Die Geschichte des legendären Sullivan O'Neil 2 von Izaya-kun (Zwischen Gott und Teufel) ================================================================================ Kapitel 6: Ungewollte Einblicke ------------------------------- Als ich endlich die Herberge erreichte, war ich nicht nur todmüde, sondern auch völlig durchfroren und durchnässt. Ich zitterte am ganzen Körper, so stark, dass sogar die sonst so unfreundliche Wirtin Mitleid mit mir hatte. Sie gab mir ein weiteres Laken und machte mir einen dampfenden Tee. Mit tauben Zehen und zitternden Knochen legte ich mich unter alle Laken und Decken, warf sogar den Umhang über mich und versuchte zu schlafen. Die neue Umgebung, meine neue Arbeit und die Kälte hielten mich jedoch noch lange wach. Als ich dann einschlief erwachte ich am Morgen so plötzlich, als hätte ich nie ein Auge zugetan. Es schien, als hätte sich mein Körper durch die Erschöpfung einfach ausgeschaltet. Es fiel mir schwer aufzustehen. Meine Idee, mir Feder und Tinte zu kaufen, verschob ich erst einmal. Viel mehr kämpfte ich mit mir selbst, denn ich fühlte mich am nächsten Morgen nicht wirklich von meiner neuen Arbeit angelockt. In meinem Hals kratzte es stark, mein Kopf dröhnte und meine Nase lief – eine Grippe war auf direktem Wege zu mir. Da ich keinen Appetit hatte, verzichtete ich abermals auf mein Frühstück und diesmal zog ich mir zwei meiner Hemden an, statt nur eines. In meinem Hinterkopf dachte ich an die Bemerkung der Wirtin und wenn es so weiter ging, hatte sie wahrscheinlich Recht: Es fehlte nicht mehr viel und ich würde aussehen, wie ein wandelndes Skelett. Da ich den Umhang zum Trocknen nicht angehangen hatte, roch er nun stark nach Feuchtigkeit und auch die Decken hatten den Geruch übernommen. Seufzend hüllte ich mich dennoch in ihm ein und zwang mich, auf die nassen und kalten Straßen zu gehen. Der Schnee war um einiges höher und als ich die Schreibstube endlich fand, spürte ich meine Füße nicht mehr. Meister Pepe hatte den Laden bereits weit vor sieben Uhr geöffnet und war schon in seiner Arbeit vertieft. Als ich ihn begrüßte, brummte er nur und ich fragte mich, ob er seine Entscheidung, mich einzustellen, bereute. Schweigend zog ich meinen Umhang aus und hängte ihn über einen Kleiderhaken neben dem Tresen. Ich hoffte, er würde den Geruch nicht bemerken, doch zu meiner Enttäuschung hatten auch meine Hemden ihn nun übernommen. Schniefend und die Nase immer wieder hoch ziehend ging ich ins Lager, mein kleines, selbst gestaltetes Reich. Ich musste mir, bevor ich Tinte und Pergament besorgte, unbedingt ein Taschentuch kaufen, denn ich hasste es, den Rotz hinunter schlucken zu müssen. Die einzige Aufheiterung war, dass im Lagerraum alles so stand, wie ich es verlassen hatte, nur manche der Kisten waren nun beschriftet. Ich war stolz darauf, dass der alte Mann scheinbar nichts gegen meine Ordnung hatte – sie sogar befürwortete und ein Blick durch das Schreibzimmer ließ mich entschließen, auch hier aufzuräumen. Ich begann in aller Ruhe damit die Tintenfässer in einem der Regale zu sammeln, die leeren Blätter im anderen und die benutzten in einem dritten. Nebenbei beobachtete ich, wie der Skriptoriumsmeister umher lief und Bücher studierte. Er hatte einen ganzen Stapel auf dem Tisch zu liegen und hatte nun begonnen, sie zu lesen und manches anzustreichen. Wann immer ich ihn bei einem Buch unterbrach, brummte er aggressiv oder fuhr mich an, ich sollte gefälligst kurz mal leise sein. Aus diesem Grund fragte nicht nach, was er tat, dadurch würde er sich nur noch gestörter fühlen. Stattdessen lauschte ich seinem Gemurmel und lernte dadurch, worauf man beim Schreiben achten musste. Es gab Stile, die er mochte und Stile, bei denen er nur den Kopf schüttelte. Nachdem ich alles sortiert und eingeräumt hatte, begann ich, die Tinten zu überprüfen. Ich sah nach, welche ausgetrocknet war und nicht mehr verwendbar und sortierte die verschiedenen Farben und Arten. Das Selbe tat ich mit den Federn und den Pergamenten. Er ließ mich gewähren, etwas, wofür ich sehr dankbar war, denn damit steigerte er mein Selbstbewusstsein ungemein. Er schenkte mir Vertrauen, obwohl er mich nicht kannte und gab mir eine Chance – etwas, was andere nicht getan hatten. Ich wollte dieser Gerechtigkeit entgegen kommen und mir so viel Mühe geben, wie nur irgend möglich. Ab und an kam er zu mir, um nachzusehen, was ich gerade tat. Dann sagte er ein, zwei kurze Sätze, wie: „Die Russtinte dort hat Vorrang.“ oder „Am besten, du tauschst auch die verschmierten Beschriftungen aus. Manche sind gar nicht mehr lesbar oder aktuell.“, aber meistens hielt er sich heraus. Ich glaubte, er hatte gemerkt, dass ich selbstständig denken und auch arbeiten konnte. Der gesamte Vormittag verlief so ruhig und mit jeder Stunde drohte ich mehr, wieder einzudämmern. Dennoch genoss ich diese entspannte Atmosphäre sehr. Auch wenn mich die Ruhe manchmal quälte. Ich hatte viele Fragen an ihn, aber da ich ihn nicht stören wollte, waren Gespräche nicht möglich. Ich beschloss zu warten, bis er eine Pause machte, doch das tat er scheinbar nie. Gegen Nachmittag dann kam ein Kunde. Das Erste, was ich hörte, war der Hufschlag von Pferden, dann die Türklingel. Ein recht junger Mann trat in das Skriptorium, in einem blauen Samtanzug mit weißer Perücke und stark gepudertem Gesicht: Ein Adliger. Ich war gerade dabei einige Bücher ins Lager zu tragen, die der Meister mir gezeigt hatte und drehte mich neugierig herum. Während die meisten vor solchen Menschen förmlich in die Knie gingen, sich verbeugten und Respekt und Ehrfrucht heuchelten, war der alte Mann ganz normal. Dies war etwas, was ich an ihm bewunderte. Er empfing den Gast freundlich hinter seinem improvisierten Tresen und begann mit dem Buchbesprechen, als säße er mit dem Mann beim Tee. Aus unbewusster Angst heraus trat ich ein paar Schritte zurück, bis ich an einen der Pulte stieß und dort blieb ich stehen und ließ die Bücher sinken. Wie lange war es her, dass ich mit der höheren Gesellschaft zu tun gehabt hatte? In St. Marianne waren öfters reiche Leute gewesen und hatten Aufträge an das Kloster gegeben, bezüglich Buchkopien oder dem Abschreiben von längeren Manuskripten. Nie aber hatte ich mit einem von ihnen gesprochen. Meine zweite Begegnung mit einem der reicheren Klasse war Blackborn gewesen und meine letzte jene mit O’Hagan, dem Richter, dem Priester Johannes und letzten Endes mit Domenico. Fast könnte man behaupten, ich hätte keine einzige positive Begegnung mit einem Reichen Mann gehabt. Ohne es zu merken hatte ich gelernt, mich vor Leuten mit weißen Perücken und Gehstock in Acht zu nehmen. Und so stand ich unschlüssig im zweiten Raum und beobachtete, wie der Fremde dem Skriptoriumsmeister ein kleines Buch überreichte, mit bräunlichem Einband und gold gefärbten Außenseiten. Der Meister nahm es entgegen und musterte es, während der Lordsdiener – denn scheinbar war es lediglich ein recht gut gekleideter Bote – erklärte, er würde gern drei solche Bände haben. Sie unterhielten sich über den Preis, das benötigte Gold, die Tinte und vor allem die Zeit der Anfertigung und ich erfuhr, dass seine zwei besten und einzigen Schreiber leider das Land verlassen mussten. Dennoch vertraute man ihm, Meister Pepe, diesen Auftrag an, denn der ehrenwerte Lord war schon seit mehreren Jahren treuer Kunde und hatte vollstes Vertrauen zu ihm als Kopist. Die einzige Bitte, die der Lord hatte – und bei der Äußerung beugte sich der Bote etwas vor und flüsterte für mich dennoch hörbar – keiner darf davon erfahren, dass dieses Werk sich in den Händen seines Herrn befände. Neugierig betrachtete ich aus einiger Entfernung den Einband, als Meister Pepe es herum drehte: Das heilige Wort in zwei Sprachen Ein Ketzerswerk. Nachdem der Meister ihm mehrmals versichert hatte, dass kein Wort über seine Lippen kommen würde, unterschrieb der Diener den Auftrag. Er zahlte die erste Gebühr, verabschiedete sich freundlich und sie gaben sich die Hand. Dann stieg der Bote wieder in seine Kutsche und kurz wehte ein kalter Windhauch durch den Laden. Ich kam fast zufällig in das erste Zimmer zurück, um einen zweiten Bücherstapel zu holen und wartete, dass der Meister mich ansprach, bezüglich des neuen Auftrags. Zu meiner Verwunderung jedoch tat er dies nicht, sondern verstaute das Buch lediglich in einem der Regale und las in seinem eigenen weiter. Die Geräusche der Hufe erfüllten die ganze Straße und als ich ein weiteres Mal durch die Scheibe der Ladentür sah, war die Kutsche bereits verschwunden. Ich schwieg, schließlich wollte ich nicht zu aufdringlich werden und machte mich daran, auch die weiteren Bücher nach nebenan zu tragen. Als alles in den Regalen verstaut war konnte ich meine Neugierde jedoch nicht mehr zurückhalten. Mir fiel auf, dass der Boden im Vorraum ziemlich durchtränkt war durch den Besuch des einzigen Kunden und so griff ich einen Lappen, sank in die Knie und begann zu wischen. Dabei rutschte ich mühselig auf den Knien umher und musste schon bald merken, dass Kies und Sand so einfach nicht los zu werden waren. Unschuldig fragte ich: „Meister, gibt es endlich einen Auftrag?“, dann schob ich allen Dreck zu einem Haufen. Ich versuchte so viel Schmutz wie möglich mit dem Stoff aufzunehmen, um ihn mit einem kräftigen Schlag vor die Tür zu befördern. Als ich wieder eintrat, sah der Meister mich skeptisch über die Brille hinweg an. „Ich befürworte es nicht, bei wichtigen Verhandlungen belauscht zu werden.“ „Das habe ich nicht.“, die Tür fiel klirrend zurück ins Schloss und ich sank zurück auf die Knie. Ächzend fuhr ich mit meiner Arbeit fort und erklärte im Plauderton: „Sonst müsste ich ja nicht fragen.“ Es dauerte, bis er sein Buch zuschlug und sich mit den Armen auf den Tresen beugte. Aufmerksam beobachtete er mein Treiben und etwas amüsiert murmelte er: „Nun, vielleicht seid Ihr kein Kopist, Falcon, aber für Ordnung sorgen könnt Ihr.“ Ich lächelte bescheiden. „Danke, Meister.“, war alles, was ich herausbrachte. Seine Art von einer Antwort abzulenken erschien mir mehr als nur amateurhaft. Etwas frecher hielt ich inne und suchte seinen Blickkontakt. „Aber Ihr habt mir nicht geantwortet.“ „Habe ich nicht?“, er wirkte verwirrt. „Nein. Gibt es nun einen Auftrag? Oder traut Ihr mir das nicht zu?“ Ich stellte mich aufrecht und bemerkte, dass ich einen Fehler gemacht hatte. Nicht nur der Diener war mit von matschigem Schnee verklebten Schuhen eingetreten, sondern auch der alte Mann und ich. Es fiel stark auf, dass lediglich vor dem Tresen gewischt worden war. Überall anders gab es kleine, schlammige Pfützen, Abdrücke unserer Stiefel und Dreck über Dreck. Erst jetzt fiel mir auf, wie der Kies unter meinen Sohlen knirschte und schwer seufzend sank ich zurück zum Boden. Was man anfängt, das muss man zu Ende bringen, also machte ich mich wehmütig daran, auch die anderen zwei Räume zu wischen. Nachdenklich sah der Greis mir zu und murmelte, mehr zu sich, als zu mir: „Gut wäre es natürlich, wenn ich diktieren würde, während wir zwei schreiben. So hätten wir gleich zwei auf einmal. Aber…“, mehr sprach er nicht. Seufzend wandte er sich ab und griff ein neues Buch zum Kontrolllesen. Ich wusste, wieso er die Arbeit mit mir mied. Wenn es sich bei dem Auftrag wirklich um ein verbotenes Werk von Ketzern handelte – und das war scheinbar zweifellos der Fall – wäre er mehr als nur dumm, dieses Werk bei einem ehemaligen Bibelkopierer in Auftrag zu geben. Mir kam der Gedanke, dass hier all jene Bücher kopiert wurden, die man im Kloster nicht abgeben konnte und die Regale bekamen ein verlockendes Aussehen für mich. Ich nahm mir vor auf einige der Bücher ernstere, genauere Blicke zu werfen. Aus Erfahrung wusste ich, dass Ketzerswerke oftmals nicht nur ehrlicher, sondern auch detaillierter und aufschlussreicher waren, als jene, die die Inquisition aussortiert hatte. Es war schon immer mein Traum gewesen, in eine Bibliothek der Inquisition zu gehen. Aber als erstes galt es, Meister Pepe davon zu überzeugen, dass ich ihn gewiss nicht an einen Priester oder gar Inquisitor verraten würde. Auf keinen Fall wollte ich bereits nach einer Woche den Laden verlassen müssen, da ich bis auf Putzen keinen Nutzen hatte. Wie ich das tun sollte, war mir allerdings noch nicht ganz klar. Gegen Nachmittag wurde es lebendiger. Zwei weitere Kunden kamen, jedes Mal Adlige, um Aufträge abzuholen oder Anzahlungen zu begleichen und jedes Mal hielt ich mich in den hinteren Zimmern auf, bis man mich rief, um Bücher aus den Lagern zu holen. Ein zweiter Mann gab eine Kopie in Auftrag, jedes sollte das Buch komplett neu gestaltet werden und so suchte ich ihm verschiedene Schriftarten heraus und mehrere Lektüren als Beispiele für das Aussehen. Die zwei unterhielten sich eine Stunde lang und mir blieb nichts anderes übrig, als schweigend im Nebenzimmer an einem der Pulte zu sitzen und zu warten. Ich nutzte die Gelegenheit um mein Schreiben und Zeichnen zu verbessern, jedoch waren die Ergebnis nicht wirklich zufrieden stellend. Meine Vergangenheit ruinierte mir die Gegenwart – selbst über ein Jahr darauf und mit neuem Namen. Vieles erschien mir plötzlich schwer und mein Handgelenk fing sehr früh an, zu schmerzen. Ich fragte mich, ob Black daran schuld war. Der Meister würde mich keine verbotenen Werke kopieren lassen, daran gab es nichts zu rütteln und dieser Gedanke demotivierte mich. Besonders, wenn sie ohnehin nicht gut aussehen würden. Nach der Stunde Wartens hatte der Kunde noch immer keine genauen Vorstellungen und ich bat den Meister entschuldigend um eine Pause. Er nickte nur und so ging ich hinaus. Als ich in die Kälte trat spürte ich, dass ich in den staubigen Räumen Kopfschmerzen bekommen hatte und während die Tür zu fiel, hörte ich den Kunden sagen: „Oh, ihr habt einen neuen Schreiber?“ „Ja, so etwas in der Art.“ „Wo sind Eure Söhne? Etwa-…“, ich vernahm das gedämpfte Schellen der Türglocke. Als ich das Wirtshaus verlassen hatte war es noch dunkel gewesen und nun war die Sonne dabei, wieder unterzugehen. Ich war betrübt über das Wetter, der Winter machte mich traurig und die ständige Dunkelheit melancholisch. Zudem schneite es wieder und meine Wangen brannten vom eisigem Wind. Dennoch beschloss ich zum Markt zu gehen und mir etwas zu Essen zu kaufen. Ich konnte unmöglich zum Abend das Brot der vergangenen Tage essen, dieses war sicherlich nicht mehr brauchbar. Weder wusste ich, wie viel Pause ich hatte, noch, wann ich mit meiner Arbeit fertig war. Aus einem Gefühl heraus beschloss ich, dass ich nun eine Stunde lang frei hätte, denn eine halbe würde ich sicherlich schon brauchen, um den Marktplatz zu finden. Die Gassen waren bei Licht noch verwirrender, als bei Nacht, denn nun waren sie nicht nur alle schwarz, sondern sahen auch noch alle gleich aus. Ich irrte umher mit dem Gedanken, alle Wege führten irgendwie ins Zentrum, doch nachdem ich drei Mal ein und dieselbe Büste passierte, orientierte ich mich am Kreuz der Kathedrale. Ich wusste noch in etwa, von welcher Seite aus ich es gesehen hatte, als Nevar und ich vor dem Gildenhaus standen. Ich musste nur irgendwie einen Weg finden, dass ich abermals aus dieser Perspektive sah. Auf dem Platz mit dem alten Henry gab es genug Menschen, die mir helfen könnten, etwas Essbares zu finden. Doch dann kam mir eine Idee. Mir fiel die Beschreibung der Wachmänner ein und ich ging ohne zu Zögern los dem Kreuz entgegen. Ich wollte zum Bunten Platz, das hatte ich mir vorgenommen und nun war die Zeit dazu. Die Gassen schlängelten sich wild umher, so unberechenbar wie ein Fluss. Mal nach rechts, mal nach links und stets hatte man das Gefühl, man hätte sich verlaufen. Manchmal verliefen sie so eng und die Häuser standen so schief zueinander gebeugt, dass ich das Kreuz nicht mehr sehen konnte und wenn ich es dann endlich erblickte, fluchte ich, denn ich war zu weit gelaufen. Meine Suche führte mich durch Tunnel in die entferntesten Winkel und anhand der Schneemassen vermutete ich, dass manche davon bereits seit Wochen nicht mehr betreten worden waren. Die Einzigen Besucher waren Katzen gewesen und kleine, Knöcheltiefe Spuren zeugten noch davon. Kurz bevor ich den besagten Platz endlich erreichte – ich hatte das Gefühl, ich war bereits Stunden unterwegs – hielt ich inne, denn ich hörte ein Geräusch. Anfangs war ich unsicher gewesen, denn der Wind trug manche der Stimmen meterweit durch die Gänge, doch diesmal war ich sicher. Schmerzensstöhnen, Verfluchen und lachen, eine recht böse Kombination. Unsicher rührte ich mich keinen Zentimeter mehr, um die Personen orten zu können, doch es fiel mir sehr schwer. Mal hallten die Geräusche von links, mal von rechts, aber auf keinen Fall konnte ich das einfach ignorieren. Vielleicht hätte ich das tun sollen. Vielleicht hätte ich weitergehen und es einfach nicht mehr beachten sollen. Stattdessen ging ich leise einige Schritte vor, überhörte das Knacken des Schnees unter mir und lauschte. Nach einiger Zeit fand ich Spuren im Schnee, von zwei Personen, so verwischt, dass man meinen könnte, sie wären gerannt. Wie aus einem Instinkt heraus verfolgte ich sie und kam zu einem Torbogen, links von mir. Hörbar dahinter befanden sich scheinbar die Ursachen der Geräusche und so schlich ich an die Wand und lauschte angespannt. Alles was ich hörte, war die Stimme eines Mannes, die mir bekannt vorkam. Ich überlegte fieberhaft, woher, aber es fiel mir nicht ein. Er sagte: „Du weißt, dass du es hättest besorgen sollen, stattdessen lässt du es dir einfach von den Idioten abnehmen?!“, scheinbar folgte ein Tritt, denn ich hörte einen unterdrückten Schmerzenslaut, gefolgt von Wimmern. „Wir haben dich nicht dafür bezahlt, dass du sämtliche Pläne verrätst!“ „Ich habe Euch nicht verraten!“, wimmerte nun jemand, so leise, dass ich es kaum verstand. Vorsichtig ging ich einige Schritte vor, näher an die Abzweigung heran. Durch das Knacken des Schnees verstand ich die restlichen Worte nicht mehr. Erst, als ich stehen blieb, hörte ich abermals den ersten Sprecher. Dieser war aggressiv und schien mehr mit sich selbst zu reden, als mit jenem, den er des Verrats beschuldigt hatte. „…ist doch nicht zu fassen! Wie konntest du überhaupt so bescheuert sein und es einfach liegen lassen?!“ „Aber das habe ich doch gar nicht!“, jammerte die andere Person. „Ich flehe Euch an, so hört mir doch zu, ich habe nichts getan! Ich habe-…“ „Halt endlich den verdammten Rand! Wegen dir stehen wir wieder am Anfang!“, dann herrschte Stille. Ich kannte die Stimme und die Unwissenheit machte mich fast wahnsinnig. Ich ging abermals einen Schritt vor und lehnte mich an den runden Torbogen, der in die Sackgasse führte. Vorsichtig lugte ich um die Ecke, um mehr sehen zu können, doch es reichte noch nicht. Sie standen nicht geradezu, sondern etwas weiter links, weswegen ich mich ganz zum Eingang wandte und abermals versuchte, etwas zu sehen. Das einzige, was ich erkannte, war, dass der Bogen in einen ehemaligen Hinterhof führte. In der Mitte stand ein Brunnen, mit Holzbrettern verschlossen und zugeschneit und die Häuser waren unbewohnt und verrottet. Überall war erfrorenes Gestrüpp und die Fenster hatte man mit Brettern vernagelt. Der Mann fluchte leise weiter: „Ich garantiere dir, wenn du ein Wort verlierst, dann besuche ich deine gesamte Familie, du Schweinehund! Und dann wirst du dir wünschen-…“ Ein Schlag in den Rücken ließ mich vorstolpern, der Sprecher fuhr herum und bevor ich wusste, wie mir geschah, landete ich unsanft im Schnee. Nur wenige Meter weiter befand sich der Sprecher, scheinbar ein Arbeiter. Ich erkannte von der Kälte gereizte Wangen und langes, krauses Harr, leicht rötlich: Morgan, der Mann aus der Rum-Marie. Er hatte im Profil zu mir gestanden und zu einer weiteren, sich krümmenden Gestalt hinunter gesehen, doch nun starrte er mich an. Allem Anschein nach handelte es sich bei der knienden Person um einen jungen Kerl in der Kleidung eines Boten, eine recht bemitleidenswerte Gestalt. Im Schnee waren Blutstropfen und Spuren eines Kampfes, aber wer der Verlierer war, war offensichtlich. Jener, der mich gestoßen hatte, packte mich nun unsanft am Kragen und zerrte mich hoch. Er riss mir die Kapuze vom Kopf und mit einem weiteren Stoß landete ich unsanft vor meinem alten Bekannten. „Haben Besuch.“, knurrte er dabei. Abermals hockte ich im kalten Schnee und es dauerte einige Sekunden, bis ich realisieren konnte, was geschehen war. Morgan sah mich an, als wäre ich ein hassenswertes Insekt und auch der junge Mann vor ihm erhob seinen Blick. Er zitterte, wobei ich nicht wusste, ob aus Angst oder vor Kälte, sein Gesicht war voller Blut. Im ersten Moment glimmte in seinen Augen eine Spur von Hoffnung, aber als er erkannte, dass keine Hilfe nahte, ließ er den Kopf nur wieder sinken. „Sieh mal einer an.“, brummte Morgan dann und kam mir einige Schritte entgegen. „Dich kenn ich doch?“ „Kann schon sein.“, gab ich zögernd zu. Ich rappelte mich hoch und rückte meinen Umhang zurecht, ehe ich einen weiteren, unsanften Stoß zwischen die Schulterblätter verspürte. Gereizt stolperte ich Morgan entgegen, meinen Fänger direkt hinter mir. Der Hüne musterte mein Gesicht und seine dunkelgrünen Augen waren voller Misstrauen und Vorsicht. Er war nicht sicher, wieso ich hier war und wohl auch nicht, ob er es mit einem Zufall zu tun hatte. Ich unterdrückte den Drang mich herum zu drehen und zu überprüfen, wer genau dort hinter mir stand, stattdessen sah ich auf Morgans braune Lederstiefel. In meinen eigenen steckten meine zwei Dolche und an meinem Gürtel hatte ich noch immer mein Messer. Im Notfall konnte ich mich also verteidigen, nur gegen wen? Wie viele Leute waren noch hier und wer? Nur einer? Anhand der Stimme vermutete ich, dass der zweite Mann hinter mir ein weiterer aus der Rum-Marie war, jener mit der Mütze und der Knollnase. Sicher war ich mir jedoch nicht. Ich hörte das Knacken des Schnees, während er leise von einem Fuß auf den anderen trat. Allem Anschein nach war ihm kalt, das ergab Vorteile meinerseits. Sollte er ein Messer ziehen, wären seine Finger vielleicht zu kalt um es zu halten, zudem war seine unterkühlte Haut wesentlich schmerzempfindlicher als sonst. Unbewusst sah ich mich mit den Augen nach Johnny um, den letzten der Dreiergruppe, doch dieser war nirgends zu sehen. Gereizt fragte Morgan, sich drohend aufbauend: „Verfolgst du uns?!“ Sofort sah ich mein Gegenüber wieder an und mir fiel auf, dass er gut eine Handbreite größer war, als ich. Ich hielt seinem Blick gequält stand und schüttelte nur den Kopf. Dieser rothaarige Kerl war mir nun noch unsympathischer als ohnehin. Dazu wuchs in mir die Unsicherheit. Gut, ich hatte Waffen, aber ich hatte sie nie zuvor benutzt. Mir wurde bewusst, dass ich noch immer nicht ansatzweise Erfahrung im Kampf hatte. „Ich bin zufällig hier, ich...“, doch ein Stoß gegen die Brust ließ mich abbrechen. Unbeholfen taumelte ich zurück und fing mich im letzten Moment auf. „Spionierst du mir nach?!“, fuhr er mich an, diesmal etwas aggressiver. Wütend zischte ich: „Nein, verdammt! Ich bin zufällig hier!“, und stellte mich wieder aufrecht. „Und zufällig in der Rum-Marie gestrandet, was?!“, erneut knallte er mir seine Hände gegen den Brustkorb, diesmal landete ich unsanft auf meinem Hinterteil. „Bist du von der Gilde?!“ Ich wollte aufstehen und zurückweichen, doch die Person hinter mir trat mir die Beine weg, noch ehe ich wirklich stand. Seufzend gab ich auf und versuchte die kalten Schneemassen an meinen Knien auszublenden. „Ich bin zufällig hier.“, versuchte ich zu erklären, so ruhig es ging. „Ich habe Geräusche gehört und wollte nachsehen, was los ist. Das ist alles.“ Morgan spuckte mir vor die Füße und wandte sich ab. Er war nicht nur ungeduldig und schnell reizbar, sondern auch noch schnell überfordert. Während ich seinen Beinen zusah, wie er aggressiv mal nach hier und mal nach dort lief, versuchte der Kerl weiter hinten sich hoch zu raffen. Er hielt sich an der Wand fest und zwang sich, aufzustehen, doch kaum drehte Morgan sich zu ihm, sackte er ängstlich und wimmernd zurück. „Was machen wir jetzt?“, fragte jener hinter mir. „Sollen wir ihn mitnehmen?“ Morgan grunzte verächtlich. „Bist du bescheuert? Wie viele noch?“, entschieden schüttelte er den Kopf, blieb stehen und starrte mich an, wie ein Problem, dass man dringend beseitigen musste. „Du hättest deine Nase hier heraus halten sollen.“ Ich versuchte entschuldigend zu lächeln, meine Knie begannen vor Kälte zu schmerzen und ich musste mich zwingen, nicht an mein Messer zu fassen. „Nun, eigentlich habe ich ja nichts gesehen oder gehört.“, er ignorierte mich. Der Mann im Hintergrund hatte es auf die Beine geschafft und stand nun zitternd an der Wand. Ich bemühte mich, nicht zu ihm zu sehen und Morgan, der mit dem Rücken zu ihm stand, hatte nur Augen für mich. Scheinbar war jener hinter mir genauso unaufmerksam, denn mit einem Mal stolperte ihr Opfer los. Er rannte, so gut es ging, rutschte aus und fiel fast, doch sofort rappelte er sich erneut auf und floh keuchend an mir vorbei aus der Gasse. Niemand rührte sich, nur Morgan knurrte: „Lass ihn herumschreien, keiner hört ihn.“, und nach einigen Sekunden fügte er leise grinsend hinzu: „Wenn der sich überhaupt traut, zu schreien.“ Ich hatte die Hoffnung, er würde Hilfe für mich holen, doch die Angst in seinen Augen und die Gelassenheit der Männer neben mir ließen diese Hoffnung sofort wieder ersterben. Innerlich seufzend sah ich wieder auf Morgans Schuhe und konzentrierte mich auf den Griff des Dolches, der mir gegen den Knöchel drückte. Ich musste ihn nur ziehen, angreifen und los rennen. Aber was, wenn der Mann hinter mir bereits ein Messer in der Hand hielt? Als ich hatte aufstehen wollen, hatte er sofort reagiert, mit solchen Reflexen sollte man sich nur im Notfall anlegen. Nach einigem Schweigen hatte Morgan scheinbar beschlossen, wie mit dem Problem umzugehen war. Er gab dem Mann hinter mir einen Wink und ehe ich mich versah, befand ich mich fest in seinem Griff. Er packte meine Arme und drückte meine Oberarme so nah beieinander, dass ich meinen Rücken durchdrücken musste. Gezwungenermaßen sah ich Morgan schmerzerfüllt und düster entgegen. Bedrohlich sah er mich an. „Also? Wieso verfolgst du mich?“ „Ich verfolge niemanden.“, knurrte ich zur Antwort, böses ahnend. Morgan wendete den Blick nicht von mir ab. „Und warum bist du dann hier?“, fragte er ruhig. „Weil ich Geräusche gehört habe.“, erklärte ich abermals. „Ich wollte lediglich sehen, was hier lost ist. Es ist Zufall, dass wir im gleichen Gasthaus sind. Und ich habe auch keine Ahnung, was Ihr hier treibt oder wer der Mann war.“ „Welcher Mann?“, Morgan zog eine Augenbraue hoch. Seufzend sah ich weg und murmelte das, was er scheinbar hören wollte: „Keine Ahnung, ich habe hier nirgends einen Mann gesehen.“ Jener, der mich hielt, ließ den Griff etwas lockerer und ich überlegte, ob ich mich los reißen sollte. Doch auch wenn die Spannung nachgelassen hatte, so spürte ich dennoch fest die Finger in meinen Oberarmen. Morgan sah mich aufmerksam forschend an und brummte: „Und sonst? Was hast du sonst so gesehen und gehört?“ „Nichts.“, sagte ich abermals. Etwas gereizt sah ich ihm entgegen. „Wie gesagt. Nicht das Geringste.“ Er nickte, dann begann er, mich zu durchsuchen. Sofort wurde der Griff wieder fester und ich war gezwungen ganz still zu stehen. Meine Schultern schmerzten, als würden sie zerreißen und ich bekam Angst, er würde mir die Arme brechen. Das erste, was Morgan mir und seinem Partner zeigte, war skeptisch das Messer an meinem Gürtel, dann griff er an meine Stiefel. Ich hörte ein schweres Seufzen und fast vorwurfsvoll hielt er mir die zwei edlen, schwarzen Dolche vors Gesicht. „Zufall, was?“, knurrte er. Ich spürte Wut in mir aufsteigen, aber auch Beunruhigung. Das war nicht gut, gar nicht gut. Zumindest hatte er meine Dietriche nicht entdeckt, denn wie ich das erklären sollte, war mir ein Rätsel. Schweigend ließ ich Morgan weiter machen und als er fertig war, warf er die Waffen etwa zwei Meter weiter in den Schnee. Ich folgte ihnen mit den Augen, dann sah ich Morgan finster an. Dieser beugte sich zu mir runter und zischte, unmittelbar vor meinem Gesicht: „In Ordnung, ich frage ein letztes Mal: Wer bist du und wieso verfolgst du mich?! Bidt du von der Gilde, du Ratte?!“ Kühl erwiderte ich: „Ich heiße Falcon O’Connor, stamme aus Annonce und möchte hier ein neues Leben beginnen. Das ist alles.“, dann blieb mir die Luft weg. Ich stöhnte auf, auch wenn kein Laut über meine Lippen drang, bis auf ersticktes Röcheln. Erschrocken riss ich die Augen auf und wollte mich krümmen, als die Faust mir direkt in die Magengrube schlug, doch kaum hatte ich mich vorgebeugt, riss man mich wieder hoch. Ich wand mich vor Schmerz und atmete schneller, doch schon traf mich der nächste Schlag und ich stürzte zu Boden. Wimmernd landete ich auf allen Vieren und hielt mir den Magen. „Wer bist du?!“, schrie Morgan mich an, ehe seine Stiefel begannen, mir in die Seiten zu treten. „Antworte!“, verzweifelt versuchte ich irgendwie meinen Kopf zu schützen, doch die Tritte waren so hart, dass ich mal auf die Seite, dann auf den Rücken flog. Ich wich aus, so gut es ging und mein Hirn blendete alles aus, bis auf die Messer. Ich musste zu den Messern, irgendwie. Wahrscheinlich kroch ich unbewusst zu ihnen, denn irgendwann riss man mich auf den Rücken und ich spürte den schweren Körper von Morgan auf mir. Er hatte sich breitbeinig über mich gesetzt und begann, auf mein Gesicht einzuschlagen. „Antworte!“, fuhr er mich dabei immer und immer wieder an. „Kein Mensch in Brehms hat so viele Waffen! Wer bist du?! Von der Inquisition?! Häh?!“ Vor meinen Augen begannen Punkte zu tanzen und kurz war ich nicht sicher, ob ich Flimmern sah oder Schneeflocken. Verwirrt versuchte ich meine Arme zu heben. Ich wollte mich wehren, mein Gesicht verdecken, doch scheinbar hielt der zweite Mann mich fest. Morgan packte meine Haare und schlug mir immer und immer wieder gegen den Kopf. Heißes Blut lief mir aus der Nase und dann war alles vorbei. Die Schläge hörten auf und der über mir sah keuchend und angewidert auf mich herunter. Schmerzerfüllt drehte ich den Kopf, mein Stöhnen drang aus weiter Entfernung zu mir durch und mein Gesicht fühlte sich an, als wäre es angeschwollen und voller blauer Flecke. „Ist wirklich ’n einfacher Idiot.“, stellte der andere Mann fest. Ich hatte ihn bisher noch nicht gesehen und sah nun seine Mütze. Es war der andere aus Morgans Gruppe, den ich aus dem Gasthaus kannte.. Der scheinbare Anführer der Gruppe erhob sich ebenfalls. „Scheint so.“ „Ganz schöne Sauerei.“ Ich drehte mich auf den Bauch und hustete. Kleine, rote Blutspritzer flogen vor mir in den Schnee und ich versuchte, wieder atmen zu können. Durch den Speichel wirkte es, als würde literweise Blut meinen Hals hinunter laufen und Morgans Gewicht hatte mir die Luft abgeschnürt. Panisch schlug mein Herz mir gegen den Brustkorb und ich wimmerte, bemüht nicht zusammenzubrechen. Als ich es auf alle Viere geschafft hatte, ließ ein kräftiger Tritt mich zurück krachen. Tränen schossen mir in die Augen und ich sackte zurück in den kalten, rot gesprenkelten Schnee. „Das war’s dann wohl.“, murmelte Morgan und spuckte erneut aus, direkt neben mir. Ich blieb auf der Seite liegen und rollte mich zu einem schmerzerfüllten Bündel zusammen. „Lassen wir ihn hier, der hält den Mund.“ „Bist Sicher?“, Morgans Partner deutete mit einem Nicken zu den Waffen. „Sehen edel aus. Vielleicht ernst zu nehmen. Sollen wir sie einstecken?“ „Wenn er damit umgehen könnte…“, stellte Morgan leicht spöttisch fest. „…dann würde er jetzt nicht da unten liegen, wie ein Stück Scheiße. Wir lassen sie hier, sicher geklaut. Nicht, dass wir dann Probleme kriegen. Na los, Abgang. Wie müssen zusehen, dass wir das Zeug wieder bekommen, sonst haben wir morgen ein Problem.“ „Geht klar.“, der Rothaarige kniete sich zu mir, aber ich schaffte es nicht, den Kopf zu heben, um ihn anzusehen. Hasserfüllt und voller Schmerzen starrte ich stattdessen nur auf seine braunen Stiefel. „Wir gehen jetzt. Du hast nichts gesehen und nichts gehört, kapiert?“ „Kapiert.“, flüsterte ich heiser und kaum hörbar. Von meiner Wut wie betäubt schloss ich die Augen und versuchte, die Schmerzen auszublenden. Es gelang mir aber nicht im Geringsten. Morgan nickte. „Gut. Und du bleibst in der Rum-Marie, ich behalte dich im Auge. Wenn du heute Abend weg bist…“, aber er sprach den Satz nicht zu Ende, sondern wuschelte mir wie einem alten Köter durchs Haar. „Sei einfach brav und es passiert dir schon nichts.“ Grinsend erhob er sich anschließend und ging einfach. Ich blieb gedemütigt liegen, verfluchte mich für meine Neugierde und Schwäche und lauschte den sich entfernenden Schritten. Das Knacken des Schnees erschien mir unheimlich laut und als es bereits einige Minuten verschwunden war, öffnete ich endlich die Augen. Es hatte angefangen zu schneien und ich zitterte vor Kälte. Wütend starrte ich vor mich hin und sah zu, wie die Schneeflocken vom Himmel fielen. Erst nach gut fünf Minuten dann rappelte ich mich endlich hoch. Zuerst schaffte ich es nicht aufzustehen und mir den Magen haltend sah ich mich nach meinen Messern um, dann stand ich auf und humpelte langsam zu ihnen. Noch nie in meinem Leben hatte ich mich so gedemütigt gefühlt. Morgan hatte mir mehrmals in die Bauchgegend getreten, aber auch meine Arme und Beine hatten viel abbekommen. Nicht mehr lange und sie würden von grünen und blauen Flecken nur so übersäht sein. Am schlimmsten jedoch war mein Gesicht. Egal wie oft ich schniefte, das Blut aus meiner Nase hörte nicht auf und ich spürte, dass ich mir die Wangeninnenseiten aufgebissen hatte. Schwer seufzend bückte ich mich nach den Messern. Die Griffe der Waffen waren eiskalt und ich zuckte leicht zusammen, als sie mein Bein berührten, während ich die Klingen zurück in die Halterungen schob. Dann ließ ich das Hosenbein zurück sinken und sah zum Tor. Nicht mehr lange und der Schnee würde das Blut und die Schritte verdeckt haben. Dann wäre nur noch die Wut vorhanden und diese zermürbte mich gerade. Ich sank auf die Knie und begann mir mit dem Schnee das Gesicht vom Blut zu reinigen, so gut es ging. Dann sah ich zum Himmel. Ich legte den Kopf in den Nacken und beobachtete, wie die weißen Flocken auf grauem Untergrund aus dem Zentrum heraus zu mir herunter fielen. Man sah nicht, woher sie kamen. Sie erschienen einfach als kleine Punkte oben am Himmel und stürzten mir dann entgegen. Nebenbei legte ich mir etwas Schnee an die Wange, in der Hoffnung, dies würde Schwellungen vermeiden. Ich blieb lange so und senkte den Kopf erst wieder, als mein Nasenbluten nachließ. Allmählich kam die Fähigkeit zu denken zu mir zurück. Vor welcher Gilde hatte Morgan Angst, wieso vor der Inquisition und wieso fragte er stets nur, ob ich ihn verfolgen würde? War sein Komplize etwa an keinerlei Verbrechen beteiligt? Was hatte ihr Opfer sich abnehmen lassen und an wen hat er die zwei angeblich verraten? Es fiel mir sehr schwer, aufzustehen, denn meine Knie waren taub durch die Kälte. Mit langsamen Schritten ging ich den Weg zurück, den ich gekommen war. Die Kapuze des Umhangs zog ich mir tief ins Gesicht und insgeheim wünschte ich mich zurück ins Kloster. Die Illusion, Brehms die Stadt des Friedens und des Glücks, war für die nächste Zeit erstmal nicht mehr vorhanden. Ich war entsetzlich müde und es gab nichts, was mich zum Skriptorium lockte, bis auf die Vernunft. Und so schlich ich geradezu zurück zum Laden und formulierte bereits meine Ausrede. Man hatte mich überfallen, ohne Frage und ich hatte keine Chance gehabt. Aber das passiert ja öfters bei Leuten aus anderen Städten. Kurz bevor ich dann die Ecke zu Meister Pepes Laden erreichte, blieb ich stehen und hockte mich zu einem Vorsprung in einer der Wände. Dort versteckte ich meinen Geldbeutel, so wie meine Dietriche und überschüttete alles mit Schnee. Das alles tat ich wie in Zeitlupe, denn ich war noch immer wie gelähmt von den Schlägen und dem Schreck. Einen Überfall zu überleben war eine Sache, aber danach noch genauso reich zu sein, wie vorher, eine andere. Dann schlich ich weiter. Ich hasste Morgan und ich hatte verdammtes Glück, dass er mich hatte einfach gehen lassen. Zudem plagte mich eine unbewusste Angst vor den Samaritern. Wenn Menschen wie Morgen mir so gefährlich werden konnten, was war dann mit ihnen? Vielleicht waren sie eine Horde Diebe und Verbrecher, vielleicht Mörder, vielleicht fanatische Besessene einer absurden Glaubensrichtung mit Blutopfergaben? Sollte auch nur eine dieser Sachen in ihre Beschreibung passen, war ich ein toter Mann. Ich hatte mich durch die Zeit bei Nevar wirklich gut und stark gefühlt, doch nun war mir bewusst, wie schwach ich noch immer war. Wie konnte man das ändern? Bevor ich die Ladentür zum Skriptorium öffnete, überprüfte ich noch einmal mein Gesicht. Es war an manchen Stellen angeschwollen und durch das rechte Auge konnte ich kaum noch sehen. Wenn Meister Pepe Kontakt zwischen mir und den Kunden bisher vermieden hatte, so gab es keine Zweifel, dass er es jetzt noch mehr tun würde. Die Türglocke schellte über meinem Kopf und der Geruch von alten Büchern begrüßte mich fast auf zärtliche Art und Weise. „Ich bin zurück.“, begrüßte ich heiser den alten Mann an seinem Tresen. Dieser – er las gerade – sah leicht tadelnd auf, wurde dann jedoch todernst. „Ich wurde überfallen.“, erklärte ich etwas aufgelöst, ehe er etwas fragen konnte und tatsächlich begann ich zu zittern, ohne es zu wollen. Scheinbar drang der eigentliche Schreck jetzt erst in mein Bewusstsein vor. Hilflos sah ich dem Greis entgegen. Wieso sagte er denn nichts? Dann wurde mir schwindelig und ich sackte zu Boden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)