Another Side, Another Story von _Kima_ (The Traitor's Tale) ================================================================================ Kapitel 29: Der edle und altehrwürdige Bund von Jowston ------------------------------------------------------- A/N: Ungebetat! Der Tumult im Ratssaal erstarb sofort und Ruhe kehrte ein. Jowys Blick wanderte von einem Gesicht der versammelten Staatsoberhäupter zum anderen, dann stand Jess auf und sagte, gut hörbar in der Stille: „Die Highland-Armee hat sich an unserer Nordgrenze versammelt. Sie haben nur Proviant für etwa eine Woche dabei und wir glauben, dass sie bald angreifen werden.“ Makai räusperte sich und entgegnete: „Einen Moment mal. Ich dachte, die Bedingungen des Friedensvertrags würden noch gelten?“ „Die Highland-Armee ist bereits in den östlichen Teil des Fürstentums Muse eingefallen und hat dort zahlreiche Dörfer niedergebrannt. Ich glaube nicht, dass das noch innerhalb der Bedingungen des Vertrags liegt“, antwortete Jess kühl. „Haben die Highlander dazu nicht gesagt, es handele sich um einen Angriff von Bergbanditen?“, meldete sich Gorudo unbeeindruckt zu Wort. „Solche Vorfälle passieren doch ständig in dieser Gegend.“ Neben Jowy ballte Viktor die Hand zur Faust und knurrte unterdrückt, sagte jedoch nichts. „Lord Gorudo, Ihr glaubt doch nicht wirklich, dass Viktors Söldner von einem Haufen Bergbanditen in die Flucht geschlagen worden sind?“, wandte Granmeyer ruhig ein. Gorudo warf ihm einen düsteren Blick zu und schnappte: „Es sind Söldner! Wer weiß, wo ihre Loyalität liegt!“ Viktor zuckte zusammen, doch Fliks Hand, die sich urplötzlich auf den Unterarm des Bären legte, schien ihn zu beruhigen – zumindest so weit, dass er nicht nach vorne stürmte und Gorudo womöglich noch erwürgte. Hauser schüttelte den Kopf und erwiderte: „Ihr könnt nicht abstreiten, dass ein Aufgebot von Highlandern an unseren Grenzen aufmarschiert ist. Das ist ein Fakt und eine ernstzunehmende Bedrohung für die Stadt-Staaten.“ Gustav neben ihm schnaubte, verschränkte die Arme vor der Brust und rief: „Die Highland-Armee ist schon früher an unseren Grenzen erschienen und sie haben noch nie zuvor angegriffen. Warum sollte es diesmal anders sein?“ „Weil der Befehlshaber der Armee von Highland gewechselt hat“, sagte Teresa ernst. „Wir haben es nicht mehr mit Agares Blight zu tun, sondern mit seinem Sohn Luca. Deshalb stehen die Dinge diesmal anders.“ „Oh?“, machte Gorudo und sah die junge Frau von der Seite an. „Deine Reissteuern kannst du seit drei Jahren nicht bezahlen, aber dein Mundwerk funktioniert ja noch wunderbar, wie ich sehe.“ „Wie könnt Ihr es wagen?!“, zischte Teresa wütend und Jowy glaubte fast, die Blitze zu sehen, die aus ihren Augen schossen. Auf den Rängen explodierte das bisher verhaltene Getuschel zu ein paar empörten Aufschreien, die höchstwahrscheinlich von Städtern aus Greenhill stammten. Teresas Leibwächter legte eine Hand auf das Heft seines riesigen Schwerts, doch obwohl er vor Wut deutlich zitterte, zog er es nicht. Ein Raunen ging durch die Menge, das immer lauter wurde, bis Jess rief: „Ruhe!“ Widerwillig fügte sich die Menge dem Befehl, dann sagte Gorudo, als sei nichts gewesen: „Ich denke, dass es genau so ist, wie Lord Gustav gesagt hat. Beim ersten Anzeichen eines Kampfes werden die Highlander bereits laufen!“ Er schnaubte abfällig. „Ich jedenfalls werde meine Ritter wegen einer solchen Lappalie nicht einberufen!“ Seine Ritter – namentlich Miklotov und Camus – sahen nicht so aus, als wären sie mit dieser Entscheidung besonders glücklich, doch keiner von ihnen sagte auch nur ein Wort. Irgendwie hatte Jowy das Gefühl, dass das wohl auch besser so für sie war… „Was für ein altes Ekel!“, murrte Nanami zu seiner anderen Seite und schnaufte. „Und so was nennt sich Ritter!“ Wieder brach die Zuschauermenge in Getöse aus, sodass Jess sie zur Ordnung rufen musste. Diesmal dauerte es länger, bis Ruhe einkehrte – offensichtlich machte sich der Befehlshaber der Matilda-Ritter nicht unbedingt Freunde. „Auch die Menschen von Two River sind von den vielen Kämpfen müde… Was, wenn es wirklich nur falscher Alarm ist?“, seufzte Makai, nachdem er den Rängen einen schnellen Blick zugeworfen hatte. Er erntete dafür ein paar zustimmende Ausrufe, doch Teresa sprang auf und rief: „Das kann doch nicht Euer Ernst sein! Ihr habt doch genau die gleichen Berichte erhalten wie wir alle – Ihr könnt nicht ignorieren, dass die Highland-Armee vor unseren Toren steht!“ „Setz dich, Teresa“, brummte Gustav spöttisch, „und spar dir deinen Atem. Das alles ist die Mühe nun wirklich nicht wert.“ Die Bürgermeisterin von Greenhill warf dem Staatsoberhaupt von Tinto einen ungläubigen Blick zu, schüttelte dann den Kopf und erwiderte: „Es hätte mir klar sein müssen, dass es Euch am allerwenigsten interessiert, ob der Staat in Gefahr ist oder nicht, Lord Gustav.“ Ein bisschen fühlte sich Jowy, als hätte er etwas verpasst. Warum stritten sich diese Menschen hier wie kleine Kinder? Sie waren doch Politiker. Anführer. Die Hoffnungen ihrer Nationen lagen auf ihnen. Wie kam es dann, dass sie, anstatt zu bereden, ob und wie sie die Highland-Armee aufhalten sollten, hier saßen und sich gegenseitig niedermachten? „Bitte beruhigt Euch, meine Liebe“, riet Granmeyer sanft und legte seine Hand auf ihre. Widerwillig tat Teresa wie ihr geheißen, warf jedoch sowohl Gorudo als auch Gustav noch grimmige Blicke zu. „Ich werde meine Männer auch nicht einberufen“, verkündete Letzterer und zuckte die Achseln. „Highland will uns nur wieder Angst einjagen! Das hatten wir doch alles schon einmal.“ Scheinbar hatte Anabelle nun genug gehört. Während der Diskussion hatte sie sich wieder auf ihrem Platz niedergelassen, doch nun schlug sie mit der flachen Hand auf die Tischplatte und stand auf. „Luca Blight“, sagte sie und Jowy war erstaunt zu hören, dass ihre Stimme zitterte; ob nun vor Wut oder Enttäuschung konnte er nicht sagen, „ist mehr Dämon als Mensch. Wenn er und seine Armee durch die Verteidigung von Muse brechen, wird der Staat in Schutt und Asche liegen! Im Namen des Eides, den wir alle geleistet haben, befehle ich euch allen, eure Truppen zum Schutz von Muse abzukommandieren!“ „Ihr macht mir keine Angst mit Euren Drohungen, Anabelle“, entgegnete Gustav spöttisch. „Welchen Sinn hat es, wenn ich meine Männer und Güter aussende, um Muse zu unterstützen, und meine eigenen Leute in Tinto verhungern?“ „Das ist ein Befehl im Namen des Staates, Gustav“, versetzte Granmeyer scharf. „Ihr solltet aufpassen, was Ihr da sagt!“ „Lord Granmeyer hat Recht“, stimmte Hauser dem alten Bürgermeister zu und warf Gustav einen grimmigen Blick zu. „Ihr habt einen Eid geleistet.“ „Vielleicht interessiert mich der Eid nicht mehr?“, gab Gustav gelassen Kontra. „Tinto verdient inzwischen genug durch den Handel mit den Graslanden, um ein souveräner Staat zu sein!“ „Das werden wir ein anderes Mal diskutieren, Gustav“, erwiderte Makai grimmig. „Es tut jetzt nichts zur Sache!“ „Mir scheint, Tintos Souveränität ist weitaus reeller als die angebliche Bedrohung durch Highland!“, mischte Gorudo sich ein. „Warum reden wir nicht darüber, wenn wir ohnehin nur hier herumsitzen und uns über Nonsens unterhalten?“ Diesmal war der Lärm im Saal so laut und so langanhaltend, dass ein paar Soldaten in die Menge eilten, um sie zu beruhigen. Während alle anderen sich umsahen, bemerkte Jowy, wie ein junger Soldat, der völlig gehetzt und panisch wirkte, den Saal durch eine der Seitentüren betrat und zu Jess eilte, der die Unruhe im Saal missmutig beobachtete. Der Kanzler beugte sich zu dem Soldaten hinunter, als dieser ihm etwas ins Ohr flüsterte und selbst von seinem Platz aus konnte Jowy erkennen, wie blass Jess plötzlich wurde. Anabelle warf ihm einen alarmierten Blick zu und der Beamte nickte düster – die Bürgermeisterin ballte eine Hand zur Faust und starrte die Tischplatte an. Was…? „Ruhe!“, brüllte einer der Ordnungshüter auf einen Wink des Obersten Kanzlers hin und die Zuschauer hielten abrupt inne. „Ich habe Neuigkeiten“, sagte Jess und seine Stimme erzitterte deutlich hörbar. Die Blicke aller im Saal wandten sich ihm zu, besonders Teresa und Makai sahen besorgt aus. Der Kanzler schluckte und fuhr dann fort: „Die Armee von Highland hat unsere Wachen an der Grenze ermordet und ist den neusten Berichten zufolge auf direktem Weg nach Muse.“ Ein Aufschrei ging durch die Versammelten, Granmeyer sprang auf und rief: „Was?!“ Oben auf den Rängen brach Panik aus, Jowy hörte die Menschen schreien… und zu den Ausgängen drängen. Er selbst rührte sich nicht, sondern starrte nur Anabelles blasses, angespanntes Gesicht an. Dann hatte es also begonnen. Die Highlander waren auf dem Weg hierher und bald würde es so weit sein: Er würde Anabelle… „Ruhe!“, schrie Jess in den Lärm hinein, doch er kam nicht gegen die Menschen an, die nach draußen hasteten. Erst, als sich der Saal fast völlig gelehrt hatte und nur noch einige wenige Zuschauer auf ihren Plätzen verharrten, um die endgültige Entscheidung der Hilltop-Konferenz zu hören, hörte man Gorudo murmeln: „Dann meinten sie es diesmal wohl doch ernst…“ Er vertiefte sich ein geflüstertes Gespräch mit seinen beiden Generälen, die beide auf ihn einzureden schienen. „Ihr habt es alle gehört“, sagte Anabelle, nachdem sie den drei Männern einen missbilligenden Blick zugeworfen hatte. „Hiermit ist der Befehl, Eure Armeen zum Schutze von Muse einzuberufen, offiziell und gültig! Diejenigen, die sich noch immer weigern, uns zu unterstützen…“ Sie holte tief Luft. „… werden auch keine Unterstützung von uns erhalten, sollte es zum Äußersten kommen. Damit ist die Konferenz beendet!“ Die Staatsoberhäupter schienen nach diesen Worten regelrecht die Flucht zu ergreifen; sie waren schneller verschwunden als die meisten Zuschauer. Jowy fühlte sich, als könne er keinen Muskel rühren. Es konnte nicht sein, dass der Krieg sie wirklich erreicht hatte, er wollte nicht, dass es so weit war, er wollte nicht zum Mörder werden, er wollte nicht… „Lasst uns gehen, bevor sie uns noch hier oben einschließen“, brach Viktors Stimme durch seine Gedanken und der Aristokrat zuckte zusammen, ehe er sich beeilte, seinen Freunden und den beiden Söldnern nach draußen zu folgen. Als sie nach draußen an die frische Luft und in den strahlenden Sonnenschein traten, wagte Jowy es, nach Atem zu schnappen. Seine Kehle fühlte sich wie zugeschnürt an. Es war nur eine Frage der Zeit, bis der Mann mit den eisblauen Augen auftauchte, um ihm weitere Befehle zu überbringen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er das Messer aus seinem Rucksack holen würde, um… Nein. Nein, er würde nicht mehr daran denken. Er würde sich nicht weiter verrückt machen! Er hatte eine Entscheidung getroffen. Seine Mutter oder Anabelle – und die Wahl war auf Anabelle gefallen. So einfach war das. Nicht wahr…? „Also, was sagt ihr?“, fragte Viktor, während sie ihm und Flik hinunter in die Stadt folgten. „Das war doch interessant.“ „Das ist nicht ganz das Wort, das ich benutzen würde“, brummte Nanami. „Das war doch nur ein Haufen alter Männer, die sich gegenseitig beleidigt haben! … Mit Ausnahme von Teresa, sie fand ich toll!“ Ihre Antwort brachte den Söldner zum Lachen, doch dann warf er einen schnellen Blick zurück zum Hilltop-Ratssaal und nickte. „Ja“, sagte er langsam und irgendwie nachdenklich, „da magst du Recht haben…“ Flik sah zwischen dem Bären und den drei Jugendlichen hin und her, schwieg jedoch und richtete den Blick stur geradeaus, als wäre er in Gedanken ganz woanders. Zurück in Leonas Taverne stellten sie fest, dass diese erschreckend voll war. Nur mit Mühe schafften es Viktor und Flik, sich zu einem leeren Tisch vorzuarbeiten und bestellten jeder sofort einen Krug Bier. „Da seid ihr ja wieder“, begrüßte Leona die fünf, als sie mehr zufällig an ihrem Tisch vorbeiging. „Die nächste Portion Gulasch ist erst in etwa einer Stunde fertig. Wartet ihr so lange oder…?“ „Wir warten“, verkündete Viktor. „Den Fraß aus den Kasernen kann doch wirklich keiner essen…“ Leona lachte. „Lass deine Männer das nicht hören, Bär!“, rief sie ihm noch über die Schulter zu, dann verschwand sie auch schon wieder in der Menschenmenge. Jowy sah ihr einen Moment nach und erhob sich dann von dem Stuhl, auf dem er gesessen hatte. „Wo willst du hin?“, fragte Nanami und kniff etwas die Augen zusammen. Innerlich stöhnte er – wenn er gehofft hatte, dass sie ihn nun, da sie ihn aus dem Bett bekommen hatte, in Ruhe lassen würde, so hatte er sich gründlich getäuscht. „Ich… Ich wollte nach Pilika sehen“, log er. „Sie freut sich sicher, mich zu sehen.“ Nanamis Blick wurde sofort milder und sie lächelte. „Das ist eine gute Idee“, lobte sie ihn. „Sie hat nach dir gefragt… Also, du weißt schon.“ Sie lief rot an und senkte den Blick, aber es genügte; der scharfe Stich seiner Schuldgefühle rief all jene verdrängten Gedanken wieder auf, die seit seiner Rückkehr in seinem Kopf einen düsteren und chaotischen Tanz aufführten. „Ja“, sagte er dumpf. „Ich weiß. Wir… Wir sehen uns später.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte er sich um und eilte durch den vollen Schankraum zur Treppe in den ersten Stock. Kurz überlegte er, ob er nicht wirklich nach Pilika sehen sollte, doch er entschied sich dagegen. Nach allem, was passiert war, konnte er sie einfach nicht mehr ansehen. Er ertrug die Bewunderung in ihren Augen nicht mehr und die stumme Liebe, die sie ihm entgegen brachte… Stattdessen machte er kehrt und ging schnurstracks zurück zu dem Zimmer, das er sich mit Riou teilte. Er wollte jetzt niemanden sehen. Er musste… musste allein sein und seine Gedanken ordnen. Jowy schloss die Tür so leise es ging, lehnte dann die Stirn an das kühle Holz und schloss die Augen. Ein leises, beinahe verzweifeltes Seufzen entwich ihm. Die Highland-Armee war auf dem Weg hierher. Der Staat war innerlich zerstritten. Tinto und Matilda wollten keine Männer zur Unterstützung schicken. Seine Mutter würde sterben, wenn er Anabelle am Leben ließ. Und er, er war ein Verräter, würde sie alle auf dem Gewissen haben, wenn er nichts tat… „Drehe einem Feind niemals den Rücken zu, Junge.“ Sein Herzschlag setzte für einen Moment aus und er fühlte sich, als hätte ihm jemand einen Eimer eiskalten Wassers über den Kopf geschüttet. Obwohl er sich sicher war, dass er sich noch niemals in seinem Leben so schnell umgedreht hatte, kam es ihm vor, als würde er sich in Zeitlupe bewegen. An die Wand neben seinem Bett gelehnt, stand mit verschränkten Armen der Mann mit des eisblauen Augen. „I-Ihr… W-Wie seid Ihr hierher gekommen?“, stammelte Jowy. „Wenn Euch jemand gesehen hätte…“ „Ich kann verhindern, dass ich gesehen werde, wenn ich es wünsche“, erwiderte der Mann kühl. „Ich bin hier, um dich an deine Abmachung mit Luca Blight zu erinnern.“ Der Aristokrat ballte ohnmächtig die rechte Hand zur Faust. „Als ob ich das vergessen könnte…“ In seinen Gedanken wisperte die Rune des Schwarzen Schwerts Worte, die er nicht hören wollte, aber dagegen tun konnte er nichts. Es sei Schicksal, flüsterte sie. Er könne sich nicht dagegen wehren. Dies wäre der einzige Weg für ihn… „Morgen früh werden die highlandischen Truppen vor den Toren von Muse stehen“, informierte ihn der Mann beinahe desinteressiert. „Warte einen passenden Moment ab und errege kein Aufsehen.“ Jowy sah auf und stellte fest, dass sein Verfolger sich bereits wieder zum Gehen wandte. „Wartet!“, rief der Junge und der Mann warf einen kühlen Blick zurück über seine Schulter. „Das… das ist alles?“ „Was hast du erwartet, dass man dich an der Hand nimmt und dich führt?“ „N-Nein… Aber…“ Jowy zitterte. Er hasste, hasste, hasste es, aber er konnte nichts dagegen tun. Dies war der einzige Weg, seine Mutter zu retten. „…V-Verratet mir wenigstens, wie ich Euch kontaktieren kann, wenn… sich etwas ergibt.“ Einen viel zu langen Augenblick geschah nichts. Dann sagte der Mann ein Wort: „Kage.“ „Was…?“ „Mein Name. Du wirst mich rufen können.“ Mit diesen Worten fuhr der Mann herum – und sprang aus dem geöffneten Fenster. Jowy stürzte ans Fensterbrett, doch da war keiner mehr. Entweder war der Mann in der Menschenmenge unten auf der Straße verschwunden, oder… Er wandte sich ab und starrte die Tür an, doch eigentlich sah er sie gar nicht. Vor seinen Augen verschwamm alles und wieder waren da die Tränen, die er nicht aufhalten konnte. Angestrengt blinzelte er sie weg und holte gerade tief Luft, als sich die Tür öffnete und Pilika in der Türöffnung erschien. Das kleine Mädchen strahlte ihn an und lief auf ihn zu, dann umarmte sie ihn heftig, doch Jowy konnte sich nicht rühren. Er stand nur da und ließ es geschehen, dass sich an ihn drückte. Irgendwann jedoch, schob er sie etwas von sich, sank unter ihrem erstaunten Blick auf die Knie und zog sie wieder an sich, damit sie die Tränen nicht sah, die nun doch wieder in seinen Augen schwammen. Aber er würde nicht weinen, nicht mehr, er würde stark sein, weil… weil er ihr das schuldig war. „Es… Es wird alles gut, Pilika“, flüsterte er. „Das verspreche ich dir.“ Wahrscheinlich wollte er mehr sich selbst beruhigen als das kleine Mädchen in seinen Armen, wurde ihm klar. Aber er wusste auch, dass alle Worte dieser Welt ihn nicht mehr würden überzeugen können, dass alles wieder in Ordnung kommen würde. Dazu war es zu spät. Als Riou wenig später vorbeikam, um den Aristokraten und Pilika zum Essen abzuholen, hatte Jowy sich weitgehend erholt, jedenfalls soweit es möglich war. Er setzte das falsche Lächeln auf, an das er sich inzwischen fast schon gewöhnt hatte, und versicherte, dass er sich wundervoll fühlte, als sein Freund sich besorgt nach seinem Wohl erkundigte. Riou wirkte nicht unbedingt überzeugt, aber er beließ es dabei. Wie immer, eigentlich. Jowy konnte sich nicht daran erinnern, dass der Jüngere jemals nachgebohrt hatte, wenn er selbst über etwas nicht reden wollte. Diesmal erwischte sich der Aristokrat jedoch dabei, dass er sich beinahe wünschte, dass Riou ihn ausfragen würde. Dass er mit der Sprache herausrücken durfte, dass die Last von seinen Schultern genommen wurde. Dass sie vielleicht eine andere Lösung fanden… Aber er bekam den Mund nicht auf. Es wäre eine Überwindung gewesen, Riou alles zu erzählen – eine, die zu schlichtweg zu groß war. Und außerdem war da noch dieser Kage, der kam und verschwand, als wäre er ein Geist… Nein, er konnte Riou nichts sagen. Dies war eine Bürde, die Jowy allein tragen musste, egal, wie schwer es ihm fiel. Und wenn er daran zerbrach… er würde niemand anderen mit einem Mord belasten. Lustlos stocherte Jowy gerade in seinem Rindergulasch herum, als Viktor, der neben ihm saß, ein überraschtes Geräusch von sich gab und zur Eingangstür schaute. Er hob den Kopf und folgte dem Blick des Söldners, der auf das Gesicht einer großen, rothaarigen Frau geheftet war, die sich suchend im Raum umsah. Anabelle. Sie fiel im vollen Schankraum kaum auf, doch Viktor schien einen Instinkt für ihre Anwesenheit zu haben. Er winkte ihr grinsend zu und die Bürgermeisterin strahlte ihn an, als sie ihn entdeckte. Als sie den Tisch erreichte, an dem die beiden Söldner gemeinsam mit Jowy, Riou, Nanami und Pilika saßen, zog sie schnell einen freien Stuhl herbei und ließ sich neben Flik nieder. „Was für eine Überraschung“, begrüßte Viktor sie und rückte etwas zur Seite, um ihr Platz zu machen. „Ich habe heute gar nicht mehr mit dir gerechnet.“ „Nicht?“ Anabelles Augenbrauen hoben sich und der Bär grinste. „Na“, sagte er, „ich habe mir die Konferenz angesehen, weißt du. Du hast dich wirklich gut geschlagen, dafür, dass Gustav und Gorudo so feige Hunde sind.“ Die Mundwinkel der Bürgermeisterin zuckten amüsiert, doch sie blieb ernst und zuckte mit den Schultern. „Das ist immerhin Teil meiner Arbeit“, winkte sie ab. „Inzwischen haben sich alle wieder beruhigt… Natürlich will uns keiner volle Unterstützung geben, aber gleichzeitig will auch keiner von ihnen riskieren, dass jemand anders den Highlandern zum Opfer fällt.“ Sie schnaubte und Jowy schluckte. Sie saß fast neben ihm. Nur ein bisschen… Nur ein Meter trennte ihn von ihr. War das die angeblich passende Gelegenheit, von der Kage gesprochen hatte? Das Stück Fleisch, auf dem er herumgekaut hatte, schien ihm quer im Hals stecken zu bleiben. Er konnte doch nicht einfach…! Nein. Nein, nein, nein. Eine Gänsehaut breitete sich auf seinen nackten Armen aus und er schluckte schwer. Er wollte das nicht. Seine Hände zitterten… „Aber du bist doch sicher nicht hergekommen, um dich zu unterhalten?“, drang Viktors Stimme durch Jowys Gedanken und er riss sich mühsam zusammen. Er durfte nicht wieder durchdrehen, er musste bei der Sache bleiben! „Leider nicht“, nickte Anabelle und kurz flackerte in ihren Augen ehrliches Bedauern auf. „Ich bin hier, um dich um etwas zu bitten.“ „Jetzt ist es wohl vorbei mit dem Spaß, hm?“ Mit einem Seufzen legte Flik sein Besteck beiseite und lehnte sich vor. Doch bevor die Bürgermeisterin auch nur den Mund aufmachen konnte, ertönte hinter ihnen plötzlich eine wohlbekannte Stimme: „Hier seid ihr! Ich habe euch schon überall gesucht!“ Jowy warf einen Blick über die Schulter und entdeckte Apple, die hinter ihm stand und die Hände in die Hüften gestemmt hatte. „Oh, hey, App“, rief Viktor mit einem besonders unschuldigen Grinsen auf den Lippen. „Überall schon? So was!“ „Du bist so anstrengend“, seufzte Apple kopfschüttelnd und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich bin eigentlich hier, um dir zu sagen, dass Anabelle dich gesucht hat… aber offensichtlich hat sie dich schon gefunden.“ Anabelle lachte und erwiderte: „Trotzdem danke, Apple, ich weiß deine Bemühungen zu schätzen.“ Die junge Strategin errötete leicht und nickte, dann ließ sie ihren Blick über den Schankraum schweifen, auf der Suche nach einem freien Stuhl. Als sie keinen fand, machte sie Anstalten, sich schon zu verabschieden, doch da wandte sich Nanami an Pilika und fragte laut: „Willst du auf meinen Schoß, Pilika? Dann kann Tante Apple auch sitzen.“ Das kleine Mädchen warf der Strategin einen schnellen Blick zu, nickte dann lächelnd und ließ sich von Nanami auf deren Schoß heben. „Problem gelöst“, verkündete Nanami und Apple grinste. „Danke.“ Sie setzte sich und warf Viktor einen tadelnden Blick zu, um an sein Gewissen zu appellieren, doch der Bär brach nur in Gelächter aus und meinte: „Tut mir leid, App, ich kann mich einfach nicht daran gewöhnen, dass du jetzt auch eine Dame bist.“ Apple seufzte nur wieder und winkte ab: „Schon gut… Es gibt wichtigere Dinge, um die wir uns jetzt kümmern müssen.“ Sie sah Anabelle vielsagend an, die nickte und sofort ernst wurde. „Viktor“, sagte sie und ballte eine ihrer Hände zur Faust. „Ich muss dich darum bitten, uns die Highlander eine Weile vom Hals zu halten. Es wird mindestens drei Tage, wenn nicht noch länger, dauern, bis wir alle Streitkräfte des Staates hier in Muse versammeln können, aber die Highlander werden schon morgen früh hier sein.“ Sie begann nun, angespannt auf ihrer Lippe herumzukauen, während sie auf eine Antwort wartete. Wahrscheinlich fühlten sich alle außer Jowy erschlagen von dieser Nachricht – er selbst war es nur nicht, weil in seinem Kopf so viele andere Gedanken herumgingen. Kage hatte also die Wahrheit gesagt. Luca Blight war hier. Seine Mutter war, wahrscheinlich ohne es zu wissen, in tödlicher Gefahr. Anabelle war… Er konnte es nicht einmal in Gedanken aussprechen. „Zwei Tage wären schon genug“, fuhr Anabelle fort, als keiner etwas sagte. „Bitte, Viktor. Nur zwei Tage.“ „Wenn wir schon uns schon heute Nacht auf die Lauer legen und sie von der Stadt fernhalten würden… könnten wir ihnen eigentlich schon die Nasen etwas blutig schlagen“, überlegte Apple laut und knabberte abwesend am Daumennagel ihrer rechten Hand. „Jedenfalls in der Theorie sollten zwei Tage möglich sein…“ „Du wirst dich nie ändern“, stöhnte Viktor und fuhr sich durchs Haar. „Du verlangst die verrücktesten Sachen, als wenn’s nichts wäre. Allein die Vorstellung, dass meine Männer allein Luca Blight aufhalten sollen…“ Er lachte nervös auf und schüttelte den Kopf. „Ich zähle auf dich, Viktor“, entgegnete Anabelle und griff nach seiner Hand. „Wenn ich eine andere Lösung wüsste, würde ich dich nicht darum bitten, aber…“ „Wenn es nur darum geht, sie ein bisschen aufzuhalten, schaffen wir es“, unterbrach Flik sie überzeugt. „Es ist nicht unbedingt leicht, aber auf jeden Fall machbar.“ „Das stimmt“, räumte Viktor ein und grinste Anabelle dann aufmunternd zu. „Zwei Tage, sagst du?“ „Wir erwarten die Verstärkung aus Matilda sehr bald“, bestätigte die Bürgermeisterin, die deutlich erleichtert wirkte. Dann schenkte sie dem Bär ein fast kokettes Lächeln. „Danke, mein Bester.“ Wenn Jowy sich nicht stark irrte, lief Viktor bei diesen Worten rot an. „Äh“, machte er und lachte. „Sicher… Dafür bin ich ja da, richtig? Und außerdem“, fügte er hinzu und schien plötzlich wieder ganz Herr der Lage, „einer so feinen Dame wie dir kann man doch keinen Wunsch abschlagen.“ „Oh Runen“, murmelte Flik und verdrehte die Augen. Dieser Kommentar ließ Anabelle zusammenzucken und sie ließ schnell Viktors Hand wieder los, ehe sie sich erhob und sagte: „Ich danke euch. Aber ich kann nicht lange bleiben und…“ „Bitte lasst uns mit Euch kämpfen.“ Die Worte waren ausgesprochen, noch bevor Jowy eigentlich richtig darüber nachgedacht hatte, aber es war ohnehin zu spät, sie zurückzunehmen. Und er fühlte sich verantwortlich, es wollte es wiedergutmachen, vielleicht gab es einen Weg, er würde sie nicht umbringen, er konnte seine Mutter sicher irgendwie anders retten…! Einen Moment lang zögerte Anabelle, dann ließ sie sich doch wieder auf dem Stuhl nieder und warf sowohl Jowy als auch Riou einen mitleidigen Blick zu. „Jungs… Es war ein Fehler von Jess, euch in all das hier mit hineinzuziehen. Dafür entschuldige ich mich bei euch. Aber ihr braucht nicht noch mehr für uns zu tun als ihr ohnehin schon getan habt – das ist ein Problem für uns Erwachsene.“ Kurz flammte wieder die alte Wut in Jowy Innerem auf – er war kein Kind, er wollte nicht so behandelt werden – aber er unterdrückte sie und erwiderte: „Nein, bitte… Ich möchte mit Euch kämpfen. Ich… Wir werden Euch helfen, die Highland-Armee aufzuhalten. Du – Du machst doch mit, Riou?“ Erst jetzt traute er sich, seinem besten Freund einen fragenden Blick zuzuwerfen. Dieser blinzelte überrascht und sah dann Jowy sehr lange mit einem undurchdringlichen Blick an. „Natürlich“, sagte er dann und lächelte. Nanami stieß bereits wieder die Luft aus ihren Lungen, doch bevor sie ihre Proteste äußern konnte, seufzte Anabelle schwer und strich sich eine verlorene, rote Locke aus dem Gesicht. „… Dann passt bitte gut auf euch auf, ihr beiden“, sagte sie. „Und du auch, Nanami. Bleibt am Leben. Und… kommt mich nach der Schlacht besuchen. Dann erzähle ich euch von Meister Genkaku.“ „Da-Danke.“ Was, wenn… es doch eine andere Lösung gab…? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)