geraten. Scheinbar kamen die Ausbrüche dann, wenn besonders viele Schiffe vor der Küste kreuzten, doch das weiter zu erforschen, müsste man eine Expedition führen - an Land, und das kam ja nicht in Frage! Die See war sein Heim, er lebte hier und eines Tages würde er auch hier den Tod finden, einkehren in Eumenes kaltes Reich. Die Crew war über den Kurs genauso unglücklich wie ihr Kapitän. Natürlich wussten sie nicht, dass Gilian bei den Piratenclans in Sundergrad hoch verschuldet war, sie wussten auch nicht, dass diese Schuld einfach mit den Plänen und Gerätschaften im untersten Frachtraum hätte beglichen werden können, aber ihnen war zumindest zweierlei klar: Die Piraten kamen definitiv aus dem Inselreich und der Kurs nach Lithlad konnte nur bedeuten, dass Gilian die nächsten Tages deutlich schlechterer Laune sein würde. Es war die dritte Nacht, in der sie unschlüssig in den Gewässern vor Lumiéls Südküste kreuzten. Niemand konnte sich so recht entscheiden, ob sie an Land gehen sollten oder nicht. Von Verfolgern fehlte jede Spur, kein anderes Schiff war in Sicht, also hatte man still und heimlich, ein jeder für sich, entschieden, das Problem auszusitzen, bis der Mangel an Proviant sie zum handeln zwingen würde. Keine sonderlich noble Verhaltensweise – aber immerhin würde sie zuverlässig funktionieren. Drei Mann hielten Nachtwache. Die Lampen an Deck vermochten kaum ausreichend die Dunkelheit zu vertreiben, damit man mehr als nur die schwarzen Wogen jenseits der Bordwand erspähen konnte, doch für gewöhnlich war das auch nicht nötig – die Crew kannte das Schiff blind und Feinde waren nicht nahe genug, für die sie vielleicht nun ein hell strahlendes Ziel abgegeben hätten. Tatsächlich jedoch war diese Nacht eben anders. Ein abgehackter Schrei leitete eine Reihe unruhiger Stunden ein, eine der Lampen stürzte zu Boden und zerbarst, direkt daneben schlug klirrend die Lanze auf. Sofort waren die zwei anderen Männer herbei, fanden Lampe und Waffe – und eine Menge Blut. „Alarm! An Deck!“ keifte der Ork mit tief durchdringender Stimme, „Angriff!“ heischte er aus vollen Lungen. Er sah noch einen Schatten auf sich zu rasen, da duckte sich die Grünhaut in letzter Sekunde weg. Seine Schulter wurde von etwas fürchterlich Scharfem zerkratzt, ja fast schon filetiert. Er jaulte einen Moment auf, packte die am Boden liegende Lanze und schleuderte sie zielgenau in die Schwärze. Ein durchdringender, gellender und glockenheller Schrei ertönte, ehe jenseits des Schiffes etwas ins Meer stürzte. „Harpyien!“ kreischte der zweite Nachtwächter den an Deck strömenden Matrosen entgegen. Zwei seit langer Zeit verstaubte Kisten wurden ihrer Deckel beraubt, das Holz zurückgeworfen, während man die darin befindlichen Lanzen und Säbel austeilte. „Sargas, geh in meine Kabine und bleib dort, schließ dich ein!“ befahl Gilian und packte eine der Lanzen. Er zielte und warf – ein erneuter Schrei zerriss die Nachtluft. In manchen Ländern, so fiel es Gilian völlig unpassend ein, wurden sie die ‚Krallen der Nacht‘ genannt. Ein Schwarm umkreiste das Schiff, wie viele genau, war nicht zu sagen. Immer wieder brachen sie herab und versuchten einzelne Crewmitglieder zu isolieren, zu verletzen, über Bord zu stoßen oder zu fassen zu bekommen, um sie in die Höhe zu zerren. Einzig Gilian vermochte rechtzeitig dank seiner elbischen Augen vor den Attacken zu warnen. „Köpfe runter!“ befahl er gerade erneut, da schwebte ein Schatten blitzschnell über sie hinweg. Dem Kapitän jedoch ging die Geduld aus. Er brach aus der Kreisformation aus, hastete zu einer der Holztruhen und machte sich damit selbst zum Ziel. Eine weitere Harpyie stieß mit gellendem Schrei herab und wollte den Elb zerfleischen, da riss der sich herum und schleuderte ein Netz dem Vogelweib entgegen. Die Enden und Ausläufer des soliden Stückes waren mit kleinen Gewichten beschwert, die Flügel verfingen sich hoffnungslos und die Harpyie stürzte auf Deck zu Boden. Zwei der Orks hatten indes ebenso ihre Pläne geschmiedet, postierten sich mit Schnapsflaschen an der Reling und stießen eine Flammenfontäne brennenden Alkohols durch die Lampen auf die Angreifer. Wie viele der Vogelweiber es auch gewesen sein mochten – zwei ihrer Schwestern waren tot, eine gefangen und die Crew nur um einen Mann dezimiert. Ein schlechter, ein verheerender Schnitt, der sie letztlich zum Rückzug bewog. „Ist dir mal aufgefallen, dass uns so eine Scheiße immer nur nachts passiert?“ maulte der Zwerg griesgrämig und begann damit, die Lanzen wieder in die hölzernen Kisten zu packen. Drei der kräftigeren Männer versuchten indes ihre Gefangene irgendwie samt Netz in einen der Frachträume zu schleppen, so, wie Gilian es befohlen hatte, doch sie wehrte sich so horrent, dass sie keinen Zentimeter voran kamen. Schließlich packte der noch heil gebliebene Ork dreist das Weib bei der Kehle, ignorierte, wie sie ihm die Brust zerkratzte und schlug mit der Faust zu. Ihre Glieder erschlafften und aller Widerstand fiel. Die Männer blickten die Grünhaut einen Moment verwundert an. „Man schlägt keine Frauen...“ brachte der Erste schließlich eben das hervor, was ihn von derlei abgehalten hatte. Der Ork aber richtete sich breit grinsend und damit die Zähne bleckend auf. „Bei uns das ‚Werben‘!“ meinte er, lachte herzlich und tief röhrend über die Blicke, die ihm daraufhin zuteil wurden und zog das Netz zusammen. Die Nacht zog vorbei, doch sie blieb unruhig. Fünf Mann hielten Wache, der Neuling musste – nachdem er sich dreimal über die Reling übergeben hatte – das Deck schrubben und selbst von den verbliebenen Neun bekam keiner Schlaf. Sie hatten ihren Koch verloren. Zugegeben, das war nicht das eigentliche Problem, Köche gab es wie Sand am Meer. Schlimmer war: Sie hatten einen Freund verloren. Der Morgen dämmerte bereits herauf, da wurde das Vogelweib erstmals seit dem Schlag wieder wach. Fast augenblicklich ruckte sie an den Ketten, die ihr nunmehr um Hals, Arme und Beine lagen, doch sie vermochte sich nicht zu befreien. Einstmals war dieser Raum als genau das gedacht gewesen, wofür er nach dem Ausräumen in der Nacht nun wieder diente: Ein Gefängnis. Die Waren auf andere Frachträume zu verteilen, war dabei weniger das Problem gewesen. Die Kettenglieder an die filigranen Gelenke eines exotischen Weibes anzupassen, das war schon schwieriger. Gilian saß in dem sonst völlig leeren Raum grazil wie es nur ein Elb konnte auf einem kleinen Rumfass neben der Tür. Zorn und Hass über die Schmähung der Gefangenschaft brandeten ihm schon im ersten Blick entgegen, sie stieß einen hohen, schrillen Kreischlaut aus, riss erneut an den Ketten. Fast zwei Stunden sah er einfach nur stillschweigend zu, wie sie ihre Energien verschwendete und doch schien es, als würde sie dessen nicht müde werden. „Du kommst nicht frei und bei Tag wird niemand dich zu retten eilen.“ konstatierte der Elb, nachdem es bereits hell geworden war. Die Harpyie jedoch, sich ganz wie eine Furie gebend, rüttelte weiter an den Eisengliedern, als wäre sie ihn zu verstehen nicht fähig. „Ich könnte dich frei lassen.“ Ein einziger, knapper Satz und augenblicklich hielt das Vogelweib inne. Misstrauisch blickte sie zu ihm herüber. Mit allem hatte sie gerechnet, einer Hinrichtung, Rache, Folter – aber gewiss nicht mit dem Angebot, nach ihrer Gefangennahme sie einfach wieder ziehen zu lassen. „Dann tu es!“ befahl sie mit einer Stimme, die lieblich hätte wirken können, läge darin nicht die Kälte jenes Meeres, das Gilian so schätzte. Er sprang federleicht von dem Fass herab und wagte sich zwei Schritte näher an sie heran. „Wenn du mich tötest, werden meine Kameraden kommen und dich umbringen.“ erklärte er, glaubend, sich damit eine gute Lebensversicherung geschaffen zu haben. Doch kaum, dass er näher an sie heran trat, preschte das Vogelweib hervor und versuchte ihm die Kehle aufzureißen, schnappte nach ihm, doch die Ketten hielten sie noch immer gut einen halben Meter zurück. Gilian war nicht gewichen, doch in seinem Innersten hatte er erstaunt lernen müssen, dass sich diese Rasse nicht erpressen ließ. „Für deine Freilassung erwarte ich etwas. Ich will wissen, warum ihr uns angegriffen habt. Euer Nest in Lumiél ist, wenn ich mich nicht irre, ziemlich weit von Lithlad entfernt – und bis dorthin müssten wir noch einen guten halben Tag nordwärts segeln.“ „Das geht ich nichts an!“ „Hast du Hunger?“ erkundigte sich Gilian und ließ seinen ‚Gast‘ damit erneut stutzen, „Falls du welchen bekommst, kannst du nach mir rufen. Ich bin mir sicher, du kannst laut genug schreien.“ Gilian verließ die kleine Arrestzelle und kehrte in seine Kabine zurück. Er war erschöpft, versuchte Schlaf nachzuholen und es gelang ihm doch nicht. Eine der Ihren, vielleicht sogar eben jene, hatte einen seiner Männer auf dem Gewissen. Sie hatten sie angegriffen, in der Nacht, ohne Vorwarnung versucht, jeden an Bord abzuschlachten. Warum? Es gab in den Ödländern Südlumiéls viel bessere, viel leichtere Ziele. Harpyien waren Jäger, sie legten es nicht auf Krieg oder Herausforderungen an, sie wollten einfach nur Beute, Nahrung für sich und ihresgleichen. Wozu so eine lange Reise antreten? Niemand in der Crew war einverstanden damit, das Vogelweib an Bord zu behalten – oder leben zu lassen. Aber so sehr der Wunsch nach Rache in ihnen schwelte, sie wagten nicht, das Urteil ihres Kapitäns in Frage zu stellen. Selbst Sargas erklärte in den Stunden, da er um Gilian herum wuselte, dass er Angst vor dem Wesen hatte. Sie sei garstig und gemein und gefährlich – was nur, wenn sie sich losreißen würde? Es brauchte fast eine Stunde, ehe der Elb einen Schützling hatte beruhigen können und das gelang ihm auch nur, weil der Bursche einfach einschlief. Zwei weitere Tage strichen dahin und die Situation besserte sich nicht. Der Proviant würde für bestenfalls vier Tage noch reichen, Nacht für Nacht kehrten die Harpyien zurück und fanden das Schiff trotz gelöschter Lichter auf der See wieder. Sie setzten an Deck auf und versuchten die Crew anzugreifen, doch in den engen Gängen und Korridoren verloren sie jedweden Vorteil. Ihre Gefangene indes erwies sich als wenig redselig, doch in der Nacht zum dritten Tage endlich rief sie nach Gilian. Der Hunger plagte sie. Ganz wie gewünscht, wie beabsichtigt, vermochte sie nicht länger den Widerstand zu halten – sie war ausgezehrt. Das verriet dem Elb viel darüber, wie viel Nahrung eine einzige Harpyie brauchte – der Bedarf eines ganzen Großnestes musste gewaltig sein. Doch selbst das bot keine Erklärung, warum die Vogelweiber das Schiff anfielen, wieder und wieder, ungeachtet ihrer Verluste. Als er mit einem guten Vorrat abgehangenen Schinkens – der Letzte aus der Kammer – wieder zu ihr zurückkehrte, hingen die Augen des Weibes einzig am Fleisch. Es war nicht mehr warm, nicht mehr blutig, zuckte und schrie nicht, doch für den Anfang war abgehangener Schinken besser als gar nichts. „Wir spielen ein Spiel.“ schlug der Elb ungeachtet ihres erbärmlichen Zustandes vor und nahm wieder Platz auf seinem Fass, „Ich stelle eine Frage, du antwortest. Wenn ich zufrieden bin, bekommst du etwas zu essen. Verstanden? Gut. Wie heißt du?“ Die Harpyie schien mit der Regelung so gar nicht einverstanden, überhaupt nicht zufrieden, doch ihr blieb schlicht keine Wahl. Sie wollte nicht antworten, doch da erhob sich das Spitzohr und wollte augenscheinlich gehen – ihr jedoch lag nichts daran, zu verhungern. Sie wollte zu ihren Schwestern und ihrer Brut zurückkehren und was war schon Übles daran, einen Namen zu nennen? „Orykene...“ brachte sie hervor und fing das erste Stück Schinken, grob und guten Gewissens mit dem kleinen Messer in Gilians Händen herausgetrennt, noch in der Luft auf. „Sehr erfreut, Orykene. Mich nennt man Gilian, ich bin der Kapitän dieses Schiffes, sein Befehlshaber.“ „Elben... haben Nachnamen.“ gab das Vogelweib einen Teil ihres Wissens preis und versetzte damit nunmehr das Spitzohr in Staunen. Von ihresgleichen hieß es stets, außer Brut und Jagd würden sie sich für nichts interessieren und nun zeigte sich, dass diese Gefangene etwas über das Elbenvolk wusste – etwas, das ihr zweifellos weder bei der Brutpflege, noch der Jagd würde helfen können. „Elben gehören nach Ansicht der Elben nicht unbedingt auf See, schon gar nicht in Schiffe oder die Gesellschaft von Orks und Zwergen. Ich habe nicht mehr das Anrecht, meinen Familiennamen zu tragen.“ Einen Moment neigte Orykene das Haupt zur Seite, betrachtete den Elb und erkundigte sich auf eine eigentümlich unterhaltsame Weise, ob man ihn denn seines ‚Nestes‘ verstoßen habe. Er nickte, obgleich eine elbische Enklave natürlich keinem Nest gleich kam. Als das Vogelweib dann jedoch ihr Beileid bekundete und darüber sprach, was für eine schreckliche Vorstellung es für sie sei, ihren Hort zu verlieren, staunte Gilian schon zum zweiten Mal. Erst ihr dezentes „Mehr!“ brachte ihn wieder in die Bahn zurück und er fütterte sie weiter. „Warum habt ihr uns angegriffen?“ „Es wurde uns befohlen.“ „Von wem?“ „Menschen. Menschen auf Schiffen. Piraten.“ Einen Moment lang hätte Gilian darüber schmunzeln wollen, wie rollend das Vogelweib das ‚R‘ aussprach, doch das angedeutete Lächeln verging ihm schnell. Die Geschehnisse um ihre Flucht, die Rückkehr nach Lumiél, die Schuld in Sundergrad – und jetzt von Piraten gesandte Harpyien? Das konnte wohl kaum ein Zufall sein. „Ich dachte immer, niemand kann euch befehlen? Wie kam es dazu?“ „Da ist ein großes Nest. Im Süden, am Wasser. Da sind die Menschen. Sie haben etwas gekauft, das uns gehört, uns gestohlen wurde.“ In diesem Moment fiel es dem Kapitän wie Schuppen von den Augen. Alles, ja wortwörtlich alles konnte man auf den Märkten Sundergrads kaufen. Wie verwunderlich wäre es da, dort auch Harpyieneier zu finden? Irgendwelche Narren waren sicherlich irgendwann dumm genug, das Nest bestehlen zu wollen und im Grunde war es nur eine Frage der Zeit, bis ihnen das auch gelänge. Solche Eier wären eine Rarität, von unglaublichem Wert – aber auch schwer zu verkaufen. Denn niemand war dumm genug, nicht die Rache der Harpyien zu fürchten. Man wusste, dass den Vogelweibern nur ihre Führerin so wichtig war, wie es ihre Brut ist. Vielleicht hielten sie die Eier für zerstört, vielleicht für gestohlen, aber hatten keine Spur. Es musste ein Schock und üble Überraschung sondergleichen gewesen sein, zu bemerken, dass ihr Verlust ausgerechnet in den Händen von Menschen auftauchte, die sie sogleich damit zu erpressen wagten. Natürlich lag das in der Macht der Piratenclans – sie waren gut darin, Dinge zu kaufen und zu verstecken. Sie hatten schon ganze Schiffe erfolgreich geschmuggelt. „Sie versprachen also, euch die Eier zurück zu geben, wenn ihr uns dafür umbringt?“ „Nein. Wir sollen euch umbringen und ihnen dann sagen, wo euer Schiff ist. Sie wollen etwas von euch. Was wollen sie?“ Überraschend, wie neugierig Orykene werden konnte, wenn es ihr erst einmal wieder etwas besser ging. Dass dieser Charakterzug für eine Harpyie überdies recht ungewöhnlich war, vermochte Gilian natürlich nicht einzuschätzen. Er überlegte schlicht, ob er ihr die Wahrheit sagen konnte, ob es überhaupt irgendeine Veranlassung gab, dies zu tun. Vor Jahren schon war er im Auftrag der Piraten nach geheimen, ungemein kostbaren Seekarten gesegelt, hatte Position bezogen, mitten im Meer, eine Schar von Zaubereien und Runen benutzt, um kostbarste Schätze vom Grund der tiefen See zu bergen. Ein Unterfangen, das Tausende Gulden verschlungen hatte – und nun ruhten geheime Pläne und Glyphen, Wrackteile und Kanonenbausätze im Schiffsrumpf. Der ganze Lagerraum war voll mit den Geheimnissen Vyndarths, des versunkenen Reiches. Vor vielen tausend Jahren ihres Hochmutes und der Götterfrevelei wegen von Eumenes selbst in die Tiefen ihres Reiches zurück gezogen, verfügte die Kriegsmarine des Inselreiches über Waffen jenseits aller Vorstellungskraft, über Techniken, die die Zwerge erblassen ließen und Magien, dass selbst den Elben die Kiefer herab klappen würden. Gilian hatte diese Geheimnisse ans Licht gebracht. Er war fast schon berühmt dafür, dass Eumenes ihm wohlgesonnen schien. Als er die Technologien und Magien des Reiches aus Eumenes Schoß barg, da strafte sie ihn nicht für diese Dreistigkeit. Aber er hatte die Piraten betrogen: Er hatte sich die Pläne angesehen, die Waffen studiert, die Runen erforscht und feststellen müssen, dass eine solche Macht niemals in die Hände der Piratenclans würde fallen dürfen. Die Gewässer wären nimmer sicher, nicht für Händler, nicht für Marine, für niemanden! Ein Vermögen, mit dem man Staaten hätte kaufen können, ruhte ungenutzt in seinem Schiffsrumpf. Doch Gilian schwieg darüber, schüttelte den Kopf und lächelte der Harpyie zu. Er erhob sich vom Fass, trat näher an sie heran – nah genug, dass sie ihm die Kehle hätte aufreißen können. Sie wusste das, er wusste das, und dennoch verweilten sie dabei, einander kritisch zu mustern. Der Elb hockte sich vor seine Gefangene und reichte ihr das gesamte Fleisch. Noch immer misstrauisch, nahm sie die Gabe und machte sich rasch darüber her. „Allzeit lag mir stets nur eines am Herzen: Die See. Ich wollte mit einer Hand voll guter, tapferer Männer und Freunde im Schoße meiner Göttin kreuzen. Als junger Spunt mit Flauen im Kopf stand mir der Sinn nach Abenteuer und Schätzen. Heute ist die See mein Heim und ich will sie nicht verlassen müssen. Ich schlage dir einen Handel vor, Orykene, dir und deinem gesamten Nest. Ich lasse dich frei, wenn du die Kunde als Botin überbringst.“ „Was willst du vorschlagen?“ „Ich beschaffe euch die Eier und gebe sie euch. Im Austausch dafür verschont ihr meine Crew und mein Schiff, von jetzt an bis zu dem Tag, da euer Nest oder mein Leben vergeht.“ „Warum solltest du das tun? Wenn wir euch töten, dann-„ „Nein, eben nicht.“ unterbrach Gilian sie mit einem triumphierenden Lächeln, „Du weißt das. Sie werden euch die Eier niemals geben. Ihr seid zu schlagkräftig. Sie würden nie auf den Luxus verzichten wollen, sich nie wieder selbst die Hände schmutzig machen zu müssen.“ Orykene beugte sich langsam vor, ein bedrohliches Funkeln und Blitzen in ihren Augen, während sie mit den rasiermesserscharfen Krallen fast schon zärtlich über Gilians Wange strich – nur um ein Haar zu wenig Druck, um sie aufzuschneiden. „Und warum solltest du das dann wollen? Wer sagt, dass wir nicht eine Geißel gegen die Nächste tauschen?“ „Weil ich als Gewinner aus dieser Sache heraus gehen werde. Ihr habt nichts zu verlieren, wenn ihr darauf eingeht. Den Piraten könnt ihr ja erzählen, ihr hättet uns nicht gefunden oder wir wären alle tot oder dergleichen – ich werde nicht einmal ein viertel Jahr brauchen! Wenn wir euch betrügen, dann könnt ihr immer noch kommen und uns alle töten, denn dann habt ihr nur ein Schiff, das euch erpresst, statt ganzer Flotten. Und ich... sagen wir: Um in den Besitz der Eier zu kommen, muss ich Besitzer der Piraten werden... was zeitgleich auch meine Schulden bei diesen Halunken für nichtig erklären würde und da sie mir in den letzten Jahren zunehmend näher rückten, wäre ich über solch eine Regelung wahrlich nicht traurig.“ Noch ein kleines Stück näherte sich das Vogelweib seinem Gesicht, lotete die listig drein blickenden Augen des Elben aus und erkannte trotz ihrer gründlichen Suche keine Lüge darin. Gilian hob die Hand, vorsichtig und langsam, strich über das Gefieder ihrer Flügel und verschaffte der Harpyie ein wohliges Schaudern, dass sie vor ihm zurück wich, nur um Sekundenbruchteile später wieder näher zu rücken. Fasziniert von jener Reaktion, führte der Elb seine Fingerspitzen grazil über das fragile Flugkonstrukt ihres Leibes und ließ gar ein verhaltenes Lächeln zu, als sein Gast ihm eben Selbiges schenkte. „Wir wissen nicht, welcher Clan uns bestohlen hat – wie gedenkst du aller Clans habhaft zu werden?“ verlangte Orykene zu wissen, doch das Lächeln auf Gilians Lippen zog nur zu einem breiten Grinsen auseinander. „Es gibt immer Mittel und Wege...“ flüsterte er triumphierend und löste die Ketten von ihren Gliedern. Noch in der gleichen Nacht geleitete er die Harpyie an Deck. Sie spreizte die Flügel, warf einen letzten, schwer zu deutenden Blick zum Kapitän dieses Schiffes zurück und schwang sich grazil und lautlos in den Himmel empor. Einen Moment blickte der Elb ihr nach, ehe er seine Männer an Deck zitierte. „Los, setzt die Segel, wir haben einen langen Weg vor uns!“ kommandierte er und lächelte zufrieden, als Eumenes ihm einmal mehr ihre Gunst zu erweisen schien: Kaum herabgelassen, blähten die Winde das Segel und trieben das Schiff voran. Lithlad würde warten müssen, denn kein Elb mit Stolz und Ehre – und angeblich waren dort nur derlei zu finden – käme auf die Idee, sich als Dieb zu verdingen. In Varakas jedoch würden sich gewiss ein paar Zwerge dafür finden lassen. Man musste ihnen nur von allerhand Geschmeide und Gold, von Edelsteinen und anderen Wertsachen erzählen, die irgendwo in Sundergrad rumliegen würden, nur darauf wartend, dass man sie fand und hob. Neben solchen Reichtümern wirkte das eine, kleine Amulett, das Gilian dafür für sich verlangen würde, doch fast schon erbärmlich... Als sie Tage später an Land gingen, war der Elb bester Laune. „Ich hole uns mal ein paar raffgierige Kurze!“ posaunte er sogar auflachend herum. Nur Halwig Sturmfaust, der einzige Zwerg und Kanonier an Bord, wirkte darüber weniger erfreut und brummelte irgendwas in seinen Bart hinein. Gilian verließ sein Schiff, spazierte den Steg des erbärmlich kleinen Hafens von Varakas entlang und warf, kurz bevor er die Steilküstensiedlung betrat, einen letzten Blick zurück auf sein Schiff und seine Crew, die eifrig dabei war, mit dem Hafenmeister um die Anlegegebühr zu verhandeln. Natürlich hätte er zu diesem Zeitpunkt schlecht ahnen können, dass er mehrere Tage hier fest säße, weil das Fürstenamulett der Sundergrader Piraten nicht nur in Süd-, sondern sogar ganz Lumiél eine kleine Legende war. Kein Zwerg war dumm genug, auf die Geschichte eines Elb herein zu fallen, der von schlecht bewachten Schätzen erzählte. Da musste einfach mehr dahinter stecken. Es war schließlich ein merkwürdiges Gespann, das seiner Not Abhilfe schaffen sollte. Ein Mensch und eine Elbe, er ein blasser Hänfling von allerhand Fingerfertigkeiten, der vor seinen Augen den Dolch der Sundergrader Diebesgilde in das Tischholz zu rammen wagte und sie eine Kriegerin mit Schwert und Rüstung. Ein wahrlich skurriler Anblick – aber ihre Notlage war vielleicht hinreichend, ihm bei der Seinen zu helfen... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)