Die Geschichte des legendären Sullivan O'Neil 2 von Izaya-kun (Zwischen Gott und Teufel) ================================================================================ Kapitel 29: Die zwei Seiten des Menschen - Der Stein kommt ins Rollen --------------------------------------------------------------------- Ich mochte eigentlich fast jede Jahreszeit. Am liebsten den Herbst, wenn es etwas kühler wurde, aber noch warm genug war, um lange Spaziergänge zu machen. Zwar lag überall Laub herum, aber der Duft von alten, vertrockneten Blättern war ebenso angenehm wie dessen Rascheln und es gab nichts schöneres, als der Geruch, wenn man diese verbrannte. Für mich war der Umschwung faszinierend, denn erst wurde alles bunt und farbenfroh, dann ergraute es, verwandelte sich in ein kühles Braun und die Bäume zeugten von Nacktheit und Trostlosigkeit, bereit bis zur nächsten Jahreszeit zu schlafen. Der Winter dann erinnerte mich an die schönen, ruhigen Zeiten in Brehms, an meine Arbeit im Skriptorium oder meine Nachtwanderungen durch die verträumt erhellte Stadt. Natürlich gab es auch schlechte Dinge, an die ich zurückdachte, aber ich liebte es nur umso mehr, wenn die etlichen Lampen und Laternen in den Steinskulpturen den Schnee erhellten und zum Glitzern brachten und auch dachte ich häufig an die Zeit in Nevars Hütte zurück, die gleichsam aufregend, wie auch prägend und lehrreich gewesen war. Schnee hatte mich schon immer fasziniert, ob es nun die fallenden Flocken waren, die ich als Junge mit der Zunge aufzufangen versuchte oder aber die harte, dicke Masse auf dem Boden, die ich zu Bällen formte und unter meinen Schritten zum knistern und knacken brachte. Ich mochte auch den Frühling, denn nach einer so langen, kühlen und stillen Zeit begann endlich wieder das Leben. Die Knospen blühten, man war nicht mehr auf Feuer und dicke Kleidungsstücke angewiesen, man konnte die Fenster endlich wieder öffnen und mehr Vögel gab es auch. Ich liebte das Zwitschern, das einem mit der Zeit nervenaufreibend und penetrant erschien und die Händler stellten ihre Waren endlich wieder hinaus vor die Geschäfte. Allmählich wurden die Abende länger und wenn man über die Felder ging, war der Boden nicht mehr hart und gefroren, sondern weich. Man konnte, wenn man sich umsah, überall den Tau sehen da es früher hell wurde und er glich etlichen Sternen, funkelnd und wunderschön. Dann gab es noch den Sommer, die letzte Jahreszeit und eben jene, die mir am meisten zu schaffen machte. Mit dem Sommer verband ich kaum etwas Positives und auch in diesem Jahr fiel mir das besonders schwer. Wie dankbar ich war, wenn er schnell zu Ende ging und wie niedergeschlagen, wenn er zum größten Teil nur aus Regen und Wolken bestand. Das Wasser überschwemmte meist die Straßen, die Flüsse stiegen zu hoch an, die Ernten gingen kaputt und in Annonce schwamm der Unrat einem bis zu den Knöcheln. Als Mönch hatte ich unter meiner dicken Kutte mehr als nur gelitten und war dankbar für jede Nacht, die ich nackt auf dem Boden schlafen musste. Auf See hatte die Sonne meinen Rücken versänkt und verkohlt, wie ein Stück Fleisch über dem Feuer und wenn man das Haus verließ, war man geblendet. Nein, der Sommer hatte für mich nichts, was mich locken würde, abgesehen von den Blumen vielleicht, die überall blühten. Aber jetzt gab es das erste Mal etwas, für das ich die Hitze geradezu liebte: Durch die zu starke Wärme war es fast unmöglich zu arbeiten. Der Schweiß lief jedem in Marias Obhut in Rinnsalen von der Stirn, tropfte von den Nasen und durchnässte unsere Kleidung und sogar die alten Leute hatten Probleme nicht in ihren eigenen Flüssigkeiten unterzugehen. Wir mussten die Fäden nicht mehr mit Speichel benetzen, um sie durch die Nadeln zu bekommen, sondern konnten sie einfach mit den feuchten Fingern gerade ziehen und viele der Kleidungsstücke hatten eine Wäsche nötig, nachdem sie genäht worden sind, aufgrund des Geruchs. Wobei das Wort ‚Geruch’ bei Weitem nicht an das heranreichte, es stank geradezu. Ich empfand es ohnehin als unangenehm, wie alte Menschen teilweise rochen und nun, wo die Luft förmlich stand und kein Lüften mehr half, war es kaum noch zu ertragen. Es erinnerte mich stark an meine Zeit auf See, wo man unter Deck kaum Luft bekam. Wir alle litten unter Kopfschmerzen, es herrschte Gereiztheit und mehrmals gab es Streitereien mit den Schwestern, da niemand mehr Geduld zu haben schien. Gnädigerweise begann dann endlich die so genannte ‚Ausflugszeit’. Am Anfang zweifelte ich stark daran, dass man wirklich auf die Einnahmen verzichtete, indem man mit uns raus ging, aber schon bald war sämtliches Misstrauen einfach dahin. An besonders heißen Tagen wurden zwei Gruppen gebildet und die Schwestern machten mit uns Spaziergänge durch die Stadt oder um Brehms herum. Meistens kamen wir nicht sehr weit, da die Alten nicht wirklich die Kraft hatten, um große Wanderungen zu unternehmen, aber selbst wenn wir nur auf den Bänken des Platzes vor dem Haus saßen und den Passanten zusahen, war der Sommer schon um einiges erträglicher. Zwei, drei Mal kam es sogar dazu, dass man einen Holzkarren mit Pferd organisierte, ein Geschenk der Deo Volente und wir fuhren aus der Stadt hinaus, ein paar Feldwege entlang und nach einer Stunde dann wieder zurück. Es war ein tröstender Anblick zu sehen, wie sogar die älteren Menschen wieder lächeln lernten und auch wenn ich noch immer keine feste Bindung zu einem von ihnen hatte aufbauen können, fühlte ich dennoch stark mit. Wie viele von ihnen waren schon Jahre in Marias Obhut? Wie viele wussten, dass ihr Leben auch dort enden würde? Um nicht melancholisch zu werden und darüber nachzudenken, wie mein Lebensende aussehen könnte, konzentrierte ich mich auf die Umgebung und hatte das erste Mal seit langem wieder Zeit mein Umfeld voll und ganz bewusst in mir aufzunehmen. Ich beobachtete still einen kreisenden Bussard, Hasen oder Mäuse, betrachtete die Landschaften und philosophierte vor mich hin, während die anderen in einem Kreis zusammen saßen und Bibelzitate rezitierten oder den Vorlesungen der Schwestern lauschten. Fast war mir, als wäre ich wieder im Kloster, nur aufregender und freier. Mir tat diese Zeit des Sommers mehr als nur gut. Immer weniger sah ich aus wie ein Schuldner aus dem Turm, stattdessen nahm meine blasse Haut wieder eine normale Farbe an, ich schlief besser und die frische Luft half mir, auch meine Kopfschmerzen wieder los zu werden. Umso schrecklicher erschienen mir stattdessen die Tage an denen wir nähen mussten, eingesperrt in das verfluchte, katholische Gebäude. Wenn man es so sah, dann war die Auszeit die uns gegönnt wurde zwar entspannend und erholsam, aber gleichzeitig auch stark kontraproduktiv. Betelleien begannen sobald die Sonne auch nur kurz zu sehen war und jeder von uns erbrachte weniger Leistung als vorher. Für diesen Fall hatte Schwester Anneliese dann ihre kleinen Sprüche parat, die besagten, dass gottesfürchtige Menschen mit dem zufrieden waren, was sie bekamen und dass diese auch arbeiteten wie die Ameisen, ohne zu jammern. Es war nicht verwunderlich, dass ich mehr als nur glücklich war, als endlich ein Brief das Haus ereilte und zwar von Domenico persönlich. Jeder in meiner Situation wäre wohl zusammengezuckt oder erschaudert, hätte mit dem Schlimmsten gerechnet oder wäre leichenblass geworden, aber mich erfüllte nur die stille, heimliche Freude. Das war es, das war Nevars angekündigte Änderung. Fast eine ganze Jahreszeit hatte ich warten müssen und nun endlich gab es den ersten Wink. Ich sah, wie der Bote den Brief überreichte und erkannte sofort das rote Wachssiegel darauf. Da der Mann bei der Übergabe ein freundliches: „Gott segne Euch und Eure Schafe.“, von sich gab, konnte das nichts anderes sein, als ein katholisches Schreiben und das brachte mich so dermaßen in innere Aufruhe, dass ich wie ausgewechselt war. Ich erfuhr nicht, was darin stand und auch so gab es keinen einzigen Verdacht, dennoch begann ich zu strahlen und selbst die steifen Schwestern konnten mir meine Laune nicht mehr verderben. Bald war es so weit, bald war ich hier raus, ich sah es ganz deutlich vor mir. Die Treffen mit Nevar wurden seltener, dennoch erzählte ich ihm davon und der Ernst in seinem Gesicht stieg so rasch an, dass es meinen Verdacht nur umso mehr bestätigte. Wenige Tage später dann folgte ein zweiter Brief und das erste Mal fand auch innerhalb von Marias Obhut eine Veränderung statt. Die Schwestern behandelten mich auffällig gut und mir kam der Gedanke, dass ihnen wohl aufgefallen war, dass man großes Interesse an mir hegte. Um es auszutesten täuschte ich starke Schmerzen in meinem Kopf vor, die ich ohnehin des Öfteren bemängelt hatte und mir wurde tatsächlich ein Ruhetag gewährt. Konnte mein derzeitiges Leben schöner sein? Natürlich durfte ich es nicht übertreiben und es zu deutlich machen, dass ich diese Angelegenheit durchaus registriert hatte, aber genießen konnte ich es heimlich dennoch. Die nächste Nachricht der Deo Volente ließ fast ganze vier Wochen auf sich warten und während dieser Zeit bekamen wir einen neuen ‚Gast’, wenn man es so nennen wollte. Sein Name war Marcel, er kam wie ich aus Annonce und hatte durch Schulden alles verloren, was ihm lieb und teuer war. Da er keine andere Wahl hatte, als die Stadt zu verlassen kam er bis nach Brehms, wo er von der Deo Volente gnädigerweise eine zweite Chance bekam. So, wie er es mir erklärte, hatte diese ihm die Schulden bezahlt, die durch die Zinsen immer weiter angestiegen wären und nun musste er lediglich den gezahlten Betrag in Marias Obhut abarbeiten. Es war fast etwas verwirrend, zu sehen, wie dankbar und glücklich er an die Arbeit ging und ich fragte mich wirklich, wie lange das so bleiben würde. Wann würde der Kerl merken, dass das Leben in diesem Gotteshaus alles andere, als angenehm war? Wir unterhielten uns ab und an leise bei den Näharbeiten oder auf Ausflügen und Marcel war wirklich mehr als nur geblendet, ein Christ durch und durch und wahrscheinlich hatte sein Charakter sich genau so entwickelt, wie meiner, hätte ich das Kloster nicht verlassen. Auf der anderen Seite jedoch hatte er etwas Verschlagenes an sich, was mich nur umso mehr verwirrte. Ab und an, wenn ich alleine war, kam er zu mir und stellte absurde Fragen, an was ich glauben würde, was ich von diesem Haus hielt oder begann spöttische Gespräche über die Hausmutter. Ich war unsicher, inwiefern ich mich darauf einlassen sollte und mit jedem Satz von ihm stieg dieses Gefühl mehr an. Als ich Nevar ein wenig später auf ihn ansprach wurde mein Verdacht bestätigt, dass Marcel in Wahrheit nur zu uns geschickt worden war, um mich zu überprüfen. Er hatte die Aufgabe sich mit mir anzufreunden und sich genauer darüber zu informieren, was für eine Einstellung ich hatte. Mit großer Wahrscheinlichkeit wollte er sich einschleichen, um herauszufinden, in was für einer Verbindung ich mit den Samaritern stand. Seit dieser Offenbarung blieben die Treffen mit Nevar aus und ‚Bruder Raphael’ begann nun damit, sich auch um die anderen zu kümmern. In mir sah er einen starken, gottesfürchtigen Mann, der keine weitere Betreuung nötig hatte, denn auf keinen Fall durfte Marcel merken, mit wem ich mich traf und wieso. Ihm gegenüber tat ich meist so, als wäre ich genervt und gereizt von der Arbeit, versicherte ihm nebenbei aber dennoch meine Gottesfurcht. So verwirrend und undurchschaubar, wie er für mich war, versuchte ich für ihn zu sein – nur besser. Stück für Stück baute ich ein Bild von mir auf, das grundlegend einen jungen Kerl zeigte, der für seinen Fehler bestraft worden war, aber bei weitem zu hart. Ich deutete immer wieder mein Verständnis an und dass die Deo Volente eine wirklich gute Sache sei, aber ich wäre zu jung dafür und hätte mein Leben noch vor mir. Natürlich dankte ich Gott für seine Hilfe, mich zurück auf den rechten Weg geführt zu haben, aber allmählich, nach so einer langen Zeit, würde ich gern wieder auf eigenen Beinen stehen. Wie hatte ich es so treffend ausgedrückt? „Gott hat mir in dieser dunklen Zeit neue Kraft gegeben, mein von ihm gegebenes Leben in die Hand zu nehmen – Nun würde ich sie gerne nutzen und ihm meine Dankbarkeit zeigen!“ Wir fantasierten öfters herum und tatsächlich wirkte Marcel wie der beste Freund, den ich jemals in meinem Leben gehabt hatte. Ich erklärte ihm, wie gerne ich ein eigenes, kleines Geschäft haben würde, mit Frau und Kindern, die Lesen und Schreiben lernen dürften und jeden Sonntag gehen wir gemeinsam in die Kirche und anschließend vielleicht etwas spazieren. Ich konnte beobachten, wie der Kerl immer mehr darauf einstieg und irgendwann war er einfach nicht mehr da. Laut den Schwestern hatte er eine anerkannte, richtige Arbeit gefunden und seine Chance – Gott stehe ihm bei – genutzt und begann nun ein neues Leben. Komisch war nur, dass es nicht mal zwei Tage dauerte, bis erneut etwas geschah. Nevar – oder eher Bruder Raphael – brachte den nächsten Brief sogar höchstpersönlich vorbei und zog sich für ein persönliches Gespräch mit Schwester Anneliese zurück. Angespannt saßen alle am Tisch und ließen die kläglichen Versuche der anderen Gottesdienerinnen über sich ergehen, das Unbehagen irgendwie beiseite zu schieben. Dass der Bote der Deo Volente um ein persönliches Gespräch bat machte jeden nervös und während ich meine Blicke kreisen ließ, konnte ich Unsicherheit und Angst in den Gesichtern der Alten erkennen. Die meisten von ihnen fürchteten, er wäre wegen ihnen gekommen, denn natürlich wusste keiner, dass ich die Person war, um die es ging. Während alle bangten, es nicht mal wagten zu tuscheln und absolute Stille herrschte, in der absurden Hoffnung irgendein leises, hilfreiches Wort würde von oben zu uns hinunter dringen, saß ich seelenruhig da und grinste in mich hinein. Ich hatte es geschafft. Ich hatte Marcel von mir überzeugt, die Schwestern, Domenico und somit sogar die gesamte Deo Volente. Es war lange her, dass ich so dermaßen stolzerfüllt gewesen war und es fiel mir sehr schwer, nicht zu grinsen, als wäre ich ein Toller. Ich fragte mich, wie Nevar darüber dachte und beschloss, ihn irgendwann darauf anzusprechen. Erstens wollte ich wissen, wie ich mich gemacht habe und zweitens hoffte ich wahrscheinlich insgeheim und ohne es selber zu wissen auf eine Art Lob und vielleicht sogar Anerkennung. Das Wort ‚Schauspielerei’ wäre für dieses Theater wohl weit untertrieben gewesen. Vergessen war die Zeit, in der Stolz noch eine Sünde für mich war, stattdessen platzte ich fast vor innerlicher Genugtuung. Dann, nach ganzen zwei Stunden, verließ Nevar endlich das Zimmer und ging, ohne auch nur ein Wort mit uns anderen zu wechseln. Auch die Hausmutter folgte wieder dem Alltag, ließ nichts verlauten und für einen Moment wurde ich etwas unsicher. War das alles? Wenige Tage später erschien Nevar ein weiteres Mal, wieder verschwanden die beiden im Zimmer und wieder verließ er uns ohne einen Ton. Meine Unsicherheit stieg fast ins Unermessliche. Habe ich mich geirrt? War alles umsonst? Von einer Sekunde auf die andere fielen mein Wissen und meine Überzeugung zusammen wie ein Kartenhaus und Angst und Panik machten sich in mir breit. Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen und weiterhin dem Alltag zu folgen, als hätte ich keine inneren Zweifel, aber umso unsicherer wurde ich. Wieso geschah denn nichts? Es war allmählich an der Zeit, dass man mich hier raus holte, raus aus der Obhut, raus aus dem Arbeitshaus. Mehrmals spielte ich mit dem Gedanken zur Deo Volente zu gehen und Nevar aufzusuchen, aber ich riss mich zusammen, auch, wenn es mir zum Ende hin immer schwerer fiel. Was war bloß los?! Gut eine Woche lang kam keine Nachricht mehr. Ab und an gingen die Alten weg, trafen sich einzeln mit dem ‚Bruder’, aber ansonsten schien es nichts zu geben, was irgendwie auffällig wäre. Es war zum verrückt werden. Es dauerte nicht lange und dieses Stillstehen der Ereignisse führte mich zurück zu meiner Melancholie. Verzweifelt redete ich mir ein, dass Domenico mich testen will und auf etwas Bestimmtes warten würde, um dieses gegen mich nutzen zu können, aber egal was es war, ich würde es ihm nicht geben. Während die Hitze langsam schwand und sich in Wolken und kühle Winde verwandelte, wurde ich immer ruhiger und beherrschter. Paranoider auch, wenn ich ehrlich war. Hinter jedem Neuzugang vermutete ich einen Spion und selbst wenn dieser unendlich zu leiden schien, reagierte ich nicht darauf. Sie alle waren falsch und ich war mitten unter ihnen, keinem konnte ich mehr trauen. Zusammenfassend könnte man behaupten, dass das lange Warten mich verrückt machte, kaputt. Ob ich es wollte oder nicht, ich wurde aggressiver und die Vorstellung, dass Domenico mich dafür auslachte, machte es noch schlimmer. Ob er wusste, wie ich mich fühlte? Natürlich, sonst wäre ich nicht in diesem Haus. Nevar war es gewesen, der mir Marias Obhut nahe gelegt hatte, aber für mich trug die gesamte Schuld der Vertreter der Deo Volente. Mein Hass ihm gegenüber stieg immer mehr an, förmlich ins Unermessliche und nach einiger Zeit überlegte ich, alles in den Sand zu werfen. Vielleicht hatte Nevar sich geirrt, vielleicht hatte er die Zeichen falsch gedeutet, vielleicht hatten wir es getan. Es könnte sein, dass es keine Veränderung gab und ich wäre verbannt noch Jahre hier zu verbringen, zu nähen wie ein Weib und mich auf den Sommer und die wenigen Stunden zu freuen, die ich spazieren durfte – wenn mir nicht gerade die Motivation dazu fehlte. Das Schlimmste war, dass niemand merken durfte, wie ich mich fühlte, also begann ich Abstand zu nehmen und die Beziehungen zu den Schwestern wurden zu reiner Höflichkeit. Keiner durfte wissen, wenn ich krank war, keiner durfte wissen, wenn mich etwas bedrückte – Alles wäre ein zu großer Triumph für Domenico! Insgesamt verbrachte ich in Marias Obhut ungefähr 5 Monate, fast ein halbes Jahr. Wenn ich heute an diese Zeit zurückdenke ist es die einzige Etappe meines Lebens, von der ich sagen kann, dass ich nichts gelernt habe. Abgesehen von den Dingen, die Nevar mir beibrachte, aber diese hätte ich auch gut ohne Marias Obhut lernen können, oh und Nähen natürlich. Es ist eine für mich sehr düstere Zeit, an die ich mich ungern erinnere und über die ich nur selten spreche. Es gibt nichts Schlimmeres, als an einem Ort gefangen zu sein, der einen um den Verstand bringt und arbeiten zu müssen, wohl wissend, dass niemand es einem dankt. Aus dieser Sicht betrachtet war sogar die Arbeit im Tollhaus angenehmer als das Nähen zwischen alten Leuten, die man, wenn man zu viel nachdenkt, irgendwann als verbrauchte Hüllen sieht, bereit zu sterben. Man fängt an darüber zu philosophieren, wo der Sinn steckt, wenn man in solchen Gebäuden stirbt, war dann nicht alles umsonst? Man näht, bis einem die Finger bluten, zerreißt sich die Hände am Garn und kann die Schere vor lauter Schwäche kaum halten, so lange, bis es zu Ende geht und man auf einer Bahre hinaus getragen wird. Gibt es wirklich Menschen, die dafür dankbar sein können? Wenn ja, ich gehörte zumindest nicht zu ihnen. Während der ganzen Zeit zählte für mich nur eins: Raus kommen, so schnell wie möglich! Wie sehr vermisste ich ein gutes Buch oder einen Gesprächspartner, mit dem ich diese Gedanken teilen und besprechen konnte. Die Einsamkeit formte mich auf eine Art und Weise, die sehr unangenehm war, aber wahrscheinlich hilfreich. Im Grunde war ich ein sehr kontaktfreudiger Mensch. Trotz meiner Vergangenheit lernte ich gern neue Personen kennen und knüpfte Verbindungen zu ihnen, auch, wenn sie vielleicht nur rein oberflächlich waren. Nichtsdestotrotz war so etwas für mich sehr wichtig gewesen. Wenn ich mit jemandem in einem Raum saß, dann sprach ich ihn irgendwann an, das war sicher. Anfangs vielleicht nur mit Blicken, doch irgendwann würde das erste Wort fallen und wenn es Sympathie gab vielleicht auch mehr. Diese Eigenschaften wurden von Marias Obhut fast komplett zerstört. Ich gewöhnte mir ab den Menschen ins Gesicht zu sehen, wenn sie vorbei gingen, sprach nur mit ihnen wenn ich gefragt wurde und auch über Witze konnte ich kaum lachen. Ich wurde zu einem kühlen, jungen Mann, der nicht voran kam und es auch wusste. Es fiel mir immer schwerer Vertrauen zu fassen, erst durch O’Hagan, nun durch Domenico. Immer wieder musste ich mich daran erinnern, wer ich war und auch daran, dass ich Geheimnisse mit mir herum trug, die unbedingt Geheimnisse bleiben mussten. Ich hatte ein Leben und ich hatte eine Hülle die ein anderes zeigte. Während ich mich präsentierte als jemand, der einen Fehler gemacht hatte und für Gottes Hilfe betete, war tief in mir drin das Kind, das Freiheit wollte. Man könnte es trotzige Naivität nennen, aber dieses Kind verschwand niemals, nicht einmal einen Augenblick. Es war allgegenwärtig, wie jener Gott, den es fürchtete und bereit, einfach hervorzuspringen. Es reichte ein Versprecher, ein falscher Hinweis und es könnte zum Verdacht führen. Wenn man eine Frage beantwortete kam die nächste und dann erneut die nächste und irgendwann dann lief man Gefahr, sich zu verheddern. Die Furcht davor war so groß, dass ich alles in mir verschloss und es mied, auch nur irgendetwas zu sagen. Die Schwestern schoben meine Verschlossenheit auf die Langeweile und Eintönigkeit der Arbeit. Man versuchte mich etwas abzulenken, indem ich anfing Putz-Arbeiten zu verrichten, was anfangs eine recht gute Alternative war. Man war allein, konnte seiner Arbeit still nachgehen und nachdenken, wie damals im Tollhaus, nur sauberer. Dennoch war ich froh, als das alles dann endlich vorbei war. An meinem letzten Tag in Marias Obhut kann ich mich noch sehr genau erinnern. Es war regnerisch und sehr kalt, nun war jedem bewusst, dass der Herbst da war. Mir kam es vor, als wären die Bäume von einem Tag auf den anderen erkaltet. Der Himmel war dunkel, der Wind verpasste mir Gänsehaut und als Nevar das Haus betrat, hatte er etliche Tropfen auf seinem Umhang. Im Laufe seiner Worte verschwanden sie allmählich im Stoff, sie lösten sich auf als wären sie nie da gewesen - ein Gedankengang, der mir lange im Kopf herum spukte. Wieder hatte er ein Schreiben von Domenico und diesmal war es eindeutig: Er wünschte mich zu sehen. Offiziell suchte die Deo Volente Unterstützung für Gottesdienste und anderes dieser Art. Da ich jung war und bereits sehr viel Zeit in Marias Obhut verbracht hatte, wurde ich gebeten daran teilzunehmen. Ich sollte das Haus verlassen und in eine eigene Unterkunft ziehen. Leben würde ich von meinem Verdienst, ein geringer Betrag, aber ich bräuchte ohnehin nicht viel. Die Worte des angeblichen Bruders klangen wie Musik in meinen Ohren und auch die Schwestern waren sehr zufrieden. Für sie war die Sache einfach: Ich war weg, zurück auf Gottes Weg und sie hatten wieder einen Platz mehr frei. Für mich allerdings war es alles andere als einfach. Natürlich freute ich mich ungemein, dass meine Zeit um war und dass die angekündigte Veränderung endlich kam, doch während ich Nevar folgte, fühlte ich mich in meine Ankunftszeit zurückversetzt. Man hatte mir nichts von meinen Habseligkeiten zurückgegeben und alles, was ich besaß waren mein Umhang und das, was ich am Leibe trug. Besonders trauerte ich um meine zwei Bücher, die Nevar mir extra überlassen hatte, doch ich hegte die Vermutung, dass sie nun wieder bei den konfiszierten Werken standen. Sollte das der Fall sein, würde ich sie an mich nehmen, das stand außer Frage. Umso näher wir der Deo Volente kamen, desto mehr beschlich mich wieder das normale, mulmige Gefühl, dass das Gebäude mit sich brachte. Ich dachte an meine letzten Begegnungen mit Domenico und daran, wie dieser Mann über mich dachte. Ich spürte wieder die Spuren der Folter und die Müdigkeit, die die dadurch kommenden Albträume mit sich brachten und vor allem spürte ich: Angst. Der Regen durchnässte mich bis auf die Knochen, ich zitterte am ganzen Körper vor Kälte und Unsicherheit stieg in mir hoch. Was genau sollte ich bei diesem Mann? Er hatte sich etwas Neues ausgedacht, nur was? Nevar hatte mir erklärt, dass ich eine Gefahr für ihn war. Sollte ich mich ruhig verhalten, stand mir noch immer die Tür für ein neues Leben offen, aber sollte ich es nicht tun, war es beendet. Domenico fürchtete, dass O’Hagan denken könnte, er hätte mich versteckt. Warum sonst sollte er eine gefälschte Geburtsurkunde verfassen? Einen Nachweis, wer ich war und woher ich kam? Auch die Kreuzer hatten diese Unterlagen gesehen, Marias Obhut, vielleicht sogar jene im Rathaus. Sollte ich nun ein neues Leben beginnen war alles gut. Ich würde verschwinden, Sullivan wäre endgültig tot und Falcon O’Connor wäre der einzige, der noch existierte. Doch wenn es so einfach war, wieso gab man mir nicht einfach ein Haus, eine Arbeit und ein kleines Vermögen? Es musste noch etwas geben, das Domenico daran hinderte. Ein Grund dafür, wieso er mich weder gehen ließ, noch umbrachte. Hatte er Angst, ich käme auf die Idee, ihn zu erpressen? Oder konnte es die Kiste sein? Das verfluchte Ding kam mir immer wieder zurück in Erinnerung. Dieses rote, schwere Stück Holz, das Black hatte haben wollen. Was war darin? Wieso jagte mich O’Hagan deswegen? Wieso war sie so mächtig und wo war sie jetzt? Untergegangen mit der Caroline? Versenkt, für immer und ewig? Es musste noch Hoffnung geben, sie zu finden, sonst hätte der Gouverneur längst aufgegeben. Nevars ruhige und dunkle Stimme riss mich aus den Gedanken, als er fragte: „Nervös, Falcon?“, er sprach langsam, es wirkte fast schon spöttisch und ich meinte ein Grinsen zu hören. Natürlich war ich nervös, aber ich hätte nichts gelernt, wenn ich es zeigen oder gar sagen würde. „Sollte ich?“ „Ihr wärt ein Idiot, wenn nicht.“ Unsicher, ob das freundlich oder als Warnung gemeint war, lief ich etwas schneller und dichter neben ihm. Es fiel mir nicht schwer mitzuhalten, die meisten Passanten wichen uns nun seitwärts aus und ich hatte das Gefühl, dass Nevar mit Absicht etwas langsamer lief. Mit jedem Schritt wuchs meine Unsicherheit mehr. Es war fast, als wäre seine Frage eine Art Zauberspruch gewesen, der nun sämtliche Unsicherheit von mir wieder hoch holte. Ich durfte jetzt nicht nervös werden, Angst zeigen, schon allein deswegen nicht, weil ich Domenico das nicht gönnte. Doch konnte es sein, dass Nevar eine Ahnung hatte, was mich erwarten würde? Fragend blickte ich zu ihm, aber sein Gesicht war wie immer vollkommen unscheinbar. Er sah sich aufmerksam um, lächelte nicht, wirkte aber auch nicht boshaft: Ein Sinnbild für Neutralität, wenn man so wollte. Irgendwann flüsterte ich hörbar angespannt: „Wisst Ihr etwas?“ „Nicht genug, um damit zu glänzen.“, diesmal klang ein leichtes Seufzen mit und ich registrierte, dass auch seine Stimme leiser wurde – ein schlechtes Zeichen. „Domenico wird Euch einen neuen Auftrag geben, eine Art letzte Chance. Könnt Ihr Euch denken wieso?“ Kurz zögerte ich und versuchte einen logischen Grund zu finden, allerdings traf ich nur wieder auf meine vorherige Unwissenheit. Kopfschüttelnd gab ich dann zur Antwort: „Wenn ich ehrlich bin, nein.“ Nevar nickte. „Ich kann es auch nur vermuten, also verlasst Euch nicht auf meine Worte. Er hat die Wahl: Entweder er gibt Euch ein neues Leben und muss fürchten, dass Ihr ihm irgendwann Probleme macht oder aber er lässt Euch hinrichten, was für Aufmerksamkeit sorgen könnte. Die Kreuzer wissen von Euch, ich, Francesco, viele. Es ist ein zu hohes Risiko, auf dass er sich eingelassen hat und nun wird er es nicht mehr los. Domenico hat Euch aufgenommen mit dem Grundgedanken Euch zu einem Mitglied der Deo Volente zu machen und diesen Gedanken hat er nicht aufgegeben. Es wäre von Vorteil, wenn Ihr mit Herz und Seele der Deo Volente dient – und sicher würde das auch O’Hagan gefallen.“ Allmählich ergab das alles in meinem Hinterkopf einen Sinn, wenn auch noch immer mit vielen Unklarheiten. „Also eine Art...Prüfung?“ „Genau.“, erneut nickte Nevar, dann schwieg er eine Weile. Wir mussten stehen bleiben, da eine Kutsche über die Querstraße fuhr, weswegen neben uns auch weitere Menschen hielten. Scheinbar wollte er es vermeiden, dass andere mithören konnten und so warteten wir geduldig. Der Hufschlag der Pferde hallte an den Wänden wieder und hatte etwas Mystisches. Kaum ging es weiter, nahm er das Gespräch wieder auf: „Erinnert Ihr Euch an den Grundsatz von Falcon Ryan Colms Werk ‚Die zwei Seiten des Menschen’?“ Selbstverständlich erinnerte ich mich daran, schließlich hatte ich das Buch mehrmals gelesen, bei meiner Zeit in Nevars Hütte. „’Der Mensch hat ein inneres und ein äußeres Leben’?“ „Ich kenne Euer Inneres, Falcon, aber Domenico nicht. Alles, was er kennt, ist Euer äußerliches Sein und auf dieses müsst Ihr nun weiterhin aufbauen, wie auch die letzte Zeit. Für ihn seid Ihr ein Mönch, der einen Fehler gemacht hat, gern zurück würde, es aber nicht mehr kann. Der alte Narr baut darauf, dass Ihr bekehrt wurdet, er ist und bleibt ein Fanatiker.“ „Ihr meint, er hofft, dass Ich eingeschüchtert bin durch die Zeit in Marias Obhut?“ „So ungefähr.“, den Kopf etwas wiegend fügte er leiser hinzu: „Ich gehe davon aus, dass er wirklich daran glaubt. Domenico hat die Hoffnung, dass Ihr nun zu uns gehört, ob freiwillig oder unfreiwillig ist egal. Die Folter, der Druck, die Belastung, die Drohungen. Das sind alles Mittel und Wege dafür, Euch gefügig zu machen. Er möchte, dass Ihr ihn fürchtet oder zumindest Gottes Hand, damit Ihr Euch ruhig verhaltet.“, ich konnte nicht anders, als ein abfälliges Brummen von mir zu geben. Domenico meinte, ich wäre bekehrt und würde alles für die Deo Volente tun und Nevar erwartete nun, dass ich dem folgte? Scheinbar hatte der Mann neben mir meine Gedanken gelesen, denn er sagte: „Falcon, Ihr müsst tun, was er verlangt, das ist der beste Weg zum Ziel.“ „Zu welchem Ziel? Bekehrung?“, während ich abfällig klang, wurde Nevar nur umso ernster: „Ihr wolltet Euer Leben auf religiösen Säulen aufbauen, nicht ich. Tut, was immer er will und spielt nach seinen Regeln. Domenico denkt, Ihr wärt endlich gefügig, so soll es bleiben. Es ist besser, als wenn er überlegen muss, wie er Euch los wird. Habt Ihr erst einmal Euer eigenes Leben, könnt Ihr tun und lassen, was Ihr wollt.“ „Das ist Unsinn. Als würde er mich in Freiheit leben lassen und das Risiko eingehen, dass ich irgendwann mit dem Finger auf ihn zeige. Denkt Ihr, ich würde das nicht merken?“ „Gut, dann anders:“, kurz sah er mich an, das erste Mal, seit wir losgegangen waren, dann drehte er den Kopf jedoch wieder nach vorn. „Falcon, ihr habt versagt, egal durch welche Einflüsse, Domenico hat sein Vertrauen in Euch verloren. Doch nun ist er dabei, es wiederzugewinnen. Wenn Ihr mitspielt verliert er vielleicht den größten Teil seines Misstrauens und Ihr habt mehr Freiheiten – und die Chance Brehms zu verlassen, ist das nichts? Wenn Ihr Euch erst einmal frei bewegen könnt, habt Ihr mehr Möglichkeiten, Euer Leben umzugestalten.“ Ich gab ihm auf diese Frage keine Antwort, sondern starrte nur gereizt nach vorn. Meine Hoffnung war gewesen, dass Nevar irgendeinen grandiosen Plan hatte, doch das war nicht der Fall. Stattdessen sollte ich parieren wie ein Hund. Wie lange ging das nun schon? Die Vorstellung Brehms verlassen zu dürfen hatte kaum noch eine lockende Wirkung auf mich, vielleicht, weil ich dem schon zu lange hinterher geträumt hatte. Am liebsten würde ich jetzt gehen und die Deo Volente einfach vergessen, aber so einfach war das leider nicht. Erst als wir an den Platz des alten Henrys gelangten, sprach Nevar wieder mit mir und auch nicht viel. Die ganze Zeit hatte er geschwiegen und mir Zeit zum Nachdenken gelassen, doch nun flüsterte er ruhig: „Ich sage es noch einmal: Egal, was er verlangt, tut es einfach. Denkt an Euer Ziel, Falcon, unser Ziel.“, mehr nicht. Für ihn war scheinbar alles gesagt, denn er wandte sich ab, noch ehe ich antworten konnte. In meinem Hals bildete sich ein dicker Kloß. ‚Unser Ziel’? Mit einem Mal wurde mir bewusst, dass auch er viel auf sich genommen hatte, um mir zu helfen. Selbstverständlich wusste ich es im Grunde die ganze Zeit, doch nun, wo wir dem Gebäude näher kamen und ich nach langem wieder die goldene Inschrift las, wurde es mir nur umso deutlicher. Ich durfte ihn nicht enttäuschen, auf keinen Fall. Er hatte Recht: Ich hatte diesen Weg gewählt, also musste ich ihn jetzt auch gehen. Plötzlich war ich nervöser als zuvor. Der Platz des alten Henrys erschien mir leer und kalt, die Figur tadelnd und vorwurfsvoll. Ich mied es, den Reiter zu betrachten und starrte nur auf Nevars Rücken. Insgeheim versprach ich, zu gehorchen, um ihn nicht zu enttäuschen, dann betraten wir das Gebäude. Zuerst durchquerten wir den Raum aus Gittern mit der Bank darin, dann durchtraten wir die großen Holztore in den Flur. Wieder fiel mein Blick zuallererst auf den hängenden Jesus über der Kerze und ungewollt kamen mir meine ersten Gedanken dazu wieder in den Sinn: Ich, leidend über dem Fegefeuer. Nur schwer konnte ich sie abschütteln, schon allein, da alles unheimlich bedrückend auf mich wirkte. Die hohen Decken, die kühlen Wände, die steinernen Fliesen, alles war gefühllos und kalt. Sogar die zwei Pflanzen rechts und links neben Domenicos Tür waren mit einem Mal tot und geisterhaft, ganz gleich, wie grün sie waren. Ohne zu zögern trat Nevar die Treppe hinauf und die Stufen saugten Schritt für Schritt sämtliche Kraft aus meinem Körper. Oben angekommen fürchtete ich fast zu fallen, so sehr war ich betäubt. Wie ich diesen Mann verabscheute, geradezu hasste. Wenn es mir so ging, wie ging es dann Nevar? Seine Gestalt lieferte mir keinerlei Antworten. Stattdessen klopfte er einfach nur, öffnete und trat dann, gefolgt von mir, ein. ‚Tut, was er verlangt.’, wiederholte ich in meinem Kopf immer und immer wieder. ‚Tut, was er verlangt.’, doch kaum sah ich ihn, war für diese Gedanken kaum noch Platz. Alles, was ich in meinem Kopf hörte, war: Was, wenn Nevar Recht hatte und ein Leben, aufgebaut auf Glauben und Religion, nicht funktionierte? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)