Die Geschichte des legendären Sullivan O'Neil 2 von Izaya-kun (Zwischen Gott und Teufel) ================================================================================ Kapitel 14: Missverständnisse ----------------------------- Luke und Joshua trennten sich bereits auf dem Weg zu mir, denn der Vater wollte in den Laden, der Sohn zum Karren in eine der Gassen und so kam nur ersterer bei mir an. Ich wartete geduldig vor dem Geschäft, als wäre ich ein Kunde. Für den Sohn hatte ich später noch genug Zeit, er sollte ruhig in Ruhe die Waren auf sein Gefährt laden. Als erstes wollte ich ein Gespräch mit dem Vater. „Guten Morgen, wollt Ihr zu mir?“, erkundigte sich dieser, als er mich bemerkte. Vom Nahen sah er noch älter aus, wenngleich sein leichtes Übergewicht die meisten Falten strafften. Mir fiel sofort der goldene Ohrring an seinem linken Ohr auf – das Zeichen der Händlersgilde – und seine buschigen Augenbrauen, deren einzelne Haare ihm ins Gesicht hingen. Nickend erwiderte ich den Gruß. „Guten Morgen.“ „Na dann, herein mit Euch.“, und dabei machte er eine einladende Geste und öffnete mir die Tür. Ich folgte der freundlichen Aufforderung und trat ebenfalls ins Ladeninnere. Es war weitaus wärmer, als auf der Straße und der leichte Geruch von Kräutern und Gewürzen hing in der Luft. Schweigend blieb ich stehen und ließ meine Blicke kreisen, während der Verkäufer die Tür schloss und zum Kassenbereich ging. Er konnte nicht ahnen, dass ich bereits hier gewesen war, wenn auch nur hinter dem roten Vorhang, den ich neugierig musterte. Es erfüllte mich erneut mich Stolz, wenn ich auch versuchte, es möglichst geheim zu halten. Der alte Mann folgte wohl seinem täglichen Ablauf: Er nahm ein Pergament und begann, ein paar Dinge zu notieren, sowie andere Auflistungen durch zu streichen oder zu überprüfen. Dabei murmelte er abwesend mit einer leichten Geste: „Seht Euch nur um, ich bin gleich für Euch da.“ Schweigend tat ich, wie mir geheißen. Der Raum war klein und die Regale alt und wackelig. Ich achtete mehr auf ihre Bauart, als auf ihre Inhalte, denn sie verrieten mir erneut, dass ihr Besitzer geizig war und sparte, wo immer er konnte. Statt neue anzufordern, wurden sie einfach repariert, mehr nicht. In manchen waren Risse, Löcher oder Brüche und man legte schlichtweg ein größeres Brett oder einen Blechteller darüber, um das Loch zu schließen. Außerdem gab es noch zwei Tische mitten im Raum, voller Körbe und Spielereien, so wie kleine Kisten, Kerzenständer... Alles, was man sich ausmalen konnte, konnte man auch kaufen. Ich suchte lange, wenngleich ich nicht die geringste Ahnung hatte, was genau. Mal griff ich einen geflochtenen Korb, mal eine alte Mütze oder auch eine kleine Tonvase, um sie genauer zu betrachten. Währenddessen versuchte ich immer wieder einen Blick auf die Liste des Mannes zu erhaschen. Allem Anschein nach war es die Fahrliste für Luke mit den Kunden, die er abfahren sollte. Aber wieso schrieb Luke sie nicht selbst? War der Vater etwa für Organisation zuständig? Ich konnte einige der Läden entziffern, aber die meisten kannte ich nicht einmal. Ohne Kenntnisse bezüglich Brehms brachten mir die Namen der Läden nicht viel. Irgendwann dann begann Luke Kisten und Körbe hinaus zu schleppen, um sie auf seinen Karren zu laden. Er beachtete mich nicht im Geringsten dabei. Der Vater musterte ihn nur düster und händigte ihm irgendwann das Schreiben aus mit der Bemerkung: „Eile dich, du hast gestern drei ausgelassen.“ Doch auch dieser Satz wurde ignoriert. Nachdem Luke dann draußen war, griff sein Vater eine große, schwarz gefärbte Flasche unter seinem Tisch hervor und nahm einen tiefen Schluck. Schmunzelnd gesellte ich mich zu ihm. „Ein fleißiger Bursche. Euer Lehrling?“ Joshua schnaubte leicht, was ich als bitteres Lachen identifizierte. „Schön wäre es! Dann könnte ich den Bengel wenigstens hinaus werfen.“ „Ah, Euer Sohn?“ Wir sahen durch die Scheibe hindurch zu, wie der junge Mann den Karren zu schieben begann und mühsam durch den Matsch hindurch seine Route begann. Erneut schnaubte der Mann neben mir. „Wenn er mein Sohn wäre, wäre er wohl nicht so missraten.“, dann sah er mich an. Seine Augen zeigten Misstrauen und Unfreundlichkeit. Er war ein Händler und gewiss freundlich zu seinen Kunden, aber als Mensch war er nicht an Kontakten interessiert. Ich erkannte ihn als einen Menschen, der stets fragte und stets nach Fehlern und finsteren Ideen suchte. Mürrisch nahm er mir den Kerzenständer aus der Hand, den ich mir lieblos ausgesucht hatte, in der Hoffnung, er wäre nicht teuer. Er war aus Holz und nicht besonders schwer, zudem rau und splitterig. Er glich eher einem Stück sprödem Holz, in das man eine Kerze stecken konnte, als an ein liebevoll geschnitztes Handwerksstück. Ich war froh, das Ding los zu sein. „Wieso fragt Ihr?“ „Ach, ich suche eine Stelle und dachte, da Ihr ja einen Lehrling habt, brauche ich nicht mehr zu fragen.“ Joshua rümpfte die Nase und nahm erneuten einen Schluck. Als er sprach, roch ich den Alkohol. „Nein, kein Bedarf. Lehrlinge brauche ich nicht, ich habe genug Idioten um mich herum.“ „Sagt, habt Ihr noch so einen?“, kurz war Joshua verwirrt, bis er registrierte, das ich auf das Holzding in seiner Hand deutete. Er brummte und ging zu den Tischen. Ich sah geduldig zu, wie er alles nach einem weiteren Ständer absuchte, aber ich hatte mir mit Absicht jenen ausgesucht, den es nur noch einmal gab. Nach kurzem Suchen knurrte er: „Moment.“, dann ging er hinaus durch den Vorhang. Allem Anschein nach wollte man mich betrügen. Wenn dieser Kerl sich sogar die Mühe machte, sich nach nebenan zu bewegen, dann würde ich ohne Frage zu viel für das hässliche Stück zahlen. Ich lauschte, bis ich Lukes Vater im Lager hörte und warf einen kurzen Blick zum Eingang. Nichts und niemand war zu sehen, also ging ich ruhig hinter den Tresen und sah mich um. Von Vorne sah er aus, wie ein normaler, etwas höherer und sehr schmaler Tisch, aber nun sah ich Schubladen und kleinere Fächer an der Hinterseite. Keine von ihnen hatte ein Schloss, bis auf eine, jene ganz oben in der Mitte. Ich lugte in jede hinein, so leise und schnell es möglich war. Joshua konnte jeden Moment zurückkommen und ich bezweifelte, dass er mir glauben würde, wenn ich ihm sagte, ich wollte ihn nur vertreten, so lange er meinen hässlichen Kerzenständer suchte. In keiner der Schubladen war etwas, was mir weiter half. Garn, Nadeln, Besteck, eine Brosche und allerlei Krimskrams kamen zum Vorschein, nur nichts Brauchbares. Wenn es etwas zu finden gab, dann mit Sicherheit im verschlossenen Fach. In einer der Schubfächer war ein Schlüssel und diesen nutzte ich, um auch diese zu öffnen, dann sah ich erneut zum Lager. Joshuas Schritte kamen näher. Freundlich rief ich: „Ach, Herr, da fällt mir ein, ich brauche vier davon!“ Die Schritte des Mannes hielten inne, dann drehten sie um. Ich hörte ihn leise fluchen: „Hätte er das nicht gleich sagen können?! Wer zum Teufel braucht bitte vier solcher Dinger?!“ Erleichtert zog ich die Schublade auf. Sie war eine Art Kasse für die Tagesverdienste und wurde wahrscheinlich jeden Abend geleert, denn momentan befand sich nichts darin, bis auf Kleingeld und alte Rechnungen. Ich nahm sie heraus und las die Überschriften, doch nichts davon war interessant. Manche Kunden hatten Waren abgeholt und mussten noch zahlen, manche hatten Waren abgegeben für den Weiterverkauf und bekamen noch Geld, wenn man diese loswurde. Doch keiner der Beträge ging über eine Goldmünze hinaus und zog sonderlich Aufmerksamkeit auf sich. Darunter befand sich eine Bestellliste, auf der stand, was noch gekauft werden musste oder wie die Kurse momentan standen. Alles im Allem sehr enttäuschende Funde, bis auf ein Blatt Papier, das sorgsam gefaltet und mit einem roten Siegel versehen war. Ein erneuter Blick zum Vorhang. Vielleicht hatte Joshua einen ganzen Karton mit diesen abscheulichen Schnitzereien entdeckt und kam bereits nach zwei Minuten zurück? Doch das Glück war mir hold und die Unordnung der Familie Caviness kam mir zugute. Vorsichtig faltete ich das Schreiben auseinander, in der Hoffnung, eine Spur zum mysteriösen Gegenstand zu finden, den Luke so heiß begehrte. Es handelte sich um ein Schreiben der Handelsgesellschaft Brehms, der Gilde für Händler, deren Sitz ich auf dem Hauptplatz gegenüber der Deo Volente gesehen hatte. Sie erinnerten freundlich und in einem großen Schwall unnützer Sätze und Worte daran, dass Joshua endlich den fälligen Betrag zahlen musste, ansonsten würde man ihn aus der Gilde ausschließen müssen. Ich habe noch nie zuvor eine so kurze und knappe Aussage in einem so langen Text gesehen. Drei Seiten Schmeichelei für etwas, was man in einem Satz sagen könnte: „Zahl oder flieg.“ Ich verstaute alles wieder so, wie ich es vorgefunden hatte, rückwärts und Stück für Stück, wie von Nevar gelernt, dann stellte ich mich geduldig zurück an meinen Platz. Joshua ließ nicht lange auf sich warten. Er trug tatsächlich vier dieser grässlichen Schnitzereien und stellte sie vor mir auf den Tisch, mich aufmerksam ansehend. Freundlich bedankte ich mich und musterte sie. Die anderen drei waren noch abscheulicher, als mein erstes Fundstück. „Macht zwei Goldmünzen.“ „Bitte was?!“, ungläubig starrte ich Joshua an. „Zwei Goldmünzen, alle vier. Ihr wolltet sie, ich habe sie gesucht.“ „Das ist ein Vermögen, für solch hässliche Dinger?!“, ich schüttelte entschieden den Kopf und stellte sie zurück. „Nein, da mache ich mir lieber selbst welche. Sogar die wären doppelt so schön, und das, wo ich ja nicht einmal schnitzen kann!“ „Na hört mal!“, Joshua war nun gereizter als ohnehin und mir wurde allmählich klar, wieso Luke ihn nicht als geeigneten Händler empfand. Statt mir ein besseres Angebot zu machen oder mich zu überzeugen, griff er einen der Ständer und protestierte: „Ich habe sie extra für Euch geholt! Ihr wolltet sie doch haben!“ „Da wusste ich ja auch noch nicht, wie teuer sie sind.“ „Dann hättet Ihr eben vorher fragen müssen!“ Entrüstet wich ich einen Schritt zurück. „Das ist ungeheuerlich. Ich zahle doch keine fünfzig Silberlinge pro Holzstück. Seht Euch nur den Spießer an für die Kerze. Völlig verrostet! Nein, danke, behaltet das mal schön selbst.“, dann drehte ich um und ging hinaus. Joshua rief mir irgendetwas hinterher, was ich aber nicht mehr verstand aufgrund der lauten Türglocke. Schweigend und es ignorierend nahm ich Lukes Verfolgung auf. Der Wagen hatte tiefe Furchen im gefrorenen Schnee hinterlassen, ebenso wie die Schuhe des jungen Mannes. Ich erkannte, dass er es nicht leicht hatte, mit dem Gefährt vorwärts zu kommen, denn öfters schien er auszurutschen und seine Stiefel gruben sich so stark in den Schnee, dass sie tiefe Löcher hinterließen. Es dauerte nicht lange, bis ich ihn eingeholt hatte. Seine ächzende Gestalt manövrierte den Wagen gekonnt durch alle möglichen Gassen und Straßen hindurch, wie auch bei meiner Beobachtung zuvor. Es langweilte mich bereits nach dreißig Minuten. Dass ich neue Orte von Brehms kennen lernte, war kaum noch ein Trost für mich und gegen Nachmittag kaufte ich mir etwas Fleisch, um wieder zu Kräften zu kommen und meinen Körper wieder aufzuwärmen. Ich begann leicht vorwurfsvoll gegenüber Nevar zu werden, denn mich beschlich das Gefühl, dass Luke sich niemals mit jemandem treffen würde. Zwar hatte das auf Nevars Zettel gestanden, aber was, wenn diese Treffen nicht mehr aktuell waren? Was, wenn Nevar die letzten Treffen beobachtet hatte und nun würde Luke nie mehr Kontakt zu der mysteriösen Person aufnehmen? Ich beschloss ihn noch zwei weitere Tage zu observieren, dann aufzugeben und auf Nevars Besuch zu warten. Er musste einsehen, dass es keinen Sinn machte, jemanden so lange zu beobachten, bis man sich in der Kälte den Tod hole. Da Luke am Vortag mehrere Kunden ausgelassen hatte, kehrte er später als sonst zu seinem Laden zurück und mir blieb keine andere Wahl, als ebenfalls nach Hause zu gehen. Vielleicht wollte die Inquisition auch einfach nur mein Können testen? Es war durchaus riskant einen Anfänger wie mich als Spion zu benutzen. Wenn ich erwischt werde, würde ich sicherlich mehr preisgeben, als wirkliche Könner und zwar auch weitaus schneller. Vielleicht wollte man nur sehen, wie weit ich kam, beziehungsweise ging? Könnte es nicht sein, dass es diese Samariter gar nicht gab? Luke sah nicht so aus, als wäre er ein gerissener Verbrecher, Mitglied einer geheimen Organisation oder gar ein Mörder oder Entführer. Er lief vor mir, so weit weg, dass er kaum noch erkennbar war und rutschte auf den fast flüssigen Schneemassen umher. Wie erschöpft er sein musste, wie wehrlos. Würde so jemand wirklich etwas illegales machen? Er hätte keine Chance, würde man ihn angreifen. Meine Ungeduld machte mich fast wahnsinnig und ich überlegte mehrmals, wenn ich hinter der nächsten Häuserecke gut zehn Minuten wartete, ob ich ihn nicht einfach zusammen schlagen sollte. Ich könnte ihn verprügeln, so wie Morgan mich verprügelt hatte und ihn dann einfach ausfragen. Es würde einiges leichter machen und keiner hatte mir verboten, so aufzufallen. Im Gegenteil: Ich stand sogar unter dem Schutz der Kirche, war es nicht so? Ich musste mich zusammen reißen, dieser Fantasie nicht nachzugehen und wenn ich im Häusereingang stand und zusah, wie der Wagen sich näherte und dann wieder entfernte, hasste ich mich für meine Feigheit. Eilig ging ich dann eine Nebenstraße entlang, nur um dann eine viertel Stunde später erneut auf ihn zu treffen. Wie kam es überhaupt dazu, dass die Inquisition einfache Männer wie mich für sie arbeiten ließ? Früher hatte ich gedacht, dass die Kirche keine solcher Menschen beherbergte, sondern stets in Frieden und ohne Blut handelte. Im Laufe der Jahre lernte ich, dass es anders war. In meinem Kopf entstanden Ideen und Phantastereien von Gruppen aus Elite-Kämpfer, die einen Ehrenkodex hatten und jahrelange Ausbildungen. Stattdessen griff man sich scheinbar einfache Menschen beiseite, die in der Klemme saßen, um sie mit angeblicher Hilfe zu blenden. War Nevar auch so an die Kirche geraten? Er war ein Ketzer, vielleicht deswegen. Vielleicht hätte er auf den Scheiterhaufen gemusst, war dem aber ausgewichen, indem er sein Leben der Deo Volente verkaufte? Seufzend sah ich zu, wie Luke sich mehrere Straßen weiter daran zu schaffen machte, den Karren um die Ecke zu fahren. Er hatte mich noch immer nicht bemerkt, am liebsten würde ich das ändern. Nur um Spannung in die Sache zu bekommen, würde ich sogar auf seinen dämlichen Wagen springen und einen absurden Tanz aufführen. Aber eine innere Stimme sagte mir, dass es noch genug Spannung für mich geben würde, also ging ich schweigend in eine Seitengasse, um an deren Ende seufzend erneut auf den Händlersohn zu warten. Das Rätsel um Nevar beschäftigte mich intensiver. Was hielt ihn an dieser Gilde? - Denn für mich war klar, dass es sich bei der Deo Volente um eine christliche Gilde handelte. Aber mir war nicht klar, worin ihre Aufgabe bestand. Wer durfte ihr beitreten und was war ihr Ziel? Was machte eine Mitgliedschaft aus und was für Ideale hatte ein solches Mitglied? Diesmal ließ Luke lange auf sich warten und ich setzte mich schweigend auf den Podest einer Engelsstatue. Ich konnte nicht mehr stehen, so müde war ich und erschöpft. Wie gern würde ich in mein Bett fallen und nicht mehr aufstehen, ehe es nicht bereits Mittag war. Ob es auffällig wäre, mich über die Deo Volente zu erkundigen? Immerhin hatte sie ein normales Gebäude mit normalem Zugang, alles andere als heimlich oder versteckt. Die Angst, etwas Falsches zu tun, hinderte mich daran, Menschen nach ihr oder nach den Samaritern zu fragen. Wieso hatte Nevar mich nicht über sie aufgeklärt? War es vielleicht egal? War die Deo Volente vielleicht einfach zu unwichtig, um erwähnt zu werden? Eine Art Tarnung vielleicht? Nach gut zehn Minuten stand ich auf und trat fröstelnd auf der Stelle, mich selbst umarmend und den Umhang fest um mich gezogen. Noch immer war nirgends eine Spur von Luke, dabei hätte er längst am anderen Ende der Straße erscheinen müssen. Die Lampe flackerte zwar leicht, aber hell genug, um seine Silhouette nicht zu übersehen. War er stehen geblieben? Ich schlenderte einige Schritte vor in seine Richtung, langsam genug um notfalls zu verschwinden. Auf keinen Fall wollte ich direkt in ihn hinein laufen, sollte Luke nur eine kurze Pause gemacht haben, aber auch nach der Hälfte des Weges war noch immer nichts von ihm zu sehen. Zögernd ging ich weiter. Ich passierte mehrere Wohnhäuser und blieb an der Straße stehen, der Luke von links nach rechts weiter folgen sollte. Neugierig lugte ich um die Ecke. Rechts war er noch nicht und links war er nicht mehr. Das einzige, was ich sah, war sein Karren. Unsicher schaute ich hinüber. Noch gut hundert Meter entfernt erkannte ich das klapprige Holzgestell mit der Plane. Wahrscheinlich war er mittlerweile leer und keiner interessierte sich für das Stück, also konnte man ihn ruhig einige Minuten zurücklassen. Doch wo war Luke? Ich ging zögernd näher. Weder hinter dem Karren, noch daneben konnte ich etwas menschenähnliches ausmachen. Der Schnee war matschig, dennoch hell und die Lampen an den Häuserwänden warfen gelbes Licht über alles und jeden. Nur nicht über den Händlersohn. Als ich den Wagen endlich erreichte, stand ich vor einem Gasthaus der besonderen Art: Bei Annabelle Mir war dieses Gebäude bereits öfters aufgefallen, denn tagsüber reihten sich hier die Huren und versuchten die Soldaten und Arbeiter von ihren Pflichten abzulenken. Hatte Luke etwa wirklich seinen Karren hier stehen lassen, um dem Vergnügen nachzugehen? Im Innern brannte Licht, um diese Zeit blühte das Geschäft wahrscheinlich, aber es war ein angesehenes Haus. Bei diesem Winter schickten sie keine Mädchen hinaus und so war es fast vollkommen still. Sollte ich hinein gehen? Unsicher nahm ich einige Schritte Abstand und fuhr mir über den Nacken, ehe ich die Kapuze wieder über meinen Kopf zog. Das konnte doch nicht wahr sein...! Ich verstand nicht wieso, aber ich wagte es nicht, einen Schritt in das Gebäude hinein zu tun. Ich dachte an Melina, auch sie war eine Prostituierte gewesen und ich hatte mich des Öfteren ihres Angebots bedient. Also was hielt mich nun zurück? Nach gut fünf Minuten starrte ich noch immer an der riesigen Wand empor und gab seufzend auf. Ich konnte dort unmöglich hinein, ich trug nicht einmal genug Geld bei mir. Sie würden mich hinaus werfen, ehe ich auch nur einen Schritt über die Schwelle getan hatte. Luke war mir entwischt, da gab es keine Ausflüchte. Mir blieb nichts anderes übrig, als darauf zu warten, dass er wieder hinaus kam. Ich konnte nur hoffen, dass sein Geschäftspartner, Auftraggeber oder was auch immer sich nicht dort drinnen befand, denn dann war dies meine Gelegenheit gewesen, ihn zu sehen. Ich ging ein wenig auf und ab, aber nirgends fand ich eine Stelle, an der ich vielleicht hinauf klettern konnte. Und selbst wenn, was hätte mir das gebracht? Ich hätte etlichen beim Vergnügen zusehen können und wahrscheinlich wäre Luke nicht einmal dabei gewesen. Hätte eine Frau mich gesehen, hätte sie geschrien und ich wäre schneller aufgefallen, als wenn ich meinen Tanz auf Lukes Karren aufgeführt hätte. Es war aussichtslos. Hätte ich doch nur gewusst, dass er in solche Gebäude ging. In meinem Beutel wäre mehr Geld gewesen und ich wäre ihm sogar dorthin gefolgt. Stattdessen wartete ich nur weiter in der Kälte. Dann vernahm ich Schritte unmittelbar hinter mir. Wie vom Schlag getroffen fuhr ich herum und starrte Luke entgegen, der aus einer der engeren Nebengassen trottete und sein Hemd über die Hose zog. Als er mich sah, nickte er müde und brummte: „N'Abend.“ Stockend erwiderte ich den Gruß. „Ebenfalls.“ Luke sah mich neugierig an, scheinbar hatte er sich lediglich in der Gasse erleichtert, dann gähnte er und machte sich daran, den Karren wieder in Bewegung zu setzen. Er schob ihn voran und auf halbem Wege rief er mir über die Schulter zu: „Ich würde da nicht rein gehen. Sucht-Krankheit, allesamt!“, dann schob er weiter. Es dauerte, bis ich verstand, was er meinte und mit roten Ohren starrte ich erneut zum Haus empor. Mit glühendem Gesicht folgte ich Luke weiter, wieder Abstand wahrend, so gut es ging. Von nun an würde ich Luke nicht mehr aus den Augen lassen, so viel stand fest. Es war nicht mehr weit, bis er das Geschäft erreichen würde und ich wollte Heim. Unmöglich würde Luke sich jetzt noch mit jemandem treffen, das wäre zu auffällig. Doch zu meiner Verwunderung blieb er erneut stehen. Entnervt seufzend lehnte ich mich gegen eine Häuserwand und sah zu, wie er den Karren abstellte und kontrollierte, ob er noch rollen konnte. Es war unsinnig, denn kein Wagen dieser Welt würde bei Schnee und ebener Straße von ganz allein das Weite suchen, aber vielleicht war es eine alte Angewohnheit von ihm. Anschließend sah er sich um und schlenderte etwas übertrieben gelassen auf ein Gasthaus zu. Sofort stellte ich mich aufrecht. Seine vorsichtige Art und sein dauerhaftes Kontrollsehen, ob ihn auch ja niemand beobachtete, ließen mein Herz schneller schlagen. Es war so weit...! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)