Die Geschichte des legendären Sullivan O'Neil 2 von Izaya-kun (Zwischen Gott und Teufel) ================================================================================ Kapitel 5: Schlechte Chancen bei Meister Pepe --------------------------------------------- Als ich am Morgen erwachte, war der untere Teil meiner Beine taub. Schmerzerfüllt setzte ich mich auf und spürte, dass die Bettkante mir die ganze Zeit über in die Waden gedrückt hatte und so die Blutzufuhr stark reduziert. Ich zwang mich aufzustehen, wobei ich immer wieder einsackte und trotz Kribbeln umher zu laufen. Erst spürte ich meine Beine gar nicht, dann begannen sie zu kribbeln und zu kratzen, als wären Ameisen darin und letzten Endes taten sie nur noch weh. Ich verfluchte mich für meine Faulheit, die Laken nicht ausgebreitet und mich richtig hingelegt zu haben. Stattdessen hatte ich die ganze Nacht über meine Sachen getragen und spürte nun verschwitzte Haare in meinen Nacken. Nachdem ich wieder einigermaßen Herr meines Körpers war, öffnete ich die Fensterläden und schloss geblendet die Augen. Zwar gab es noch immer keine Sonne, da der Himmel wie seit Tagen eine Mischung aus weiß und grau war, aber der Schnee strahlte hell auf dem gegenüber liegenden Dach und dem unbenutzten Hof dazwischen. Ich öffnete die Fenster, eisige Kälte kam mir entgegen und sah hinab. Ein kleines Quadrat gepflasterter Boden war zwischen den vier Häusern, aber nirgendwo gab es einen Zugang dorthin. Man könnte höchstens durch die Fenster im Erdgeschoss hinaus klettern, um ihn zu betreten. Machte das wirklich Sinn? Ich gewöhnte mich schnell an meine neue Umgebung und bereits nach wenigen Minuten wusste ich, wo was stand. Leider gab es keinen Schrank, weswegen ich mein Gepäck unter das Bett schob und dann begann ich meiner neuen Routine bei fremden Zimmern zu folgen. Ich zog meinen Umhang aus, hing ihn über den etwas höheren Bettpfosten mit einer Kugel am Ende und hockte mich auf den Boden. Ich spürte den Windzug und mein Körper kühlte sich wieder ab, während ich begann, die Dielen abzusuchen. Die meisten waren mit zwei Nägeln je Ende befestigt, aber in einigen fehlten diese oder sie waren so locker, dass ich sie mit meinem Messer hinaus ziehen konnte. Am geeignetsten erschien mir jene Diele unter dem Nachttisch. Sie war direkt an der Wand und nur wenige Zentimeter kurz, so dass man sie problemlos anheben konnte, wenn man die Nägel löste. Nachdem ich das Holz neben mir gelegt hatte, tastete ich den Boden darunter ab. Es handelte sich um ein weißes Gestein, eine recht billige Mischung, die man mit etwas Kraft sicher heraus arbeiten könnte. Ich lauschte mit dem Ohr auf den Raum darunter, doch es war nichts zu hören. Mit großer Wahrscheinlichkeit befand sich direkt unter mit die Schenke. Kurz ging ich zur Tür, schloss sie auf und öffnete sie einen winzigen Spalt. Ich hörte Stimmen, jemand war in der Nähe des Tresens, aber durch den Fußboden waren sie nicht zu hören. Das reichte mir und so schloss ich wieder ab. Wie tief der Boden war, konnte ich nicht genau einschätzen, aber sicherlich tief genug, um eine kleine Stelle auszuheben und die Papiere so wie etwas Geld darin zu verstauen. Ich machte mich daran, mit dem Griff meines Messers das Gestein zu zerschlagen und in wenigen Stücken neben mir zu einem Haufen zu kehren. Es war eine mühselige Arbeit, denn ich wollte nicht zu laut sein und so saß ich gut eine halbe Stunde lang zusammengekauert unter dem Tisch und klopfte ohne Pause. Als ich mit meiner Arbeit fertig war musterte ich zufrieden eine winzige Kuhle, so groß, dass eine Faust hinein passte. Ich griff nach meinem Geldbeutel, legte meine Papiere und dreißig der hundert Silberlinge hinein und streute etwas von dem Steinstücken wieder darüber. Dann befestigte ich sorgfältig wieder das Holz, steckte die Nägel in ihre Löcher zurück und klopfte sie mit dem Messergriff wieder etwas fest. Keiner würde dieses Versteck so einfach finden, zumindest hoffte ich das. Den restlichen Sand ließ ich mit einem kurzen Wurf aus meinem Fenster rieseln und ich sah zu, wie er hinunter flog in den Schnee. Er war so leicht, dass er einfach auf den angestauten Massen liegen blieb und so hell, dass man ihn nicht einmal erkannte. Bei dem kleinsten Schnee, der Brehms heute auf jeden Fall noch zuteil werden würde, wäre der Dreck verschwunden. Zufrieden schloss ich die Fenster wieder und sah mich eingehend um, als hätte ich irgendetwas übersehen. Ich begann die Wände leise abzuklopfen, um Hohlräume zu finden und in der Hoffnung, vielleicht die ehemalige Öffnung eines Kamins zu finden. Die Wände waren schlicht und einfach, doch an manchen Stellen gab es neue Verkleisterungen, um Löcher und Risse zu stopfen. Aufgrund der Form des Raumes und der niedrigen Decke ging ich davon aus, dass dies vor längerer Zeit einmal eine Art Abstellkammer gewesen war. Vielleicht hatte man damals Regale in die Wände geschlagen und Teile der Wände ausgehöhlt und diese Stellen nun einfach mit Brettern wieder geschlossen. Die Hohlräume gab es also noch, man musste sie nur finden. Zu meiner Enttäuschung gab es leider nichts dergleichen. Weder eine hohl klingende Stelle, noch ein Zugang von der Decke aus zum Dachboden und auch keine ehemalige Falltür ins untere Geschoss. Es half alles nichts, für mein restliches Geld musste ich mir ein Versteck außerhalb suchen. Danach breitete ich meine Dinge auf dem Bett aus, um zu entscheiden, was ich mitnehmen sollte und was nicht. Dafür nahm ich auch sämtliche Dinge, die ich in meinen Kleidern versteckt hatte, um sie nun neu zu ordnen. Hier in Brehms war zwar alles offenherziger und freundlicher, dennoch war ich Wachen aus Annonce gewöhnt, die jemanden jederzeit zur Seite greifen und peinlichst genau kontrollieren konnten. Wenn man dann mit einem Dutzend Messern und Dietrichen vor diesen stand, half sicher die Erklärung, dass man aus Annonce kommen würde. Zumindest würden die Wachen sich dann nicht mehr über die Ausrüstung wundern, so viel war klar. Nur dass es die Situation zu verbessern, in welcher man dann war, das bezweifelte ich stark. Vor mir auf dem Bett lagen nun nicht viele Dinge, aber zumindest hatte ich mir die Mühe gemacht, sie sehr hübsch anzuordnen und zu sortieren. Ich glaube, ich gab mir nur solche Mühe, da ich mich davor drücken wollte, durch Brehms zu laufen und nach Arbeit zu fragen. Vor mir lagen nun: Ein kleiner Haufen Wäsche bestehend aus einer zweiten Hose, einem zweiten Hemd und einem schwarzen Schal – alles selbst gemacht und dementsprechend eher beschämend anzusehen. Dann noch ein kleiner, schwarzer Geldbeutel, ebenfalls eigene Handwerkskunst, gefüllt mit dreißig Silberlingen, einigen Hellern und Linsen, um es weniger klingen zu lassen, als es war. Der Beutel sah recht schief aus, da ich statt einen kreisförmiges Stück Stoff ein ovales genommen hatte und die Enden dann einfach mit einer Schnur zusammen gezurrt. Ein paar kleine Spitzen über dem Verschluss ragten nun in die Höhe und die Schnur war mit Holzperlen verziert, die ich auf Nevars Boden gefunden hatte. Der Geldbeutel wirkte wie der Spielsack eines Kindes, es fehlten nur noch die Murmeln darin und ein par schöne Stickmuster. Am Grund war eine runde Holzplatte, die ich mühsam festgenäht hatte und darunter gab es einen halbleeren Beutel mit Metallstückchen und kleinen Kieseln. Sollte jemand auf die Idee kommen, den Geldbeutel aufzuschneiden, würde kein Geld hinaus fallen, sondern nur Müll und Steine. Daneben lagen zwei Messer, ganz und gar silberfarben, mit breiten Griffen, wie winzige Schwerter. In den Klingen hatten sie je ein kreisförmigen Loch, auch wenn ich nicht wusste, wofür eigentlich. Neben diesen lagen drei Dolche, alle gleich lang, spitz zulaufend und mit schwarzen Griffen. Sie wirkten sehr edel und waren mein ganzer Stolz. Ich hatte sie von Nevar bekommen und sie waren so scharf, dass ich es peinlichst mied, nicht an ihre Klingen zu kommen. Ich hatte für ihre Klingen kleine Ledertaschen angefertigt, damit ich sie tragen konnte, ohne mich zu schneiden. Zwischen den beiden befand sich das rostige Messer, das ich im Tollhaus gestohlen hatte. Es handelte sich nur um ein normales Küchenmesser mit kaputtem Holzgriff und die Klinge war bereits braun gepunktet und an manchen Teilen angebrochen. Ich hatte es nicht los gelassen, hatte Nevar mir erzählt, trotz Ohnmacht und nun hatte ich es behalten, als Andenken an diesen chaotischen Tag und mein negatives Erlebnis mit Mary-Ann. Daneben lagen Stücke gebogenes Metall, die wahrscheinlich einzigen Werkzeuge, mit welchem ich wirklich umgehen konnte: Meine Dietriche. Fünf Stück in verschiedenen Größen. Ich hatte ihre Enden zu Schlaufen gebogen und sie mit einem Ring zusammen gefädelt, so dass sie aussahen wie ein Schlüsselbund. Außerdem lagen auf dem Bett mein hartes Stück Brot, eine kleine, schwarze Bibel – die ich aber noch kein einziges Mal aufgeschlagen hatte und die eher als Zeichen meiner Unschuld und meiner Gläubigkeit für uneingeladene Gäste galt – und ein Rosenkranz. Diesen hatte ich um die Bibel gewickelt, ein recht schöner Anblick. Der Rosenkranz war aus schwarzen Holzperlen und auch das Kreuz selbst war ein Werk aus Holz mit einem aus Metall befestigten Jesu. Man konnte ihn nicht wirklich erkennen und er besaß kaum Details, aber ich sollte schließlich aus ärmlichen Verhältnissen stammen und dafür erschien mir dieser angebracht. Ansonsten besaß ich nur noch meinen Umhang, der recht schmucklos am Pfosten hing. Da mir für einen so edel aussehenden Verschluss, wie Nevar ihn hatte, Geld und Mittel fehlten, hatte ich für meinen lediglich zwei Schnüre benutzt. Mein letzter Besitz war etwas sehr Besonderes und vielleicht auch etwas Kindisches. Ich hatte die Erbse, die ich in der Vorratskammer des Tollhauses aus einem Schreck heraus in die Hosentasche gesteckt hatte, ebenfalls aufgehoben. Nun trug ich sie stets bei mir und manchmal, wenn ich nachdachte, ertappte ich mich selbst dabei, wie ich an meine Hosentasche fasste und nachsah, ob ich sie noch immer besaß. Nach einigem Hin und Her beschloss ich, ein par der Geldmünzen in meine Stiefel zu tun, genauso wie zwei der Dolche, pro Stiefel einen Dolch. Man konnte sie von Außen nicht sehen, aber sie waren stets griffbereit für eventuelle Verteidigungen. Die Lederhüllen befestigte ich mit einer kleiner Schnur im Innern, so dass ich diese nicht mit hinaus zog, sondern nur die Klinge. Eines der Messer befestigte ich an meinem Gürtel, das andere zusammen mit dem dritten Dolch ließ ich zurück. Ich band die Waffen in meinem Schal zusammen, den ich nur für eventuelle Vermummungen besaß und verstaute alles wieder im Sack, zusammen mit der anderen Wäsche. Den Geldbeutel band ich mir ebenfalls an den Gürtel, direkt über dem linken Oberschenkel. Zwar spürte ich ihn nun nervend bei jedem Schritt, aber so konnte niemand ihn mir ungewollt entwenden. Ich befestigte ihn mit mehrfachen Knoten, denn auch in Brehms gab es ohne Frage Taschendiebe. Reisende und Fremde wie ich waren meist die beliebteste Beute und ich wollte auf keinen Fall meinen Neuanfang aufgeben müssen, weil ich von einem kleinen Kind bestohlen worden war. Die heilige Schrift und den Rosenkranz tat ich ins Schubfach des Nachttisches, die Dietriche band ich unter meinem Hemd fest. Ich würde sie irgendwo verstecken müssen, aber nicht hier. Papiere in ein Geheimversteck zu legen war eine Sache und bewirkte nur wenig Misstrauen, aber ein Haufen Einbruchswerkzeug daneben könnte für ungewollte Missverständnisse sorgen – die im schlimmsten Fall vielleicht gar keine Missverständnisse waren. Nur einen, meinen Favoriten, steckte ich in meinen Stiefel. Dafür hatte ich extra ein Loch in den hinteren Teil geschnitten, so dass ich ihn in die Sohle stecken konnte. Nachdem alles von meinem Bett verschwunden war, breitete ich die Laken in aller Ruhe aus und rollte mich anschließend ein paar Mal hin und her. Ich hinterließ Falten, meinen Geruch, ein paar Haare und vielleicht sogar Schuppen. Eventuell übertrieb ich, aber die Angst vor Fehlern war größer, als meine Sicherheit, dass niemand mir etwas Böses wollte. Ich benutzte vorsätzlich den Nachttopf, stellte ihn unter das Bett und nickte dann zufrieden. Nun war ich bereit mein Glück in Brehms zu versuchen. Ich ging wie jeder andere Mieter auch als erstes zum Tresen um Bescheid zu geben, dass ich nicht mehr da war. Die Wirtin brummte nur und erinnerte mich daran, dass ich noch zahlen musste, dieser Bitte ging ich sofort nach. Einige Gäste hatten sich eingefunden, aber keiner nahm Notiz von mir und die meisten schienen Personen aus dem Haus zu sein. Und so verließ ich das Gebäude, ohne dass es jemanden wirklich interessiert hätte. Die Verlockung war groß, als erstes durch die Stadt zu laufen und mir die verschiedenen Gebäude und Figuren anzusehen, vielleicht sogar über die eine oder andere etwas herauszufinden, doch die Arbeit ging vor. Sollte ich keine finden, war ich bereits nach einer Woche auf die Gilde angewiesen und sicherlich würde ich Brehms dann vorerst gar nicht mehr genießen können. Ich wusste nicht, wo ich mit meiner Suche anfangen sollte. Bis auf Schenken und Gasthäuser hatte ich noch keine Läden gefunden und dort wollte ich als letztes anfragen. Kellnern, kochen oder schälen konnte ich überall, aber ich wollte etwas Ernsthaftes machen. Ich wollte ein Handwerk lernen, von dem ich noch Jahre leben konnte, ohne mir Sorgen machen zu müssen. Schmied, Bäcker, Schreiner oder Schuster. Ich weiß nicht, durch wie viele Gassen ich lief, bis ich die Handwerksstraße gefunden hatte, aber als diese sich dann endlich vor mir aufbaute, war ich müde, durchfroren und kaputt. Meine Beine schmerzten und mehrmals war ich beinahe gestürzt. Nirgendwo konnte ich mich hinsetzen und etwas ausruhen, denn alles war zugeschneit und kalt. Das einzig Gute war, dass durch den vielen Schnee kaum einer aus dem Haus ging. Niemand wollte unnötig viel laufen, alle hielten sich an die Marktplätze und die Gassen waren fast totenstill. Ich hatte Zeit, mir die vielen Gebäude anzusehen und die Verzierungen und Zeichnungen an manchen der Wände. So fand ich nicht nur weitere Gasthäuser, sondern auch jede Menge andere Geschäfte. In vielen fragte ich um Arbeit und ebenso viele scheuchten mich hinaus. Ich fragte bei Schustern, Schneidern, Bäckereien, Schmieden, Glockengießereien, Metzgern und anderem. Niemand hatte Interesse an einer Arbeitskraft ohne Vorkenntnisse und einer Herkunft wie Annonce. Es war zum Verzweifeln und ich musste irgendwann ein paar meiner Münzen für etwas zu Essen ausgeben, so erschöpft war ich. Erst zum Nachmittag hin lichtete sich für mich etwas der Himmel, denn ich entdeckte eine kleine Schreibstube. Sie war schon sehr alt, der Putz an den Wänden blätterte hinunter und die Aufschrift auf dem Aushängeschild in Form eines Buches konnte man kaum noch lesen: Pepes Skriptorium Ich hatte sie durch Zufall entdeckt, während ich etwas zerknirscht den Heimweg hatte antreten wollen. Hätte ich mich nicht verlaufen, hätte ich sie wahrscheinlich nicht gesehen. Die riesige Fensterscheibe war beschlagen und die Treppe hinein vereist, dennoch beschloss ich, dort als nächstes anzufragen. Schon im Kloster hatte mir das Lesen in Büchern Spaß gemacht, also wieso nicht auch hier, außerhalb der Mauern? Als ich die Tür aufschob, klingelte laut die Türglocke direkt über mir und der Geruch von altem Papier, Tinte und Staub kam mir entgegen. Es war äußerst warm im Innern und ich beschloss zu bleiben, auch wenn man mich weg schickte. Alles erinnerte mich an die Bibliothek des Klosters: Die überfüllten, die Bücherstapel in den Ecken, die Kisten voller Papiere und die aufgereihten Tintenfässer in allen Farben, zudem Schreibfedern der verschiedensten Größen. Direkt neben dem Eingang stand ein hoher Tisch, sicherlich für den Ladenbesitzer eine Art Tresenersatz und geradezu führte eine Türöffnung in einen weiteren Raum. Das Zimmer war so klein, dass es völlig übersichtlich war. Es gab eine Leiter, die man an den Regalen entlang schieben konnte, die bis zur Decke gingen und sogar über dem Türrahmen führten noch zwei Etagen lang mit Büchern in allen erdenklichen Farben. Zögernd rief ich: „Hallo?“, doch da mir keiner antwortete, klopfte ich meine Schuhe auf den Stufen vom Schnee ab und schloss die Tür. Es war absolut Still, doch beim genaueren Lauschen hörte ich leises Gemurmel eines alten Mannes. Wenn der Ladenbesitzer nicht zu mir kam, dann ging ich eben zu ihm. Ich trat in den nächsten Raum und sah mich um. Dieses Zimmer stellte die Schreibstube dar, denn es gab drei kleine Pulte mit Hockern auf denen leere Papiere lagen, Tinte stand und eine Feder. Daneben war ein Glas mit Sand, zum Trocknen der Farbe und ein Eimer, in den man den Dreck dann schütten konnte. Auch hier waren Regale über Regale, verstaubt und überfüllt mit Pergamenten. Ich fragte mich, was man mit so viel Papier machte in einer Gesellschaft, die doch kaum lesen konnte. Zögernd fragte ich erneut: „Hallo? Ist jemand da?“ Das Geräusch des Redens kam aus dem dritten Raum, den man durch eine mit rotem Stoff verhüllte Tür direkt neben der anderen betreten konnte. Alle drei Türen waren dicht nebeneinander und mir wurde klar, warum nur noch die Türrahmen an sich existierten. Hätte man die Türen in ihren Halterungen gelassen, wären sie andauernd zusammengeknallt. Im dritten Raum, dem scheinbaren Lager, war es heller. Hier gab es wieder Fenster, zwei Stück an der Zahl, die den Raum sanft beleuchteten und alles noch älter wirken ließen, als ohnehin schon. An den Wänden waren Kartons über Kartons gestapelt, teilweise so voller Staub, dass sie schneeweiß waren. Die Flusen tanzten im Licht und es wirkte, als stünde ich direkt in einem Feen-Nest. Ein alter Mann hockte auf dem Boden und kramte mit dem Rücken zu mir Papiere aus einer der Kisten heraus, wobei er alles, was er scheinbar nicht gesucht hatte, wild herum warf. Ein riesiges Chaos aus Papier, Pergamenten, Buchbänden, Federn, leeren Fässern und Leseschnüren schien das Zimmer zu verschlucken. Er fluchte dabei und murmelte immer wieder: „Wo habe ich es denn?! Wo denn nur?! Das darf doch alles nicht wahr sein!“ Ich klopfte gegen den Türrahmen, um ihn auf mich aufmerksam zu machen, doch die einzige Reaktion war: „Ja, doch, ich habe Euch doch längst gehört, nun gebt doch endlich mal Ruhe! Seht Ihr denn nicht, dass ich beschäftigt bin?!“, und dabei drehte er sich nicht einmal herum. Mir blieb nichts anderes übrig, als zu warten und so sah ich ihm zu. Der Alte war weitaus kleiner als ich, wenn er stand, ging er mir wohl gerade mal bis zur Schulter. Durch seine braune Kleidung mit der beigefarbenen Schürze darüber, die bis zum Boden ging, hatte er etwas Niedliches an sich. Er hatte krauses, schneeweißes und sehr dichtes Haar, jedoch zog sich eine Glatze von seiner Stirn an bis nach hinten in den Nacken und teilte seine Haarpracht in zwei Teile. Ich stellte mir vor, wie er aussehen würde, wenn ich seine Haare grün anmalte und Sand auf seine Glatze streute. Ohne Frage hatte es dann Ähnlichkeit mit einem Kiesweg zwischen Wald und Büschen. Irgendwann dann fluchte er erneut, warf die Pergamente wütend in die Kiste und stand auf. So stemmte die Arme in die Hüften und ließ seine Blicke kreisen. „Wo bist du nur?“, flüsterte er dabei gedankenverloren. „Wo?“ Wenn ich gedacht hatte, nun würde er endlich Zeit für mich haben, dann hatte ich mich geirrt. Der Greis kaute einige Zeit nachdenklich auf seiner Unterlippe herum, dann holte er den nächsten Karton aus dem Wandregal und machte sich daran, auch ihn quer über dem Boden zu verteilen. Ich ließ ihn suchen, etwa drei Minuten, doch dann wurde es mir zu langweilig. Ich wollte mit ihm sprechen und nicht lernen, wie man Unordnung machte. Also fragte ich leise: „Meister, was sucht Ihr denn?“ „Eine Schriftprobe.“, brummte er wie selbstverständlich. „Aus Verona. Ich weiß, dass sie hier ist. Irgendwo muss sie sein.“, der alte Mann hatte in einem Stapel geblättert, nun griff er ihn und ließ ihn achtlos neben sich auf den Boden fallen. Erst klatschte es donnernd, dann rutschten die oberen Blätter nach unten, wie bei einer Treppe für winzig kleine Leute. „Und woran erkennt man so eine Schriftprobe?“, wollte ich wissen. Er hielt inne und sah mich an, wie einen Idioten. Das erste Mal sah ich sein Gesicht. Er hatte strenge Augen und tiefe Falten auf der Stirn und um den Mund herum, seine Wangen hingen etwas herunter aber trotzdem sah man seine Wangenknochen. Er war sehr dünn und das erkannte man an seinem Gesicht sofort. Buschige Augenbrauen, die widerspenstig in alle Richtungen zeigten, eine lange, gebogene Nase und seine Haare standen nach rechts und links ab. Auf seine Nasenspitze war eine kleine Halbmondbrille gerutscht, die im rechten Glas bereits einen Sprung hatte und die Augen hinter dem Glas wirkten größer und verzerrt. Auf mich wirkte er wie ein verrückter Quacksalber oder aber ein nettes altes Großväterchen, der böser wirken wollte, als es war. „Daran, dass darüber steht: „Schriftprobe Verona natürlich.“ Und das war alles, was er sagte. Schon verschwand sein Oberkörper wieder in der Holzkiste. Ich sah ihm eine Zeit lang zu, dann begann ich ein wenig im Zimmer umher zu schlendern. Ich sah Blätter mit Schriftproben aus dem gesamten Land: St. Katherine, Esas, Norian und anderen, mir völlig unbekannten Städten. Und dann sah ich ein ganz bestimmtes Blatt, auf welchem groß und lesbar stand: …rona. Es lag unter einem Karton, so dass die linke Hälfte verdeckt war, aber darunter erkannte ich das Alphabet in Großbuchstaben mit bunten Verzierungen. Manche waren mit Ranken versehen, andere voller Blumen und wieder andere hatten einfach nur schwarze Linien und Muster. Ich hievte den Karton hoch und las es ganz: Schriftprobe Verona A B C D E F G H I J … Zufrieden nickend ging ich zum alten Mann und hielt es ihm vor die Nase. Es dauerte, bis er es überhaupt registrierte, doch irgendwann hob er den Kopf und starrte es an. Unschuldig fragte ich: „Ist es das, was Ihr sucht, Meister?“ Er schob seine Brille nach oben und kniff die Augen zusammen, ehe er es mir abnahm und genaustens musterte. Währenddessen stand der Alte auf und murmelte unzusammenhängendes Zeug. Ich folgte ihm hinaus, denn ja, er ging einfach und fand mich letzten Endes im ersten Raum wieder. Dort ging er hinter seinen provisorischen Tresen, legte das Pergament zur Seite und lächelte mir entgegen. Als wäre ich gerade erst hinein gekommen fragte er: „Bitte, wie kann ich dem Herrn behilflich sein?“ Er ist ein wenig verrückt., dachte ich. Aber Verrückte sind mir sympathisch. Und scheinbar ziehe ich sie sowieso an, ausweichen bringt also nichts. „Mein Name ist Facon O’Connor.“, stellte ich mich vor und lächelte ihm freundlich entgegen, um meine Gedanken möglichst nicht zu zeigen. „Ich bin neu hier in Brehms und möchte ein Jahr lang bleiben. Jedoch brauche ich dafür Arbeit. Und da ich-…“ „So, so, neu hier.“, unterbrach er mich. Der Alte Mann hatte den Mund leicht geöffnet und musste sich anstrengen über seine Gläser hinweg zu schauen. Mal sah er mich an, dann meine Kleidung und dann wieder mich. „Und woher kommt Ihr, wenn ich fragen darf?“ „Aus Annonce. Und-…“ „Annonce?“, er rümpfte die Nase. „So, so. Schöne Stadt. Wenn man sie von weitem sieht, jedenfalls. Von sehr weitem.“ Es machte mich etwas aggressiv, dass er mich nicht einmal aussprechen ließ, zudem hatte ich mir vorgenommen, hartnäckiger zu werden. Mit diesem Grundsatz fuhr ich einfach fort, etwas dreist vielleicht: „Und da ich bereits im Kloster in der Bibliothek gearbeitet habe-…“ „Im Kloster?“, unterbrach mich der Greis abermals und nun schob er seine Brille wieder hinauf. Er schien mich nun besser zu erkennen, denn er zog die Augenbrauen erstaunt hoch und begann mich mit dem Bild ohne Brille zu vergleichen. Während er die Brille auf und ab schob erklärte er mir: „Das Skriptorium des Klosters ist im Kloster und nicht hier mitten auf der Straße, junger Mann, da habt Ihr Euch ein wenig vertan. Aber das macht nichts, Ihr seid ja nicht von hier. Und man kann sich ja mal vertun.“ „Aber ich möchte ja auch gar nicht dahin.“, versuchte ich zu erklären. „Hätte mich auch gewundert.“, gab er etwas amüsiert zu und grinste. „Denn wir haben kein Kloster hier in Brehms. Nur außerhalb, aber das ist eigentlich nur eine alte Burg. Seit dem Krieg nennen sie das Kloster, ist aber Unsinn. Solltet Ihr Euch nicht von verwirren lassen, junger Mann, denn Ihr scheint ja doch sehr verwirrt zu sein.“ „Ich bin nicht verwirrt.“, sagte ich ernst. „Ich versuche nur auszusprechen.“ „Sprecht Euch aus, aber eilt Euch, ich habe zu tun, wie Ihr seht.“ Er begann demonstrativ in einem der Bücher herum zu blättern und mit einer Schreibfeder manche der Stellen zu unterstreichen. Dabei lehnte er sich mit dem Ellenbogen auf den Pult, eine sehr unhöfliche Haltung wie ich fand. Ich verdrehte innerlich die Augen und setzte meinen Text fort: „Jedenfalls, was ich eigentlich sagen wollte, war: Ich suche Arbeit. Hier, in dieser Schreibstube.“ „Skriptorium, wenn ich bitten darf. Dies ist kein Ort für Pöbel, sondern ein Platz des Wissens und des Intellekts.“, nun sah er mich über seine Brillengläser hinweg an. Ich erkannte, dass die Tinte das Blatt stückweise zu tränken begann, sagte aber kein Wort dazu. „Skriptorium.“, verbesserte ich mich stattdessen entschuldigend. Er starrte mich noch eine Zeit an, dann blätterte er einfach um und fuhr mit seiner Arbeit fort. Ich blieb unschlüssig stehen und sah zu, in der Hoffnung, der Mann würde noch irgendetwas sagen, aber er sagte nichts. Draußen begann ein Glockenspiel und läutete den Nachmittag ein. Nicht mehr lange, dann würde es dunkel werden und mir war nicht einmal ein Sonnenuntergang gegönnt, aufgrund der vielen Wolken. Irgendwann fragte er, ohne aufzusehen: „Lehre?“, ich war nicht sicher, ob er mich meinte und starrte ihn nur an. Er erwiderte meinen Blick wieder über die Brille hinweg und fragte erneut, etwas lauter: „Lehre?“ „Lehre, Herr?“ „Was habt Ihr für eine Lehre, Holzkopf! Sied Ihr Skriptor? Illustrator? Rubrikator?“ Ich stockte, dann schüttelte ich den Kopf. „Nichts dergleichen, Herr.“ Der alte Mann schien ungläubig und er richtete sich auf. „Was seid Ihr dann? Protokollant? Chronist? Urkundenverfasser?“ „Nein, Herr.“, gab ich beschämt zu und ich spürte, wie meine Wangen heiß wurden. Er schlug das Buch zu und zog die Stirn kraus. „Ihr wollt mir doch nicht weismachen, dass Ihr Literar seid?“ „Nein, nein. Ich komme aus dem Kloster, Herr. Ich war angehender Kopist, also-…“ „…- Bibelkopierer.“, als ich nickte, starrte er mich schweigend an, dann fuhr er seine Arbeit fort und murmelte dabei: „Ich habe keine freien Stellen zur Zeit. Kommt nächsten Winter wieder, Kopisten brauche ich nicht. Ich brauche jemanden, der etwas kann. Einen Schreiber-Illustrator zum Beispiel. Nicht jemanden, der nur schreiben kann, schreiben und noch mal schreiben. Ich brauche jemanden mit Talent. Jemand, der eine Seite auch alleine schafft, ohne Rahmung.“ „Aber das ist ja ein ganzes Jahr!“, sagte ich schockiert. Er antwortete nicht, sondern blätterte nur um und ließ mich stehen. Das Gespräch war für ihn beendet und ich stand da, als würde ich gar nicht existieren. Mit jeder Sekunde spürte ich, wie ich wütender wurde und ich begann mich zu schämen. Ich hatte das Gefühl, er würde mich auslachen, auch wenn es nicht so war. Dieser Mann brauchte nicht jemanden, der nur Texte gut abschreiben konnte, sondern jemanden, der zugleich Verzierungen Zustande brachte und Diktaten folgen konnte. Beides hatte ich nie gelernt, aber ich war mir sicher, dass ich es mit genug Übung schaffen könnte. Ich hatte oft den Illustratoren des Klosters zugesehen oder Bücher sortiert, während Skriptoren vorgelesene Werke mitschrieben. Warum sollte ich das nicht auch können?! Wenn ich eine Vorlage hatte, war ich sicherlich durchaus in der Lage zu, sie nachzuzeichnen. Vielleicht nicht eins zu eins, aber mit genug Versuchen klappte es ganz sicher! Doch egal wie lange ich vor dem alten Mann stand, für ihn war ich nicht mehr da. Weder sah er auf, noch nahm er irgendeine Notiz von mir. Gereizt verließ ich den Raum und ging nach nebenan. Ich dachte nicht nach, ob es ein Fehler wäre oder vielleicht gar verboten, sondern langte nach einem beliebigen Buch, setzte mich an den Pult, griff mir ein Blatt, eine Gänsekielfeder und Gallustinte. Es war schwer das Fass zu öffnen und etwas getrocknetes, schwarzes Puder rieselte auf das Blatt, doch ich pustete es hinunter und begann zu zeichnen. Ich hatte schon lange keine Feder mehr in der Hand gehabt und meine Hand verkrampfte sich etwas, so dass ich zu zittern begann, dennoch wurden die ersten Linien gerade und sauber. Ich zeichnete den Buchstaben A, den ich aus dem Buch ablas, verziert mit dünnen Schnörkeln, die Tropfenähnlich endeten. Dabei musste ich aufpassen, dass ich nicht zulange das Blatt berührte, denn sonst sog sich die schwarze Farbe in das Pergament hinein und zwischen den Strichen waren keine Abstände mehr. Zehn mal zeichnete ich den Buchstaben immer und immer wieder und mit jedem Mal wurde ich ruhiger. Die Konzentration verdrängte mein Ärgernis und mein Zorn verschwand irgendwann. Und umso ruhiger ich wurde, desto besser wurden die Ergebnisse. Bei dem achten Buchstaben spürte ich, dass der alte Mann hinter mir stand, er beobachtete mich. Ich gab mir nur umso mehr mühe. Nachdem ich fertig war ließ ich die Feder fallen und massierte mir das Handgelenk. Es schmerzte vor Anstrengung, da ich mich zu sehr verkrampft hatte, aber ich war zufrieden. „Nun.“, brummte er leise hinter mir. „Ich denke, wenn ich vorzeichne, wird es schon gehen.“ „Also bin ich angenommen?“, ungläubig drehte ich mich herum und sah ihn an, doch er trottete bereits wieder hinaus zum Eingang. Er ging gebeugt mit im Rücken verschränkten Armen, an seinem Rücken war eine kleine Schnalle. Währenddessen rief er mir zu: „Aber nur, bis ich Ersatz gefunden habe! Ich habe meine zwei Arbeitskräfte verloren, gute Kerle waren das. Aber wenn ich neue finde, dann war das Euer letzter Tag.“ Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen und nickte. „Verstanden. Vielen Dank, Meister.“ „Ja, ja.“, abwesend blätterte er wieder in seinem Buch herum und unterstrich einige Stellen, die nicht wie gewollt geworden waren. „Wie sagtet Ihr, wäre Euer Name?“ „Falcon, Meister.“, rief ich ihm zu. „Falcon O’Connor.“ „Gut, Falcon.“, er sah mich kurz an. Ich saß noch immer auf dem Pult und schaute ihm über die Lehne hinweg entgegen. Als mir auffiel, dass dies vielleicht unangebracht war, stand ich auf und stellte mich aufrecht hin. „Ich schlage vor, Ihr fangt heute hier an und zeigt mir, was Ihr schon könnt. Als erstes bringt Ihr die Dinge weg, die Ihr hier angerührt habt. Und zwar dorthin, wo sie hingehören. Ordnung ist das halbe Leben, junger Mann, das halbe Leben.“, und während ich mich bereits daran machte, meine Aufgabe zu erfüllen und das Tintenfass sorgfältig verschloss, fuhr er murmelnd fort: „Und dann machen wir zwei uns daran, das Lager aufzuräumen und die Fässer zu sortieren. Da habe ich doch tatsächlich Dornentinte, statt Russtinte in der Hand gehabt. Das ist unakzeptabel, absolut unakzeptabel.“, er schüttelte dabei den Kopf und versank wieder in seiner eigenen Arbeit. Ich war währenddessen auch in meiner eigenen Welt. In meinem Kopf war ich voller stolz und Ehrgeiz, denn ich hatte es scheinbar endlich geschafft eine Arbeit zu finden und wollte sie auf keinen Fall wieder verlieren. Nachdem ich alles weg geräumt hatte, ging ich ins Lager und begann aufzuräumen und zwar ohne den alten Mann. Ich wollte ihm zeigen, wie fleißig ich war und davon überzeugen, dass ich all diese Arbeit auch ohne Lehre verrichten konnte, sogar alle Arbeiten vereint. Ich beschloss, wenn er mich nach Hause schickte, einen Laden zu suchen, um mir Schreibmaterial zu kaufen und in meinem Zimmer zu üben, bis mir die Hände bluteten. Stück für Stück nahm das Lager neue Gestalten an und binnen vier Stunden begann ich ein völlig neues System zu entwickeln. Ich kippte die Kartons stückweise aus und sortiere die Inhalte nach Dokumentenarten: In den ersten Karton kamen Schriftproben A-E, in den zweiten F-K und in den dritten L-P und so weiter. In andere Kisten tat ich jene Dokumente, die amtlich waren und mit Siegel der Rathäuser, Inquisition oder anderen, wichtigen Anlaufstellen. Sämtliche Blätter, die noch völlig leer waren, ordnete ich nach Papyrus, Pergament oder Papier und verschmierte, kaputte und verdreckte Blätter legte ich auf einen extra Stapel. Mehrmals stand er in der Tür, beobachtete mich eine Weile und verließ den Raum dann wieder. Dabei schüttelte er den Kopf und murmelte vor sich hin. Ich hörte, wie er die Ladentür irgendwann abschloss, da der Arbeitstag vorbei war und sah, wie er sich an einen der Pulte saß, um zu lesen. Ich war froh, dass er mich nicht hinausjagte, denn auch wenn ich müde war – ich hatte nichts gegessen, bis auf etwas Brot – so wollte ich dennoch nicht gehen, um ihm mein vollendetes Ergebnis zu zeigen. Als ich dann endlich aufstand und mein Werk musterte, war das Lager komplett aufgeräumt und entstaubt. Es herrschte so starke Ordnung, dass man das Gefühl hatte, man befände sich in einem völlig neuen Raum. Ich warf mir den Umhang über und ging nach nebenan, dort erkundete ich mich freundlich: „Wann soll ich morgen hier sein, Meister?“ Ich weckte den alten Mann, denn er war beim Lesen eingeschlafen. Verwirrt schreckte er hoch und war im ersten Moment einfach nur irritiert. Es dauerte, bis er auf die Idee kam, sich die Brille aufzusetzen, um mich zu erkennen. Nach einigem Blinzeln und dem Anheben der Kerze dämmerte es ihm dann, was ich von ihm wollte. Verschlafen brummte er: „Wenn die dicke Bertha sieben schlägt, Junger Mann.“ „Aye.“, ich verbeugte mich etwas und wünschte ihm eine gute Nacht. Als ich nach draußen trat war es bereits stockdunkel und ich wusste, ich würde den Weg nicht so schnell finden, wie es mir lieb wäre. Der Schreibstubenmeister schloss hinter mir die Tür ab und die Kälte der Nacht wirbelte mir entgegen. Ich hatte nur eines meiner Hemden angezogen und der Umhang blähte sich durch die starken Windzüge auf. Ich zog ihn dicht um mich und stapfte durch die Schneemassen nach Hause. Weiße Flocken rieselten herunter und das Pfeifen der Luftströme durch die Gassen kündigte einen Schneesturm an. Vor meinen inneren Augen tanzten Buchstaben und Zahlen, doch ich war fröhlich und guter Dinge. Ich hatte Arbeit und ich hatte ein warmes Bett, das ich nun nur noch finden brauchte. Ich hatte es geschafft. Ich war frei und rechtschaffen, so, wie ich es mir immer gewünscht hatte. Ich würde noch vor sieben Uhr vor der Ladentür stehen und vielleicht sogar zuvor in einen der Läden gehen können, um mir Tinte zu kaufen und etwas Papier. Ich würde diesen Mann nicht enttäuschen und er würde seine Drohung, mich bei der erstbesten Gelegenheit raus zu werfen, zurücknehmen. Er würde sogar betteln, dass ich doch weiter für ihn arbeiten würde! Aber zuerst musste ich den Weg nach Hause finden – Irgendwie. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)