Another Side, Another Story von _Kima_ (The Traitor's Tale) ================================================================================ Kapitel 18: Woran das Herz hängt -------------------------------- Der Gang führte sie in ein zweites, tempelartiges Gebäude, in dem es angenehm kühl war. Dennoch stellte sich das mulmige Gefühl in Jowys Magengegend nicht ab… im Gegenteil, es wurde immer stärker, je weiter sie gingen. Alex blieb vor einer weiteren Tür stehen – vor dieser befand sich eine große Steintafel mit den gleichen Schriftzeichen, die auch schon in die riesige Eingangstür eingraviert waren. Aufmerksam betrachtete der Wirt die Tafel und ging anschließend leicht in die Knie, während er vor sich hinmurmelte. Dann entzifferte er langsam: „’Reisender… alles, was du dir wünschst… alles, wovon du träumst… alles, was dir lieb und teuer ist… findest du hier, wenn dein Herz rein ist’…“ „Alles, was mir lieb und teuer ist?“, wiederholte Nanami nachdenklich. „Ich frage mich, was das sein soll. Für mich wäre es wahrscheinlich Großvater Genkaku, aber er ist tot…“ Sie verstummte und seufzte leise. Jowy sagte zwar nichts, doch auch seine Gedanken wanderten in diese Richtung. Was war ihm lieb und teuer? Pilika. Riou und Nanami, keine Frage. Und dann tauchte plötzlich das Gesicht der Frau vor seinem inneren Auge auf, an die er seit Wochen nicht mehr wirklich gedacht hatte. Genauer gesagt hatte er sich verboten, an sie zu denken. Seine Mutter. Bei der Erinnerung an ihr tieftrauriges Gesicht, das er durch das Fenster ihres Zimmers gesehen hatte, zog sich sein Herz zusammen und ein Kloß bildete sich in seinem Hals. Bis jetzt hatte er nicht gemerkt, wie sehr er sie eigentlich vermisste. Natürlich, er hatte sie erwähnt, als er die Personen genannt hatte, die er schützen wollte, aber wirklich an sie gedacht hatte er dabei nicht. Es war keine Zeit gewesen, keine Gelegenheit. Aber jetzt… „Ich schätze, es gibt nicht viel, was mir ‚lieb und teuer’ ist…“, hörte er sich selbst murmeln. Ob er seine Mutter jemals wiedersehen würde? Oder würde ihr enttäuschter Blick das Letzte sein, woran er sich erinnerte, wenn er an sie dachte? „Freunde, Familie… einfach alle.“ Erst Rious leise Stimme holte Jowy zurück in die Wirklichkeit und er musste blinzeln, als er so plötzlich in die Realität zurückkehrte. Er musste dringend aufhören, sich in seinen eigenen Gedanken zu verlaufen… „Ja, ich schätze, das ist das Wichtigste“, nickte er. „Wahrscheinlich.“ Hanna sagte nichts und Zamza schnaubte nur, doch Gengen murmelte etwas, das sich verdächtig nach „Fleisch“ anhörte. „Seid ihr übergeschnappt?“, fragte Alex stirnrunzelnd über die Schulter hinweg, der sich die Überlegungen seiner Begleiter schweigend angehört hatte. „Da steht teuer. Das muss doch der Schatz sein!“ „Hmm…“ Alex drehte sich wieder zu der Steintafel um und ging dann zu der Tür, wo er scheinbar nach einem Schalter suchte. Den fand er auch relativ schnell, da die Steintür mit einem Knirschen aufschwang. „Ja!“, jubelte der Wirt und sofort war sämtliche Begeisterung, die durch den Angriff der Zyklopen gedämpft worden war, wieder da. „Ich habe es geschafft! Endlich, endlich habe ich den Schatz meiner Träume gefunden!“ Er stürmte nach vorn, durch die geöffnete Tür auf einen großen Platz, der unter freiem Himmel lag. Jowy erhaschte einen Blick auf eine hohe Treppe, deren Stufen zu einer Art Schrein führten, dann wurde aus dem vagen Flüstern der Rune des Schwarzen Schwerts plötzlich eine eindringliche, laute Warnung. „Alex!“, rief er alarmiert. „Warte!!“ Der Wirt hielt inne und drehte sich verwirrt zu ihm um. „Was…?“, fragte er noch, dann brach zu seiner Rechten plötzlich ein gewaltiges Biest aus dem Unterholz, das den Platz umgab. Im ersten Moment glaubte Jowy, dass er mitten in seinen schlimmsten Albtraum gestolpert war. Das Ungeheuer, das da grollend, zischend und bösartig mit zwei Paar blutroten Augen blitzend vor ihnen zum Stehen kam, war eine mindestens vier Meter große und mindestens doppelt so lange, giftgrüne Schlange mit zwei Köpfen. Er erstarrte vor Schreck und konnte sich nicht mehr rühren. Stattdessen starrte er die Schlange nur hypnotisiert an und hoffte inständig, dass seine Beine nicht plötzlich unter ihm nachgaben. Doch die Rune des Schwarzen Schwerts schien andere Pläne zu haben. Sie schien ihn regelrecht von innen zu treten, sodass er erschrocken zusammenzuckte und sich aus seiner Starre löste. Anstatt der Panik, die ihn gerade noch beherrscht hatte, breitete sich plötzlich absolute Ruhe in seinem Kopf aus, er sah ganz klar. „Alex! Verschwinde hier, los!“, rief er und der Wirt ließ sich das nicht zwei Mal sagen. Schnell verschwand er wieder im Gebäude, aus dem sie gerade gekommen waren. Sein Schrei schien auch den Rest der Gruppe aufzuwecken; er hörte, wie Gengen und Hanna ihre Schwerter zogen und sah sie nach vorne preschen, in die erste Reihe, um die Aufmerksamkeit der Schlange auf sich zu lenken. Kurz wunderte sich Jowy noch, wie es die Rune schaffte, ihm seine jahrelange Angst vor Schlangen mit einem Schlag zu nehmen – dann folgte er bereits Riou, Nanami und Zamza, die ebenfalls mit gezückten Waffen auf das Ungeheuer zuliefen, Alex in der Sicherheit des Tempels hinter ihnen zurück lassend. Die Schlange beobachtete die kleine Gruppe einen Moment lang nur leise zischend, dann schoss ihr rechter Kopf auf Gengen zu und der Kobold jaulte erschrocken auf, als ihre armlangen Reißzähne nur knapp neben ihm vorbeischnellten. Jowy nutzte die Chance und ließ seinen Stab mit voller Kraft auf den Kopf hinunterknallen und biss die Zähne zusammen, da sich der Schädel der Bestie als robuster erwies, als er gedacht hatte. Der gesamte Körper des Reptils zuckte vor Schmerz zusammen und der zweite Kopf stieß ein tiefes Grollen aus, das in Jowys Magengrube vibrierte. Dann war der Aristokrat auch schon dazu gezwungen, auszuweichen, da beide Mäuler nach ihm schnappten. Aus dem Nichts tauchte Zamza neben ihm auf und sandte einen Schwall Feuer genau in den weit geöffneten linken Schlund, bevor er geistesgegenwärtig die Beine in die Hand nahm und die Gelegenheit nutzte, um sich erst einmal außer Gefahr zu bringen. Brüllend und wütend zischend erhoben sich beide Köpfe, dann wandte sich der Blick der rotglühenden Augen Nanami zu, welche leise knurrte und rief: „Riou! Los, wie es Großvater Genkaku uns gelehrt hat!“ Ihr Bruder nickte und im nächsten Moment schienen die Geschwister zu einer Person zu verschmelzen, so synchron wurden ihre Bewegungen. Fast so, als würden sie die Gedanken des jeweils anderen lesen, näherten sich Riou und Nanami ungewöhnlich schnell ihrem übergroßen Gegner, wichen gekonnt den beiden Köpfen aus, die nach ihnen schnappten, und schlugen gleichzeitig zu; die Schläge der eigentlich stumpfen Waffen der beiden schienen vereint sogar stark genug zu sein, um dauerhaften Schaden zu hinterlassen – es knackte unangenehm laut und Jowy fragte sich, ob die Geschwister es geschafft hatten, einen der Halswirbel ihres Gegners zu brechen. Doch er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Von Schmerzen geplagt, fuhr die Schlange herum und ließ keinem ihrer Angreifer genug Zeit um zu reagieren, als sie die kleine Gruppe mit einem Streich ihres Schwanzes gegen die Wände des Tempels hinter ihnen warf. Von dem Aufprall wurde Jowy kurzzeitig schwarz vor Augen und sämtliche Luft wurde aus seinen Lungen gepresst; dann prallte er schmerzhaft wieder auf dem Boden auf und rappelte sich mühsam wieder auf, bevor das Biest die Chance nutzte und sie alle umbrachte. Dumpfer Schmerz in seinem Hinterkopf, von dem sein gesamter Kopf zu dröhnen schien, sagte ihm, das dort eine nicht unbedingt kleine Beule entstand. Aber das war zweitrangig. Das Wichtigste momentan war, dass Hanna sich bereits wieder in die Schlacht stürzte, und er beeilte sich, die Kriegerin nicht allein zu lassen. Einen lauten Kampfschrei ausstoßend, bohrte Hanna ihre Klinge in den schuppigen Körper ihres Gegners und als einer der Köpfe zu ihr herumfuhr – der zweite war vollauf mit Riou und Zamza beschäftigt, die Tonfa und Flammen zu einem Angriff vereinten – blockte Jowy gerade noch rechtzeitig die gewaltigen Giftzähne der Schlange, um zu verhindern, dass sich selbige in Hannas Körper schlugen. Es war die Zunge des Biests, die er unterschätzt hatte; zwischen ihren Zähnen schnellte der gräuliche, zweigeteilte Muskel hervor und wickelte sich um eins seiner Beine. Jowy schrie erschrocken auf, als er das Gleichgewicht verlor und in die Luft gezogen wurde, ehe der Druck um sein Bein plötzlich erschlaffte und er realisierte, dass er sich mehrere Meter über dem Boden befand. Dann spürte er, wie er fiel. Panik breitete sich wieder in ihm aus, er fiel, unter ihm befand sich das weit geöffnete Maul der Riesenschlange, diese riesigen Zähne würden über ihm zusammenschlagen, er würde bei lebendigem Leib…! Doch er landete viel weicher und vor allem ungefährlicher, als er gefürchtet hatte; er wurde halb von Hanna aufgefangen und riss sie mit sich zu Boden. Er murmelte seinen Dank, während sie beide sich wieder aufrichteten, und sah, dass Nanami und Gengen sich des Kopfes angenommen hatten. „Sie ist schlauer, als wir denken“, knurrte Hanna. „Das verdammte Biest spielt mit uns!“ Der Gedanke schnürte Jowy die Kehle zu. Wenn die Schlange tatsächlich nur mit ihnen spielte und noch nicht ernst machte… dann hatten sie keine Chance. Überhaupt keine. „Gengen großer Kobold-Krieger!“, bellte der Kobold vor ihnen, während er mit erhobenem Schwert auf das linke Maul zuhüpfte. „Gengen nicht verliert gegen große Schlange!“ Die große Schlange schien anders darüber zu denken – mit einem einfachen Schlag ihres Schwanzes wischte sie den Kobold beiseite, als sei er nichts weiter als ein Fellball. Mit einem lauten Jaulen brach Gengen durch das Unterholz des Gestrüpps, das den Platz umgab, und verschwand außer Sicht. „Gengen!!“, schrie Nanami entsetzt und war den Bruchteil einer Sekunde zu lange abgelenkt; der Kopf, gegen den sie eben noch gekämpft hatte, schoss nach vorn, genau auf sie zu, und Jowy stürzte zu ihr, um sie außer Gefahr zu bringen. Er hechtete auf das Mädchen zu und stieß sie gerade noch rechtzeitig aus dem Weg, um zu verhindern, dass die Schlange sie beide zwischen die Zähne bekam. Während sie jedoch zu Boden stürzten, hörte Jowy ein übelkeitserregendes Knacken und Nanamis schmerzerfülltes Japsen. „Bist du okay?!“, fragte er besorgt, sobald er sich wieder aufrichten konnte. Nanami warf einen Blick nach unten und er tat es ihr gleich – was er jedoch sofort wieder bereute. Ihr rechter Arm war unnatürlich verdreht. „Mein Arm ist gebrochen“, ächzte Nanami mit zusammengebissenen Zähnen. „Aber… Aber ich kann immer noch kämpfen, keine Sorge!“ Sie erhob sich schwankend, ihren Nunchaku mit der linken Hand umklammernd, doch Jowy entgegnete: „Was für ein Schwachsinn! Bring dich in Sicherheit, bevor-“ Er wurde jäh unterbrochen, als die Schlange erneut herumfuhr. Ihr Schwanz erwischte dabei auch Zamza, Riou und Hanna und im nächsten Augenblick knallte Jowy so heftig mit dem Hinterkopf gegen eine Steinwand, dass er glaubte, sein Kopf würde vor Schmerz platzen wie eine überreife Frucht. Vor Schmerz leise stöhnend griff er sich mit beiden Händen an den Kopf und musste sich arg zusammenreißen, um nicht ohnmächtig zu werden. Runen, war ihm schwindlig! Unter seinen Fingern spürte er, wie Blut aus einer Platzwunde an seinem Hinterkopf quoll und seine Haare verklebte, aus den Augenwinkeln sah er – reichlich unscharf – die bewegungslosen Körper von Nanami und Zamza. „Verdammt…“, entfuhr es ihm verzweifelt. Gengen war verschwunden, Nanami und Zamza bewusstlos… Jowy presste die Zähne aufeinander und bemühte sich, den Schmerz in seinem Schädel so gut es ging auszublenden, während er nach Hanna und Riou Ausschau hielt. Die Kriegerin war halb begraben worden unter einer eingestürzten Steinwand, jedoch bei Bewusstsein. Das half ihr jedoch auch nicht viel – ihre Beine schienen unter einem Felsbrocken eingeklemmt worden zu sein, sie saß in der Falle. Und Riou? Sein bester Freund lag unweit von Jowy auf dem Rücken und blutete aus einer viel zu großen Wunde quer über seiner Brust. Aber vielleicht war die Wunde selbst auch gar nicht groß… vielleicht war es nur der Stoff der roten Tunika, die sich mit dem Blut vollgesogen hatte… Mit einem Grollen sah die Schlange aus ihren vier Augen auf ihre geschlagenen Gegner hinab, ehe sie leise zischend beide Köpfe neigte und ihre Mäuler auf den orientierungslosen Riou zuschossen, der sich gerade mit sichtbarer Mühe auf seine Unterarme stütze. „Nein!!“ Die Zeit stand still. Zumindest kam es Jowy so vor, da die Schlange mitten in der Bewegung erstarrt war und sich auch sonst keiner bewegte. Und dann war da diese Stimme in seinen Gedanken… Benutze mich. Die Rune des Schwarzen Schwerts. Sie sprach zu ihm. Nicht zum ersten Mal, nein… Seit sie hier in den Sindar-Ruinen waren und sich plötzlich Gegnern gegenübersahen, die mächtiger waren als alles, was Jowy bisher gesehen hatte, sprach seine Rune ständig zu ihm, forderte ihn dazu auf, ihre Macht zu nutzen und ihr freie Hand zu lassen. Dennoch zögerte er. Konnte er diese Rune wirklich kontrollieren? Er wusste nicht einmal, was für Kräfte sie innehatte. Alles, was er wusste, war, dass sie Teil der Rune des Anfangs war. Etwas, womit er sein eigenes Schicksal schreiben konnte… Benutze mich. Sie hatten keine Chance gegen die zweiköpfige Schlange. Verletzt, wie sie waren, konnten sie unmöglich gewinnen. Benutze mich. Was würde aus Pilika werden, wenn er nicht zurückkehrte? Riou und Nanami würden sterben, wenn er nicht sofort handelte. Er würde seine Mutter wirklich nie wieder sehen. Benutze mich!! Die Macht in seinem Inneren schien zu explodieren; rotes Licht füllte seine gesamte Welt. Vor seinem inneren Auge tauchten aus dem Nichts Hunderte Schwerter auf, die auf einen einzigen Befehl der Rune hin alle auf die Schlange zuschossen und sie durchbohrten. Nun kam doch Leben in das riesige Reptil – es brüllte auf, wand sich. Jowy starrte es an, während seine gesamte Energie seinen Körper durch seine rechte Hand zu verlassen schien. Er sah noch, wie die Schlange den Kampf gegen die Rune des Schwarzen Schwerts verlor und wie in Zeitlupe zu Boden fiel, doch noch bevor die beiden Köpfe aufkamen, verlor der Aristokrat das Bewusstsein. Er kam nur langsam wieder zu sich. Er blinzelte ein paar Mal, bis sich seine Sicht klärte, dann erkannte er langsam den Platz wieder, auf dem sie gegen die Schlange gekämpft hatten. Nur, dass da keine Schlange mehr war – lediglich ein völlig demolierter Platz, eingefallene Wände und eine Schneise im Gestrüpp zu seiner Rechten zeugten davon, dass das Reptil überhaupt existiert hatte. Verwirrt setzte Jowy sich auf und entdeckte Riou ganz in seiner Nähe. Sein bester Freund schien zu bemerken, dass er aufgewacht war, denn er drehte sich um und sah den Blonden besorgt an. „Bist du in Ordnung?“, erkundigte sich der Jüngere, während er näher kam. Jowys Blick fuhr über die Brust des anderen, doch da schien keine Wunde mehr zu sein. Was…? Irritiert griff er sich an den Kopf, dahin, wo er verletzt gewesen war, doch dort war keine Platzwunde, an die er sich klar erinnern konnte, lediglich von getrocknetem Blut verklebte Haare. Er sah hoch zu Riou und kniff die Augen zusammen. „Du hast die Rune wieder benutzt, nicht wahr?“ „Ich konnte nicht anders“, erwiderte Riou achselzuckend. Er wirkte müde. „Du bist ohnmächtig geworden, nachdem du deine Rune benutzt hast, und alle anderen waren entweder auch bewusstlos oder kurz davor.“ „Du darfst sie nicht so oft benutzen!“, entgegnete Jowy kopfschüttelnd. „Ich habe niemals Runen gesehen, die die Energie ihrer Träger so schnell verbrauchen… Es ist gefährlich, wenn du sie mehrmals hintereinander einsetzt!“ „Ich weiß“, nickte Riou. „Aber ich werde es tun müssen, wenn es sich nicht vermeiden lässt…“ Mit dieser Lösung war Jowy nicht glücklich… aber ihm war klar, dass es wahrscheinlich wirklich nicht anders ging. „Wo sind die anderen?“, wechselte er das Thema. „Und die Schlange?“ „Die Schlange ist verschwunden, nachdem du deine Rune benutzt hast“, erklärte Riou. „Und die anderen sind unterwegs, um Feuerholz zu sammeln… sie sollten bald zurück sein.“ „Wir schlagen ein Lager auf? Im Ernst?“ Jetzt war Jowy wirklich verblüfft. „Und Alex hat nichts dagegen?“ „Es war seine Idee“, sagte Riou achselzuckend. „Er hat sich so sehr beeilt, um so schnell es geht zum Schatz zu kommen, dass er ganz vergessen hatte, dass Hilda ihm Proviant mitgegeben hat. Wir werden hier erst mal eine Pause einlegen… und dann können wir uns den Schatz immer noch holen.“ Nach und nach kam der Rest der Gruppe zurück und das Lager war schnell errichtet, schon bald prasselte mit Zamzas Hilfe ein Feuer in der Mitte des Platzes. Alex hatte einen Tee aufgekocht, den Hilda ihm mitgegeben hatte, und ließ Brot und getrocknetes Fleisch herumgehen. „Ich bin wirklich froh, dass ich euch mitgenommen habe“, murmelte der Wirt und sah schaudernd zu der Stelle, an der die Schlange zu Boden gegangen war, bevor sie sich aufgelöst hatte. „Alleine wäre ich wohl schon längst…“ „Es ist ein Geschäft“, erwiderte Nanami locker. „Wir helfen dir, du hilfst uns.“ Jowy war erstaunt von ihrer Kaltschnäuzigkeit, was Geschäfte anging – hatte sie in der Zeit, in der er und Riou in der Jugendbrigade gedient hatten, zu viel Zeit auf dem Markt von Kyaro verbracht…? Als Antwort darauf brummte Alex nur etwas Unverständliches. Stattdessen hörte man Zamza laut und deutlich meckern: „Ich hoffe nur, dass dieser Schatz all die Strapazen wirklich wert ist! Schaut euch meine Kleidung an! Völlig zerstört… ich werde eine völlig neue Garnitur kaufen müssen, sobald wir in Muse sind!“ Jowy lauschte schweigend den Gesprächen und war froh, dass ihn keiner danach fragte, was für eine Rune das gewesen war, die er benutzt hatte. Einzig Nanami durchbohrte ihn und Riou mit eisigen Blicken, doch das konnte er ignorieren. Jedenfalls ein bisschen. Früher oder später würde er es ihr sagen müssen… Aber wollte er das überhaupt? Ihm wurde plötzlich klar, dass er eigentlich nichts über die Rune des Anfangs wusste. Sicher, sie war eine der 27 Wahren Runen, aber… Den Bildern nach zu urteilen, die vor seinen Augen aufgeblitzt waren, als er die Rune des Schwarzen Schwerts angenommen hatte, hatte es schon viele Träger vor ihm gegeben. Aber warum war nichts über sie bekannt? Er wusste absolut nichts darüber. Konnte er sich überhaupt sicher sein, dass die Rune, die er trug, auch wirklich das war, was sie zu sein vorgab? Und wer war diese Leknaat gewesen? Konnten sie ihr wirklich trauen…? Du und ich sind eins, flüsterte die Rune in seinen Gedanken. Zerbrich diese Verbindung nicht durch Zweifel. „… Wer bist du?“ Ich bin Ordnung. Das, was sich niemals verändert. Die dunkle Seite des Anfangs. Das Schwarze Schwert. Jowy spürte, wie seine Nackenhaare sich aufstellten und er eine Gänsehaut bekam. Er nahm sich fest vor, in nächster Zeit eine Bibliothek aufzusuchen und sie nicht eher zu verlassen, bis er nicht genau wusste, was das zu bedeuten hatte. Das kleine Lager wurde wieder abgebrochen, das Feuer schnell ausgetreten. Keinen von ihnen hielt es noch hier; die einen – insbesondere Alex, dessen ganzer Enthusiasmus mit einem Mal zurückgekehrt war – wollte so schnell es eben ging zum Schatz und die anderen – zu denen Jowy gehörte – wollten diese Ruinen lediglich weit, weit hinter sich zurücklassen. Es gab einen guten Grund, warum die Sindar diese Ruinen versiegelt hatten. Sie stiegen die gefühlt endlosen Stufen eines riesigen Tempels hinauf, an dessen Spitze ein überdachter Altar mit einem kleinen Kästchen darauf stand. Jowys Blick glitt über Malereien, Reliefs, Mosaiken und Fresken, welche die Sindar überall an den Wänden, den Säulen und an der Decke zurückgelassen hatten. Sie erzählten Geschichten längst vergangener Zeiten und er hörte die Rune des Schwarzen Schwerts eine Antwort auf seine unausgesprochene Frage flüstern. Spuren des Wandels. Der Veränderung. Chaos. Er wusste nicht, was die Rune ihm damit sagen wollte, doch er ahnte, dass sie die Rune des Wandels in all dem wiedererkannte, die sich womöglich einmal an diesem Ort befunden hatte. Alex war vor dem Altar stehen geblieben und als Jowy neben ihm zum Stehen kam, sah er das Glitzern in den Augen des Wirts. Er war am Ziel. … Oder? „Das ist er“, flüsterte Alex bedächtig. „Der Schatz. Endlich.“ „Was? Was?“, ertönte Nanamis Stimme irgendwo hinter ihnen. „Lasst mich durch, ich kann nichts sehen!“ Doch keiner reagierte, weil sie alle gebannt auf das kleine, reich verzierte Kästchen hinunterblickten, das in all den Jahren, die es hier gestanden hatte, keinen einzigen Kratzer abbekommen hatte. „Ich kann Hilda endlich ein paar schöne Kleider kaufen“, fuhr Alex fort und Jowy sah, wie sehr er zitterte. „Und gutes Essen und Spielsachen für Pete…“ „Na los doch!“, rief Nanami von hinten. „Mach es auf!“ „Okay. Los geht’s…“ Mit zitternden Händen berührte Alex vorsichtig die Schatulle und öffnete sie. Jowy merkte plötzlich, dass er den Atem angehalten hatte, und stieß ihn wieder aus. Dann senkte er seinen Blick auf den Inhalt der Schatulle hinunter und konnte seine Überraschung bei bestem Willen nicht verbergen. „Was…?“ „Was zum Henker…?“ Er runzelte die Stirn. „Was denn? Was ist da? Jetzt sagt doch! Ich kann nichts sehen!“ Nanamis Forderungen blieben wieder ungehört, da jeder, der etwas sehen konnte, den Inhalt der Schatulle anstarrte und dabei wahrscheinlich aussah wie eine Kuh, wenn es donnerte. In dem kleinen Kästchen befand sich nichts weiter als ein Bündel Kräuter. Die leicht rötlichen Blätter wirkten zwar so frisch, als hätte man sie gerade erst geerntet, doch Jowy konnte nicht umhin, verwirrt zu sein. Das war der Schatz der Sindar? Das war der Schatz, den sie so dringend hatten beschützen wollen, dass man ihnen Zyklopen und eine zweiköpfige Riesenschlange auf den Hals gejagt hatte? „Ist… das ein Scherz?“, fragte Alex ungläubig. „Das… das soll der Schatz sein? Was soll daran ‚lieb und teuer’ sein?!“ Er stieß einen Fluch aus. „Ich kann es nicht glauben!“ Jowy seufzte leise, während Zamza nun ebenfalls wieder zu meckern begann: „Ist das euer Ernst? Ich bin fast gestorben, nur für ein paar Suppenkräuter?!“ „Es sind Heilkräuter“, korrigierte Hanna leise. „Und zwar wirklich seltene. Die sollte es hierzulande gar nicht geben…“ Das machte es nur geringfügig besser, fand Jowy. Die Enttäuschung war Alex nur allzu deutlich anzusehen und der Aristokrat kam nicht umhin, unglaubliches Mitleid für ihn zu verspüren. War das der Preis dafür, wenn man seinen Träumen nachjagte? Blanke Enttäuschung? „Lass uns zurück gehen, Alex“, schlug er vor. „Vielleicht gab es nie einen Schatz, wer weiß. Vergiss es einfach.“ „Genau“, stimmte Nanami ihm zu, die sich nun offensichtlich nach vorn gedrängt und sich selbst von dem Inhalt des Kästchens überzeugt hatte. „Kopf hoch! Hilda wartet doch auf dich.“ „… Ja, ihr habt wohl Recht…“ Alex seufzte schwer und grinste ein schwaches und sehr schiefes Grinsen. „Na ja… Immerhin wird das eine gute Geschichte abgeben.“ Er lachte freudlos und wandte sich ab, um mit hängenden Schultern die Treppe wieder hinabzusteigen. Der Rest der Gruppe folgte ihm und Jowy sah aus den Augenwinkeln, wie Riou das Bündel Heilkräuter einsteckte. Nun… immerhin würden sie die Kräuter vielleicht benutzen können, um ihn und die Rune des Hellen Schilds entlasten zu können… Den Weg zurück durch die Ruinen legten sie schweigend zurück, in gedrückter Stimmung, und deutlich schneller als sie auf dem Hinweg gewesen waren, Hannas Markierungen sei Dank. Als sie die Ruinen wieder verließen, blieb Alex stehen, um sie Türen wieder zu schließen. Nachdem die Steintüren wieder eingerastet waren und der Weg in die Ruinen wieder versperrt war, seufzte der Wirt wieder. „Ich habe Hilda all diese Dinge versprochen“, murmelte er deprimiert und fuhr sich durchs Haar. „Und alles, was ich gefunden habe, waren Heilkräuter… Ich schäme mich, zurückzugehen und ihr in die Augen zu sehen. Sie wird bestimmt wütend sein…“ „Ach was“, erwiderte Nanami bestimmt, „das glaube ich nicht. Du wirst schon sehen!“ Alex nickte nur und führte sie durch den Wald zurück zum Gasthaus Zum Weißen Hirsch. „Ich gebe euch den Passierschein am besten gleich“, sagte er, während er die Tür öffnete. „Und für die Mühen erlasse ich euch alle Kosten, die anfallen, wenn ihr noch etwas hier bleibt…“ Das erste, was Jowy bemerkte, als sie die Empfangshalle des Gasthauses betraten, war, dass Hilda nicht am Empfang stand. Das an sich war nicht besorgniserregend, es war Mittagszeit und wahrscheinlich befand sie sich in der Küche, um möglichen Gästen etwas auftischen zu können… Weitaus besorgniserregender war der kleine Junge, der mit tränenüberströmten Wangen und rotgeheulten Augen auf Alex zurannte und rief: „Papa! Papa!“ Auch ohne diesen Ausruf hätte Jowy den Jungen problemlos als Alex’ Sohn erkannt – der Kleine hatte die Wangenknochen und die Nase seines Vaters geerbt. Dem Jungen folgte Pilika, die fast so panisch aussah wie damals, als er sie in den Trümmern von Toto gefunden hatte; in ihren Augen standen Tränen. „Pete“, sagte Alex alarmiert und ging vor seinem Sohn in die Knie, „was ist denn passiert?“ Pilika ergriff derweil Jowy an der Hand und schien ihn in Richtung Küche ziehen zu wollen. „Mama!“, schluchzte Pete in diesem Moment. „Mama ist…!“ Alex sprang auf und folgte dem Jungen, der seinen Vater in Richtung der Küchen führte. Pilika zerrte Jowy ebenfalls hinter sich her und schnell hatte der Rest der Gruppe Alex eingeholt. Gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie der Wirt neben seiner regungslosen Frau auf die Knie fiel. „Hilda!!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)