Die Geschichte des legendären Sullivan O'Neil 2 von Izaya-kun (Zwischen Gott und Teufel) ================================================================================ Kapitel 36: Ein indirektes Wiedersehen -------------------------------------- Wie angekündigt gingen wir bereits am frühen Morgen los. Robin und Serdon hatten sich in einen Mantel gehüllt und wir liefen größtenteils schweigend durch die Straßen. So früh war kaum einer unterwegs, wenngleich die Ausgangssperre längst vorbei war und während wir uns unseren Weg durch Brehms schlängelten, stellte ich mir selbst Unmengen an Fragen. Ich wusste nicht ansatzweise, wer oder was mich erwarten würde und zugleich hatte ich meine eigenen, kleinen Fantasien vor Augen. Vielleicht eine Art kleines Skriptorium, wie jenes von Meister Pepe oder eine Bibliothek, wie jene aus der Deo Volente? Der Ort, den wir aufsuchten, lag mehrere Bezirke weiter und eine Zeit lang hatte ich das Gefühl, wir würden das Ziel niemals erreichten. Zwar schmolz der Schnee, sobald er auf dem Boden lag, dennoch war es eisig. Ich sah zu, wie mein Atem durch die Luft wirbelte und rieb mir meine Hände unter dem Umhang. Robin sprach kaum ein Wort mit mir. Er schien wie meistens in Gedanken zu sein, aber wenn er merkte, dass ich ihn ansah, lächelte er mir entgegen oder munterte mich auf, mit Sätzen wie „Es ist nicht mehr weit.“ Der zweite Ächate hingegen sagte weiterhin nichts. Mir kam der Gedanke, dass er vielleicht nicht sprechen konnte, aber an Respekt verlor ich dennoch nicht. Nun, wo wir nebeneinander hergingen, wurde mir nur umso bewusster, wie groß der Mann war. Er ragte einen ganzen Kopf über mich hinaus. Wenn man ihn mit Robin verglich, war es fast ironisch, denn dieser war ein Stück kleiner als ich und recht schmal. Stark gebaut, ja, aber nicht so ein beängstigender Hüne. Ich versuchte mir auszumalen, wie stark Serdon sein musste, aber fand niemanden zum Vergleich und dann überlegte ich, ob er eine Kuh stemmen könnte. Ein absurdes Bild, aber für diesen Moment kam es mir sehr imposant und beeindruckend vor. Als wir dann endlich das erreichten, was wir angesteuert hatten, standen wir vor einem normalen Gebäude innerhalb des angesehen Viertels. Zwar nicht in jenem der Adligen, aber hier gab es kaum Schmutz und wieder wesentlich mehr Dekorationen. Wir befanden uns in einem besonders verwinkelten Gebiet von Brehms und ich verlor schon binnen weniger Minuten den Überblick. Links neben uns führte ein Arkadengang entlang, über dem ein großes Wohnhaus war und hinter den Säulen erkannte ich das Ladenschild eines Händlers. Es sah hübsch aus, in Form eines Wappens mit Pflanzen drum herum. Die Säulen selbst waren mit Mustern verziert und bogen rechts ab zu einer kurzen Unterführung. Dahinter sah ich eine Art Hof, anschließend wieder einen leichten Tunnel, geführt von einem weiteren Hof. Sechs solcher Unterführungen hintereinander. Über jedem der Wölbungen waren Köpfe in den Stein gemeißelt und auch hier gab es Efeu-Ranken oder goldene Inschriften mit Zitaten aus der heiligen Schrift oder Weisheiten der Abgebildeten. Rechts von mir zog sich eine weitere Häuserwand entlang, mit großen Einbuchtungen die von Balkonen stammten. Auch hier gab es Pflanzen über Pflanzen, Vasen auf dem Boden, an der Wand oder an den Scherengittern der Fenster. Man hatte Töpfe an die Schwippbögen gehangen und ein kleiner Baum kämpfte sich durch das Gestein nach oben. Das dunkle Grün schien zu leuchten durch die weißen Mauern und den Schnee darauf. Es war ein herrlicher Anblick. Robin steuerte ein Wirtshaus an, das unmittelbar neben dem Händler lag und ich konnte beim Vorbeigehen den Titel dessen lesen: „Brehmser Mittelpunkt.“ Im Innern dann erfüllte der altbekannte Geruch von Bier und Rum die Luft. Es gab nur wenige Gäste, aber die, die es gab, waren laut genug um den gesamten Raum damit zu erfüllen. Einige tanzten lachend zu einer Fidel und andere erzählten sich Witze am Tresen. Die zwei Ächaten vor mir beachteten es nicht, sondern gingen geradewegs durch die Tische hindurch auf einen roten Vorhang zu. Ich registrierte im Winkelblick, dass der Wirt uns zwar bemerkte, aber er interessierte sich nicht annähernd für uns. Hinter dem Vorhang gab es ein Zimmer mit Tisch, Regalen, Geschirr und Stühlen und in diesem wiederum eine Tür zur Speisekammer. Robin öffnete sie, ging in die Hocke und während Serdon an der Tür blieb und Wache hielt, hantierte er am Boden herum. Er beachtete weder das Regal darin, noch das Obst, die Getränke, den Besen oder die Stofffetzen. Alles, was ihn interessierte, war jene Falltür, die er nun aufzog. Mit einem Handzeichen deutete er mir, dass ich hinuntersteigen sollte und nachdem ich es ohne Zögern tat, folgten auch die anderen zwei. Im unteren Teil befand sich der Keller des Gasthauses, aber anders, als erwartet, gab es nicht nur Kisten und Regale. Robin ging erneut vor und meinen Kopf aufmerksam hin und her drehend, musterte ich alles, was es um mich herum gab. Regale und Kisten, die zum Lager des Wirtshauses gehörten und weiter hinten, am Ende des Kellerzimmers, zwei große, flache Tische. Ich erkannte Pergamente darauf, Bücher und in einer Ecke gab es einen weiteren, kleinen Stapel. Auf dem Boden stand eine Kiste voller Papier, Federn lagen herum und überall standen Kerzen, die geringes Licht spendeten. Es roch nach Feuchtigkeit und war kalt, aber vor allem roch man Tinte, Staub und Papier. Wir blieben stehen und standen zwei Personen gegenüber, die an den Tischen saßen und schrieben. Als sie uns erkannten, lächelten sie Robin zu und tauschten kurze, fremd klingende Worte miteinander. Anschließend deutete man auf mich und Robin erklärte: „Das ist Falcon. Er gehört zu uns.“ Eine kurze Vorstellung meinerseits, aber sie reichte, damit die zwei Gestalten mir die Hand gaben. Einer von ihnen, er stellte sich als Devin vor, erinnerte mich an einen früheren Bekannten aus dem Kloster. Er hatte ein rundes Gesicht mit deutlichen Sommersprossen und braunes, leicht gewelltes Haar. Laut seiner Aussprache war er Brehmser und sein Lächeln war offenherzig und ehrlich. Durch seine Brille wirkte er wie ein Gelehrter, aber seine ärmliche Kleidung ließ auf einen einfachen Mann schließen. Die zweite Person verwirrte mich. Es handelte sich um eine wunderschöne, schlanke und junge Frau, mit haselnussbraunen Haaren, die ihr in einem langen, geflochtenen Zopf bis zur Hüfte reichten. Ihre Hand war leicht rau, aber ihr Händedruck fest und überzeugend. Ich starrte sie an, wie ein Idiot, denn weder schrieben Frauen für gewöhnlich, noch waren sie gebildet genug, um solcherlei Dinge wie diese hier zu verstehen. Wahrscheinlich eine Nonne, dachte ich, doch der freie Blick, der mir in ihr Dekolleté möglich war, ließ mich daran zweifeln. Ich starrte in ihre hellgrünen, unglaublich klaren Augen, die mich an Katzen erinnerten, um mich von dem Schönheitsfleck direkt auf ihrer linken Brust abzulenken und während sie mit nur leichtem, südlichen Akzent hauchte: „Ich grüße Euch, mein Name ist Mona.“, bekam ich unglaubliche Gänsehaut. Noch nie zuvor hatte ich eine so wunderschöne, anmutige Frau gesehen. Nachdem sie meine Hand wieder los gelassen hatte, ging sie zu Robin und während sie ihm einen Kuss auf die Lippen hauchte, wurde ich rot. Nicht nur, da sie etwas so intimes einfach so vor unseren Augen taten – ich schämte mich dafür, sein Weib auf diese Art angesehen zu haben. Lassen konnte ich es dennoch nicht, wenngleich ich versuchte, es weniger offensichtlich zu tun. Ihr grünes Kleid betonte ihre Figur ungemein und wenn sie an mir vorüberging, konnte ich nicht anders, als zu glotzen. Das ging über viele Tage so und an keinem wurde mein Bedürfnis schwächer. Es ging so weit, dass ich von ihr träumte und das schlimmste war, dass Mona davon nichts zu merken schien. Wir gingen von da an fast täglich in ‚die Schreibhöhle’ und begannen, einzelne Werke zu kopieren. Bis auf Devin, Mona, Robin und mich gab es außerdem noch vier weitere Kopisten aber wir trafen uns sehr selten. Einer von ihnen, Rory, war für die Zeichnungen zuständig und ein weiterer, Finn, holte regelmäßig die Seiten ab, um sie zu binden. Es machte mir Spaß, mit den anderen zu schreiben, wenngleich wir kaum Zeit zum Sprechen hatten und der Keller alles andere, als bequem war. Manchmal brachte der Wirt uns Reste nach unten oder Getränke und wenn mehr als vier Schreiber da waren, las einer aus dem Buch vor, während alle mitschrieben. Zu meinem Erstaunen wurde nicht in jedem Fall darauf geachtet, dass die Seiten wirklich eins zu eins aussahen, wie die Vorlagen. Viel wichtiger waren Inhalt und Rechtschreibung, denn es ging darum Wissen zu vermitteln. Wir kamen sehr zügig voran, da wir alle an einem Buch saßen und die Seiten untereinander aufteilten. Wenn wir fertig waren, feierten wir unseren Erfolg, indem wir nach oben gingen und etwas tranken. An den Tagen, an denen ich nicht in der Schreibhöhle war, streunerte ich mit Slade durch die Stadt, aber ich genoss es, wenn Robin mich bat, mich am nächsten Morgen wieder mit ihm auf dem Weg zu begeben. Am allermeisten deswegen, weil ich so viel lesen konnte. Meistens bekam ich nur wenige Seiten zum Abschreiben, die ohne den Rest wenig Sinn ergaben, aber mir wurde die Aufgabe zuteil, zur Kontrolle alles noch einmal zu lesen. Es war unbeschreiblich! Nicht nur Werke von Falcon Ryan Colm, nein, wir hatten auch Bücher von Michaelos Rasero, der bekannt dafür war, dass er Visionen von Gott hatte. Mitschriften von Roman Stuarts, einem Philosophen, der über den Sinn des Lebens sinniert hatte und es gab sogar einige Gedankengängen von Richard von Henrys, dem größten Ketzer überhaupt! Da ich keine einzige Abschrift mitnehmen durfte, setzte ich mich oft stundenlang in die hinterste Ecke und verschlang die Worte geradezu. Robin ließ mich machen und Mona fand es amüsant. Serdon, der eigentlich nur bei uns saß und stets Wache hielt, musterte es eher skeptisch, doch mit der Zeit ließ sogar sein düsterer Blick nach. Ich verstand allmählich immer mehr, wie das System der Samariter funktionierte und auch, wo Nevars Platz in dieser Planung war. Fertige Bücher übergab Robin an ihn und Nevar brachte sie fort. Wohin wusste ich nicht, aber was ich mitbekam, war, dass Robin wiederum neue Bücher von Nevar erhielt. Wahrscheinlich hatte er früher die Werke aus der Bibliothek der Deo Volente geholt und an die Samariter übergeben und nun nahm er sie von woanders. Für jedes Buch erhielt Nevar eine gewisse Summe an Geld, zumindest glaubte ich das. Ich beneidete den Mann, denn als ich fragte, wie viel es mich kosten würde, eines der Bücher behalten zu dürfen, lachte Robin nur. „Das könnt Ihr euch nicht leisten, Falc’dhe, glaubt mir.“, war das einzige, was er sagte. Wenn das stimmte, dann mussten die Samariter mit den Werken sehr gut verdienen. Bei jedem Schriftstück, das wir fertig stellten, bekamen wir eine nicht geringe Summe ausgezahlt und während der Arbeit erhielt ich einen Schlafplatz, so wie Essen und Getränke. Man konnte sagen, ich hatte ein sehr gutes Leben und ich genoss es. Slade selbst kopierte nie, aber auch er lieferte ab und an Schriftstücke ab und wenn das Geld dennoch knapp wurde, gingen wir auf Beutezug. Im Laufe des ganzen Monats, den ich regelmäßig in der Schreibhöhle arbeitete, empfand ich mein Leben als immer angenehmer. Der Schnee begann liegen zu bleiben und ich kaufte mir von meinem Geld neue Hemden, so wie eine dickere Hose. Natürlich musste ich aufpassen, denn ich hatte keine Papiere mehr, aber niemand schien nach mir zu suchen. Wahrscheinlich dachte Domenico, ich wäre tot oder aber, er suchte an den völlig falschen Stellen, hatte kein Interesse mehr an mir oder war froh, mich so schnell losgeworden zu sein. Vielleicht hatte auch Nevar seine Finger im Spiel, ich wusste es nicht, aber mit der Zeit vergaß ich alles, was mit der Deo Volente zu tun hatte. Ich baute Freundschaften auf, vor allem mit Mona. Die Halb-Ächatin war ausgesprochen intelligent und es gab Abende, an denen waren wir allein im Skriptorium. Dann schrieben wir, nur nebenher und unterhielten uns über das, was wir lasen. Ihre Ansicht interessierte mich sehr und ihre Lebensart faszinierte mich. Sie glaubte an Gott, ja, aber sie sah ihn nicht als Gott der Christen an. Mona erklärte mir, dass die Ächaten eigene Götter hatten und auch, dass sie daran glaubte, dass all diese Götter, ihre und meine, ein und derselbe Gott waren. Sie betete, aber auf ihre eigene Art und besuchte weder christliche Messen, noch folgte sie ächatischen Ritualen. Ihre Mutter war Ächatin, ihr Vater Christ gewesen und sie hatte sich schon früh für eine der Religionen entscheiden müssen. Statt dies zu tun, hatte sie allerdings einen eigenen Glauben entwickelt und nun kämpfte sie für die Samariter, um die Inquisition zu schwächen. Sie war der Ansicht, dass, wenn weniger Angst und Druck herrschen würde, jeder Mensch seine Religion frei entfalten könnte. So würde sich die Welt weiterbilden in eine Zukunft voller Freiheit und Liebe. In eine Zukunft, die niemanden mehr unterdrückte. Für mich klang das alles ziemlich fantastisch, andererseits empfand ich diese Gedanken als sehr schön. So manches Mal vergaßen wir vor lauter Gerede das Schreiben, wobei ich mich zwingen musste, meine unzüchtigen Gedanken zu vertreiben. Besonders schlimm war es, wenn ich angetrunken war und ich glaube, Mona verstand irgendwann, was ich für sie empfand. Ich bewunderte ihre Treue zu Robin, denn sie hielt mir stand und wich jeder Andeutung gekonnt aus. Es amüsierte sie, aber nicht auf boshafte Art und Weise – es schmeichelte ihr. Devin ging es ähnlich wie mir. Wir sprachen nur sehr selten, da er meist dann da war, wenn ich gerade ging, aber ich merkte, dass er sich ebenfalls in Mona verguckt hatte. Er beobachtete sie häufig, wenn sie umher ging und wenn ihr Handgelenk schmerzte, stürzte er sich förmlich darauf, ihre Arbeit übernehmen zu dürfen. Er warb um ihre Aufmerksamkeit, aber gegen Robin kam keiner von uns beiden an. Irgendwann wurde der Schnee so hoch, dass wir seltener in die Schreibhöhle gingen. Der Weg war zu weit oder aber es herrschten Schneestürme, die uns daran hinderten, das Gasthaus zu verlassen. Manchmal kam es vor, dass ein solcher Sturm tobte, während wir unten waren, also brachte man uns Decken und wir übernachteten zwischen dem Papier. An ein solches Mal erinnere ich mich noch ganz genau. Robin, Mona, Serdon und ich waren an diesem Abend die einzigen, die noch in der Schreibhöhle waren und der Wind pfiff so stark, dass wir selbst im Keller unten die Fensterläden klappern hören konnten. Die Straßen waren so gut wie leer, keiner wollte bei diesem Wetter hinaus und jetzt zurück zum Vagabunden zu gehen wäre unser sicherer Kältetod. Wahrscheinlich würde sogar Robin sich verlaufen oder wir würden uns vor lauter tanzenden Flocken verlieren. Aus diesem Grund beschlossen wir, über Nacht zu bleiben, obwohl das gegen Robins Prinzipien sprach. Er war der Meinung, dass es riskant war, denn sollte jemand auf die Idee kommen, uns zu beobachten, könnte ihm auffallen, dass wir verschwunden waren. Man gab uns braune Decken und etwas frierend rückten wir alle ganz nahe beieinander und beschlossen, zu schlafen. Ich allerdings konnte es nicht. Das Geklappere der Läden machte mich förmlich verrückt, außerdem war mir zu kalt zum Schlafen. Während alle sich zur Ruhe gelegt hatten, blieb ich am Tisch sitzen und schrieb noch ein wenig. Wir hatten gerade einen besonders kleinen Auftrag. Das Buch hatte nur wenige Seiten und es würde nur noch ein, zwei Tage dauern, dann wären wir fertig. Es handelte um die verschiedenen Glaubensarten, die es gab und darum, was für Vergleiche man zu den Katholiken ziehen und welche Religion sich aus welcher entwickelt haben könnte. Die ausschweifende Art des Autors langweilte mich. Er hatte die Angewohnheit etliche Nebensätze in einem Satz einfließen zu lassen und sich in jeder Zeile zu wiederholen. Man merkte zwar, dass er wusste, was er schrieb, dass er davon überzeugt war und dass er dem Leser sehr wichtige Dinge nahe bringen wollte, aber es ging nur sehr langsam voran und schon nach einer halben Seite verlor ich die Lust. Ich ließ das Werk links liegen, stand auf und musterte unsere Kiste. In dieser waren alle Bücher drin, die wir noch kopieren mussten, insgesamt fünf Stück. Robin achtete darauf, nicht zu viele aufzunehmen, denn wenn jemand die Kiste fand, wäre das ein riesiger Verlust. An viele Bücher kam man so einfach nicht mehr heran. So weit ich wusste, lagerten die Samariter die fertigen auch woanders, um kein zu großes Risiko einzugehen. Neugierig nahm ich eins nach dem anderen hoch, wischte mit der Hand den Staub von den Einbänden und las die Titel. Von Lämmern und Lämmchen – Domenic Marco Gedanken-Käfig – Mary A. Fayette Das goldene Kreuz – Shane McMillian Gott hat uns verlassen – Leonie von Schwelm Zwischen Liebe, Lust und Last – Vladimir Jones Kennen tat ich keines der Bücher und es fiel mir schwer, mich zu entscheiden, welches ich lesen sollte. Ich griff nach dem ersten von Domenic Marco und blätterte darin herum, aber die Schrift war wirklich winzig und schwer zu lesen. Es handelte sich um eine Art Roman, in der der Protagonist Gottesdienste besuchte und zum Nachdenken angeregt wurde, als er einen Priester bei einem Mord beobachtete. Ziemlich weit hergeholt, wie ich fand, aber wohl nicht weit genug, um dafür nicht auf dem Scheiterhaufen zu brennen, denn das hatte er dafür getan. Da mich solche fiktiven Dinge nicht interessierten, griff ich jenes von Shane McMillian. „Das goldene Kreuz.“ Ich hatte mal in eines seiner Werke hineingelesen und mochte ihn. Leider musste ich damals das Buch abgeben, als man es für ein Ketzerswerk erklärt hatte. Beim Überfliegen verstand ich, dass es sich um einen riesigen Text darüber handelte, wie die Kirche ihr Geld verdiente und die protzigen Kirchdekorationen finanzierte. Er sprach negativ über Ablassbriefe, bis hin zu Spenden, Pilgerreisen und sogar die Kirchensteuer machte er schlecht. Ein Aufklärungsbuch. Solche Art von Büchern fand ich hier oft und wir kopierten sehr häufig eben solche. Sie sollten zum Nachdenken anregen und wahrscheinlich funktionierte es auch. Als drittes griff ich jenes Buch von Mary A. Fayette. Langsam schlug ich das kleine, rote Werk auf. Es war sehr dünn und alt, am Buchrücken hatte es Risse und einige Seiten waren lose. Es sah aus, als hätte man es aus dem Müll gefischt oder aus einem eingestürzten Haus, voller Dreck und Schmutz. Kurz roch ich daran und nahm den Geruch von Ruß war. Wahrscheinlich hatte Slade es gefunden, als er, wie so oft, in ein abgebranntes Haus eingestiegen war, um mitzunehmen, was immer er tragen konnte. Geschrieben war das Buch allem Anschein nach wirklich von einer Frau und die Jahreszahl auf der ersten Seite zeigte mir, dass es noch gar nicht allzu alt war. Ich las die ersten Zeilen, blätterte dann ein wenig hin und her und las weiter. Bilder gab es keine, aber dafür umso mehr Text. Die Frau war keine Nonne, sondern eine verheiratete Ehefrau, die sich über die Ungerechtigkeit gegenüber den Frauen und anderen, unterdrückten Gruppen ausließ. Darüber, dass die Heilige Schrift frauenfeindlich sei und darüber, dass man das Volk verdummen ließ, damit niemand dagegen aufbegehren konnte. Sie schrieb lange Texte darüber, dass, würden Frauen lesen und schreiben lernen, die Männer Unterstützung hätten – stattdessen empfanden diese es als Schande und schämten sich für ihr Weibsbild. Dieser Frau war das gleiche passiert und auf der letzten Seite stand, dass sie nichts bereute, von dem, was sie geschrieben hatte. Sie wünschte sich von ganzem Herzen, dass jemand dies lesen würde und dass sich etwas verändern würde, aber sie wusste, dass dies wahrscheinlich nicht der Fall war. Sie erklärte, dass sie wahrscheinlich brennen müsste, irgendwann und dass man sie für toll erklärt hatte, um sie zum Schweigen zu bringen. Keiner nahm sie mehr ernst und man wich ihr aus. Dennoch, ermahnte sie immer und immer wieder: Selbst wenn es solche Folgen hat, sollte der Mensch niemals aufhören zu denken. Man sollte sich nicht unterdrücken lassen, weil Gott es einem angeblich vorschreibt, dass es so richtig wäre! Denn er liebte jeden von uns er hatte uns die Fähigkeit zu denken geschenkt! Also war es richtig, es zu tun! Ich las die Zeilen immer und immer wieder, ehe ich das Buch zuschlug und den Einband anstarrte. Mary A. Fayette. ......Mary-Ann? Nach einigem Zögern stand ich auf, steuerte eine der Zimmerecken an und setzte mich mit meiner Decke dorthin. Die Kerze stellte ich neben mir auf eine der Kisten, gerade hell genug, um lesen zu können. Konnte das sein? War Mary-Ann die Autorin? Sie hatte damals erklärt, dass sie für ihr Wissen bestraft worden war, also wieso nicht? Während ich mit den Fingern immer wieder über den roten Einband strich, erinnerte ich mich an ihr Gesicht und die Zeit, die ich mit ihr verbracht hatte. Sie war tot, durch mich – aber sie wäre auch ohne mich gestorben. Hatte man sie wirklich für dieses Buch so hart bestraft? Ich wollte es lesen, aber bereits bei der zweiten Seite vergaß ich es einfach und meine Gedanken nahmen meinen gesamten Kopf ein. Ob es wohl weitere Bücher von ihr gab? Und wie konnte ich das herauskriegen? Ich könnte Robin fragen oder Nevar. Vielleicht würden sie mir sogar helfen, an die Bücher heranzukommen? Möglich wäre es, aber eher unwahrscheinlich. Die meisten Funde waren Glückstreffer, denn die Bibliothek war uns verwehrt – außer natürlich, Francesco belieferte Nevar noch immer mit den Schriftstücken. Ob er mir vielleicht eines der Bücher geben würde, würde ich danach fragen? Es war gefährlich, zur Deo Volente zu gehen. Sie lag weit entfernt vom Vagabund oder Brehmser Mittelpunkt, zum Glück. Wäre es schlau, in den Bezirk zurückzugehen, um mein Glück bei Francesco zu versuchen? Als jemand mich ansprach, leise und sanft, zuckte ich so unglaublich zusammen, dass das Buch zu Boden fiel. Mona hockte vor mir und fragte: „Ist alles in Ordnung?“, doch als ich so zusammenfuhr, kicherte sie und ließ sich neben mich sinken. Die anderen schienen zu schlafen, weswegen sie sehr leise sprach, als sie sagte: „Ihr starrt diese Seite nun schon gut zehn Minuten an. Stimmt etwas nicht?“ Mit roten Wangen legte ich das Buch geschlossen auf meinen Schoß. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass Mona mich beobachtet hatte und irgendwie war mir diese Tatsache peinlich. Aber vor allem wusste ich nicht, was ich sagen sollte. Ich konnte ihr ja schlecht erzählen, dass ich glaubte, die Autorin des Buches zu kennen. Die Frau neben mir griff es, musterte den Einband und lächelte dann: „Ein schönes Buch, mit traurigem Ende.“ „Ihr kennt es?“, wollte ich wissen. Mona nickte leicht und betrachtete es eingehend. „Ja, wir haben es bereits kopiert, aber das ist lange her. Da habe ich es gelesen. Interessiert Ihr Euch für solches Schreibwerk?“, fragend deutete sie auf den roten Einband. Ich nickte und behauptete: „Ich mag es, wie die Frau schreibt.“ Das klang einleuchtend. Wieder betrachtete Mona es, stand dann allerdings auf und flüsterte: „Auf jeden Fall solltet Ihr es nicht mehr heute lesen, Falcon. Es ist schon spät und Robin wird Euch morgen sehr früh aus dem Haus jagen.“, und während sie mit einem wundervollem Lächeln und den perfektesten Hüftbewegungen, die ich jemals gesehen hatte, zurück zu ihrem Lager ging, ließ sie das Werk achtlos in die Kiste zurückfallen. Ich beobachtete sie so lange, bis sie wieder auf dem Boden lag, mit dem Rücken zu mir. Um meine peinliche Situation zu verbergen, beschloss ich, trotz Kälte alleine zu schlafen. Ich pustete die Kerze neben mir aus, rollte mich zusammen und starrte das Holz der Kiste vor mir an, mich darauf konzentrierend, meine missliche Lage wieder zu beenden. Sie hatte wirklich wunderbare Hüften, daran gab es keinen Zweifel. Würde Robin es bemerken, wie ich gerade empfand, würde er mich wohl entweder auslachen oder umbringen. Mary-Ann hatte also wahrhaftig ein Buch verfasst. Kein Wunder, dass ihr Mann so reagierte. Wahrscheinlich hatten ihn sämtliche Geschäftspartner förmlich in der Luft zerrissen, von der kirchlichen Gemeinde mal ganz abgesehen. Aber dennoch hatte sie es getan. Ich empfand Ehrfurcht für diese Frau, die so viel Leid erlitten hatte und beschloss, ihr Buch zu kopieren. Ihr zuliebe, aber vor allem, damit ihr Opfer nicht umsonst gewesen war. Es war mir gleich, ob Robin erst die anderen Bücher bearbeiten wollte. Ich würde meine Pausen dafür nutzen, Mary-Anns Gedanken zu verbreiten. Das war ich ihr schuldig! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)