Another Side, Another Story von _Kima_ (The Traitor's Tale) ================================================================================ Kapitel 10: Verlorene Zeit -------------------------- Die Sonne stand schon hoch am Himmel und Jowy streckte die müden Glieder. Der Aufenthalt in Muse war aufregend gewesen, aber auch anstrengend. Keiner von ihnen war in einer Großstadt aufgewachsen und daher hatte die geschäftige Hauptstadt nicht nur den blonden Aristokraten überrumpelt. Es gab dort so viele Menschen, die alle irgendwohin zu eilen schienen, Kutschen, Handkarren und Reiter, die auf den Straßen unterwegs waren, und es herrschte unglaublich viel Lärm. Zu viel für Gengens empfindliche Ohren, der beide Tage ihres Aufenthalts in der Hauptstadt über Kopfschmerzen geklagt hatte. Jowy hingegen war fasziniert. Die Hauptstadt des Staates war ein derart lebendiger Ort, dass sie einen krassen Gegensatz zum verschlafenen Städtchen Kyaro bildete. Er mochte diese Stadt. Pilika hatte ihnen 70 Potch anvertraut und obwohl diese Summe streng genommen nicht sonderlich viel war – für diesen Preis bekam man auf dem Markt nicht einmal ein Päckchen Medizin – erschienen Jowy die Münzen viel, viel wertvoller als alles Geld, das er jemals besessen hatte. Ungeachtet dessen, dass sie erst fünf Jahre alt war, hatte sie dieses Geld mit ehrlicher Arbeit verdient. Und in seinen Augen waren diese 70 Potch etwas ganz Besonderes. Der Juwelier in Muse hatte jedoch anders darüber gedacht. Als sie den Laden endlich gefunden hatten – Pilikas Beschreibung war doch etwas vage gewesen – hatten sie die Kette schnell gefunden. Es war eigentlich nur ein Lederband mit ein paar Holzanhängern daran, ein stilisierter Fisch, einige kleine Sterne und zwei Steuerräder. Allein vom Betrachten hatte Jowy stark vermutet, dass es womöglich aus den Inselnationen stammen konnte, doch genau konnte ihm das nicht einmal der Verkäufer sagen. Er konnte ihm jedoch etwas Anderes sagen: Nämlich, dass die Kette einem Reisenden gehört hatte, die dieser vor Ewigkeiten als Pfand im Laden gelassen, sie jedoch nie abgeholt hatte. Ein Verkauf war ausgeschlossen. Vielleicht hatte der Verkäufer Mitleid gehabt. Vielleicht war ihm plötzlich klar geworden, dass er diese Kette ohnehin niemals mehr loswerden würde, da der eigentliche Besitzer wahrscheinlich ganz vergessen hatte, dass sie existierte. Jedenfalls hatte er ihnen ein Angebot gemacht: Für 500 Potch war er bereit, ihnen die Kette zu verkaufen. Als er den Preis gehört hatte, waren Jowys Gesichtszüge kurzzeitig entgleist und er hatte einen Blick mit Riou gewechselt. So viel Geld hatten sie nicht eingeplant. Doch als Riou einen leisen Seufzer ausstieß und Anstalten machte, seine Geldbörse zu ziehen, um den verlangten Preis zu bezahlen, hatte Jowy bereits eine Entscheidung getroffen. „Wie viel würdet Ihr mir für diesen Ring bezahlen?“ Er hatte die überraschten Blicke seiner Gefährten auf sich gespürt, doch sich dazu gezwungen, sie zu ignorieren, als er den silbernen Siegelring der Atreides-Familie von seinem linken Ringfinger gezogen und ihn dem verblüfften Verkäufer unter die Nase gehalten hatte. „Jowy…“, hatte er Nanamis leisen Protest gehört, doch er hatte nur den Kopf geschüttelt und den Verkäufer angesehen. „Also?“ Der Mann hatte die Stirn gerunzelt, ehe er den Ring in Empfang genommen und ihn genau betrachtet hatte. „Das ist das Siegel einer der Adelsfamilien aus Highland“, hatte er schließlich nach einer langen Pause festgestellt, „das Silber ist makellos. Ich vermute, er ist an die 3000 Potch wert.“ Jowy hatte sich abwesend den unangenehm kribbelnden Finger gerieben, an dem der Ring zuvor gesteckt hatte, und dann mit überraschend fester Stimme gesagt: „Behaltet das übrige Geld und gebt mir nur die Kette.“ Der Juwelier hatte sich vor Überraschung verschluckt und leicht gehustet: „Seid ihr euch da ganz sicher? Dieser Ring ist mehr wert und ich kann Euch…“ „Nein, schon gut“, hatte der junge Aristokrat ihn unterbrochen, „ich möchte ihn nicht mehr. Die Kette ist genug.“ Er hatte skeptische Blicke geerntet, doch schlussendlich waren sie mit dem Geburtstagsgeschenk wieder aus dem Laden getreten. Ob er sich das auch ganz genau überlegt hätte, hatte Nanami gefragt. Ob das nicht ein Fehler wäre. Ob ihn denn wirklich nichts mehr mit seiner Familie verband. Er hatte keine Antwort auf diese Fragen. Seit sie Highland verlassen hatten – Hals über Kopf, ohne recht zu wissen, was genau auf sie zukam – war der Ring mehr und mehr zu einem höhnischen Mahnmal geworden. Er wollte ihn nicht mehr. Er war eine Last gewesen, die er jetzt losgeworden war. Ob dies zum Besseren oder zum Schlechteren war, würde sich noch herausstellen. Sie befanden sich auf dem Rückweg nach Toto. Die warmen Sonnenstrahlen versprachen schon jetzt einen heißen Sommer und er dachte zurück an unbeschwerte Tage aus seiner Kindheit, in denen er mit Riou und Nanami lachend durch die Straßen von Kyaro gelaufen war. Er war so vertieft in seine Gedanken, dass er erschrocken zusammenzuckte, als Shiro plötzlich zu bellen begann. Verwirrt drehte er sich zu dem Wolfshund um, der stehen geblieben war und nun laut knurrte. „Was ist denn los, Shiro?“, fragte Kinnison verblüfft, „Riechst du etwas?“ Der Hund knurrte nur noch lauter und legte die Ohren an, ehe er zu winseln begann. Da jedoch stellte Gengen die Ohren auf und schnupperte: „Riecht nach Rauch, jawohl. Geruch nicht gut. Nicht hierher gehören!“ „Das Dorf!“, japste Millie in diesem Moment und zeigte nach Osten, dahin, wo das Dorf Toto lag. Jowy fuhr herum und erstarrte, als er eine Rauchfahne entdeckte, welche den Himmel in der Ferne verdunkelte. Fassungslos starrte er die schwarzen Schwaden an, die hinter dem kleinen Wald aufstiegen, und spürte, wie ein fassungsloses Grauen von ihm Besitz ergriff. „Nein…“ „Wir müssen uns beeilen“, ertönte Rikimarus Stimme wie aus weiter Ferne, „los!“ Jowy spürte, wie Riou ihn am Arm ergriff und mit sich zog, als die Gruppe zu rennen begann. Noch bevor sie das Dorf erreichten, wusste Jowy, dass sie viel, viel zu spät kamen. Die Dorfmauern waren heruntergebrannt und von den Häusern war nicht viel mehr übrig als zerfallene, verbrannte Ruinen, deren Asche noch immer glomm. Entsetzen schien ihm die Luft abzuschnüren, als er zögernd einen Fuß vor den anderen setzte und das Ausmaß der Zerstörung betrachtete. Ein kaltes, schweres Gefühl breitete sich in seiner Magengegend aus und er spürte, wie ihm übel wurde, als ein Blick über leblose Körper, Blutlachen und letzte Feuerherde glitt. „Was… was zum…?“ Seine Stimme zitterte. „Das… das glaube ich einfach nicht“, hörte er Nanami neben sich hauchen und er musste sie nicht ansehen, um zu wissen, dass sie Tränen in den Augen hatte. Shiro winselte leise… vielleicht war es aber auch Gengen, er wusste es nicht. Es spielte keine Rolle. All das… das war zu viel. Das Abschlachten der Einhorn-Brigade, der Verrat seiner Familie und jetzt das! Er spürte, wie in seinem Inneren erneut etwas zerbrach, viel heftiger als zuvor. Und dann fasste er eine Entscheidung und rannte los. „Jowy?!“, schrie Riou ihm hinterher, doch er blieb nicht stehen, „Wo willst du hin?!“ „Ich muss sie finden!“, brüllte er zurück und beschleunigte seine Schritte noch weiter, verzweifelt versuchend, nicht auf die Zerstörung um sich herum zu achten. Er wusste selbst nicht genau, warum er überhaupt nach ihnen suchen wollte. Letzten Endes würde er ja doch nichts ändern können. Aber er konnte nicht… er konnte nicht einfach…! Der Schrei eines Kindes ließ ihn erstarren. Es war ein verzweifeltes Weinen, ein hysterisches Schluchzen, das da offensichtlich aus dem Mund eines Kindes kam. Jowy spürte, wie ein kleiner Funke Hoffnung sich in seinem Inneren entzündete. Vielleicht… vielleicht… Er wandte sich in die Richtung, aus der das Weinen kam, und als er zwischen zwei verbrannten Häusern hindurchschritt, fiel sein Blick auf drei Personen, die in einiger Entfernung dicht beieinander standen. Einer von ihnen war ein junger Mann in fremdländischer Kleidung, der mehr als überfordert mit der Situation aussah, die zweite Person war die grimmige Frau, die er bei seinem letzten Besuch in Toto bemerkt hatte, und die dritte… „Pilika!“ Die drei sahen auf und das kleine Mädchen schluchzte auf, als sie ihn erkannte. Sie stürzte völlig verheult in seine Arme und klammerte sich hilfesuchend an ihn, während ihr Körper von Weinkrämpfen geschüttelt wurde. „Was… was ist denn nur passiert…?“ „Jowy!!“ Er blickte kurz über seine Schulter zurück und sah, dass der Rest der Gruppe ihn eingeholt hatte; sie sahen genauso verloren aus, wie er sich fühlte. „Seid ihr Freunde des Mädchens?“, fragte die große, grimmige Frau, die im Moment gar nicht so grimmig aussah. Vielmehr wirkte sie verzweifelt, gebrochen, hilflos. Und wenn er sich nicht stark irrte, war sie verletzt… oder das Blut auf ihrer Rüstung stammte von jemand anders. „Ich… ja“, antwortete Riou, „Was ist hier passiert?“ Die Frau schüttelte den Kopf und erwiderte leise: „Ich… ich konnte nichts tun…“ Jowy und Riou wechselten einen Blick, ehe der Aristokrat das kleine Mädchen in seinem Arm näher an sich drückte und ihr übers Haar strich. Bei den Runen, was sollte er nur tun? Wie konnte er ein Kind trösten, wenn er selbst nicht wusste, was zu tun war? Wie sollte er ihr erklären…? „Pa-pa-papa… Papa hat gesagt ‚Versteck dich!’, also… also…“, begann Pilika schluchzend und er starrte mit wachsendem Grauen auf ihren Hinterkopf hinunter, „also hab ich mich versteckt. Ganz gut, niemand… niemand hat mich gefunden! Aber, aber… es war so laut! Ich hab Lärm gehört, viel Lärm… ganz viel Angst-Lärm!“ Wieder schluchzte das Mädchen herzzerreißend auf und weinte in sein Hemd, ehe sie fortfahren konnte: „Also… also… habe ich hingesehen, nur ganz, ganz kurz… und, und, und…! Mama und Papa lagen da und sie… sie haben sich nicht bewegt! Und da war überall… rotes, klebriges Zeug… und ich… ich…!“ Sie heulte auf und begann, vehement den Kopf zu schütteln, während sie immer lauter weinte. Erst nach einer ganzen Weile, in der das kalte Gefühl in Jowys Magengegend immer schwerer zu werden schien und ihm immer übler wurde, erzählte Pilika leise weiter: „Ich… ich… ich… Ich weiß… Mama und Papa sind… sie sind tot, nicht wahr? Papa hat mir davon erzählt, als meine Katze gestorben ist… aber… aber…“ Sie hielt inne und sah zu ihm auf, mit großen Augen voller Tränen. „Aber es ist in Ordnung. Papa… Papa hat gesagt, dass es nicht schlimm ist, tot zu sein… Das ist, als wenn man weit, weit weg geht… nicht wahr? Nicht wahr? Ich… ich werd ein braves Mädchen sein…“ Gerade hatte er gedacht, dass sie sich beruhigt hätte, doch in diesem Moment fing sie wieder an zu weinen und nach ihren Eltern zu rufen. Hilflos drückte er das Mädchen fester an sich und wünschte sich verzweifelt, etwas tun zu können, um sie zu beruhigen. „Hallo?“, ertönte plötzlich eine Stimme und er hob den Kopf und sah sich um, genau wie alle anderen, „Ist hier irgendjemand? Hallo!“ Eine junge Frau mit kinnlangen, braunen Haaren, einer großen Brille und mit einem langen, gelben Mantel bekleidet, unter dem sie ein beiges Hemd und eine weiße Hose zu tragen schien, tauchte plötzlich zwischen den zerfallenen Häusern auf. Sie hielt ein Buch an sich gedrückt und sah sich um, scheinbar auf der Suche nach jemandem. Dann schien sie die Gruppe zu bemerken, die sich um Jowy und Pilika versammelt hatte, und eilte auf sie zu. „Ihr… ihr seht nicht aus wie Highland-Soldaten“, bemerkte sie, nachdem sie jeden der Anwesenden in Augenschein genommen hatte, „Seid ihr Überlebende?“ Jowy nickte nur, dann fragte Riou: „Was ist hier passiert?“ Die junge Frau betrachtete kurz die zerstörten Häuser um sie herum, dann sagte sie leise: „Luca Blight. Er und seine Armee haben dieses Dorf überrannt. Er hat alles geraubt, was er konnte, und dann alles in Brand gesteckt, nur um seine Männer zu unterhalten. Und als nächstes wird er…!“ Sie hatte sich in Rage geredet und schüttelte nun den Kopf, ehe sie tief Luft holte und fragte: „Kennt ihr einen Mann namens Viktor? Er ist ein Söldner und sollte sich hier ganz in der Nähe aufhalten…“ „Ja, wir kennen ihn“, bestätigte Riou, „Warum?“ „Wir haben keine Zeit“, erwiderte die junge Frau gepresst, „wenn ihr ihn kennt, dann bringt mich bitte so schnell es geht, zu ihm!“ „Warte!“, rief Jowy, „Pilika weint immer noch!“ Die junge Frau warf ihm einen mitleidigen Blick zu, schüttelte den Kopf und sagte: „Tut mir leid, aber wir haben absolut keine Zeit. Schleif sie mit dir, wenn du musst, aber wir müssen unbedingt gehen!“ Nur widerstrebend hatte Jowy dieser Anweisung Folge geleistet. Er trug die noch immer schluchzende Pilika auf dem Arm, während er Riou und den anderen folgte. Apple – so hieß die junge Frau mit der Brille – schien es eilig zu haben und trieb sie ständig vorwärts. Doch niemand protestierte. Die zwei anderen, die sie neben Pilika angetroffen hatten, waren Reisende, die gerade in Toto Halt gemacht hatten, als die Highlander eingefallen waren. Der junge Mann – Zamza – hatte die ganze Zeit über nicht viel gesagt, sondern ihnen allen nur überhebliche Blicke zugeworfen, sodass Jowy sich nicht ganz sicher war, was er von diesem Kerl halten sollte. Die große Frau hieß Hanna und hatte ihnen leise davon berichtet, wie sie verzweifelt versucht hatte, eine Gruppe Kinder zu beschützen, jedoch verwundet und einfach liegen gelassen worden war, da sie ihr Bewusstsein verloren hatte und die Soldaten wohl gedacht hatten, dass sie tot war. „All die Jahre des Trainings“, murmelte sie leise, „alles umsonst… ich konnte niemanden beschützen…“ Jowy hätte gerne etwas gesagt, um sie aufzuheitern, doch ihm fiel nichts ein. Er drückte Pilika, deren Schluchzer inzwischen leiser wurden, enger an sich und ließ seinen Blick über die Gruppe gleiten. Kinnison schritt mit grimmiger Miene neben ihm her, den Blick fest auf den Boden gerichtet. Seine Hand fuhr von Zeit zu Zeit durch Shiros weißes Fell, der mit hängenden Ohren neben seinem Herrchen hertrabte. Sogar der Hund schien betrübt zu sein. Millie hatte die Arme um ihren Oberkörper geschlungen, als fürchtete sie, dass etwas in ihr zerbersten könnte, wenn sie es nicht tat, und Bonaparte saß auf ihrem Kopf, eingebettet in die große Ballonmütze. Vielleicht spürte das Tierchen die Verzweiflung seiner Besitzerin. Jedenfalls verhielt es sich so still wie nie zuvor… Rikimaru stützte Hanna und blickte nach vorn, sein Gesichtsausdruck war unergründlich. Doch in seinen dunklen Augen tobte ein Sturm. Gengen schlich mit hängenden Ohren und ungewohnt schweigsam hinter ihnen her. Der Kobold sah zu Boden und schien seinen eigenen Gedanken nachzuhängen… wie sie alle. Riou hatte einen Arm um Nanamis Schultern gelegt und spendete seiner Adoptivschwester stummen Trost, während sie von Zeit zu Zeit einen Blick über ihre Schulter warf, als wolle zurück. Jowy seufzte leise und schüttelte den Kopf. Traurige Gesichter, rasende Gedanken… Der Krieg hatte begonnen. Im Söldnerfort angekommen, liefen sie fast sofort Viktor und Flik über den Weg, die mehr als erstaunt zu sein schienen. „Hey, wenn das nicht Apple ist!“, rief der hochgewachsene Söldner, als er die Gruppe erblickte, „Meine Güte, bist du groß geworden, wir haben uns ja ewig nicht gesehen!“ „Du!“, rief Apple wütend, machte einen entschlossenen Schritt auf ihn zu und stieß ihm einen Finger in die Brust, „Spielst dich hier als Pate aller Söldner auf und benachrichtigst uns nicht einmal?! Wir haben uns verdammte Sorgen gemacht!“ Viktor blinzelte überrumpelt und sah auf sie hinunter, während Flik ihn ungläubig anstarrte. „Du hast wirklich Nerven, Viktor!“, knurrte der blaugekleidete Söldner aufgebracht, „Ich kann es nicht glauben! Du hast gesagt, du würdest ihnen Bescheid geben!“ Mit der Situation überfordert, begann Viktor nervös zu lachen, räusperte sich dann und fragte laut: „Was führt dich denn überhaupt her, Apple?!“ Die Brillenträgerin zuckte zusammen und sah kurz zur Seite, dann erkundigte sie sich leise: „Können wir irgendwo hingehen… wo man sich in Ruhe unterhalten kann?“ „Sicher“, erwiderte Flik verblüfft und bedachte die Gruppe zum ersten Mal bewusst mit einem langen Blick, runzelte dann besorgt die Stirn und bedeutete ihnen, ihm zu folgen. Mit der inzwischen eingeschlafenen Pilika auf dem Arm folgte Jowy ihnen, ohne wirklich darüber nachzudenken. Seine Bewegungen schienen automatisiert, fast, als würde sein Körper ohne sein Zutun handeln; mit nichts sehendem Blick folgte er einfach Rious gleichmäßigen Schritten. Erst in dem großen Konferenzraum war er in der Lage, sich zusammenzureißen und in die Gegenwart zurückzukehren. Viktor und Flik fixierten die müden, deprimierten Gesichter besorgt, dann fragte der bärige Söldner: „Was ist passiert?“ „Luca Blight hat das Dorf Toto angegriffen“, antwortete Apple kopfschüttelnd. Sie war ruhiger, als sie hätte sein dürfen – immerhin war vor nicht allzu langer Zeit ein ganzes Dorf dem Erboden gleichgemacht worden. Aber irgendwie hatte Jowy das Gefühl, dass die junge Frau in einer absurden Weise an Krieg gewöhnt war. „Ich bin hergekommen, um euch zu warnen“, fuhr sie fort und blickte die beiden Söldner ernst an. „Luca Blight…“, knurrte Flik und biss sich auf die Lippe, „Dieser Mistkerl!“ „Es ist furchtbar“, sagte Apple und klang plötzlich doch erschöpft, als ob sie sich erst jetzt erlaubte, die Erinnerungen an das Gesehene ihrer habhaft zu werden, „Er hat alles geraubt, was zu holen war, und dann haben sie das Dorf bis auf die Grundmauern heruntergebrannt. Diese Leute“, sie wies auf Pilika, Hanna und Zamza, „sind die einzigen Überlebenden.“ „Verdammt!“, fluchte Viktor, „Was hat er vor?!“ „Er plant eine Invasion des Staatenbundes“, erklärte Apple, „Toto war nur eine Aufwärmübung… Dieses Fort steht ihm im Weg, Viktor. Wenn er es ignoriert, riskiert er, an seinen Flanken angegriffen zu werden, wenn er nach Muse marschiert.“ „Und Agares lässt das einfach so zu?“, verlangte Viktor zu wissen und schüttelte ungläubig den Kopf, „Das ist doch ein Scherz. Agares mag stur sein, aber es ist kein Idiot!“ „Soweit ich weiß, hat Luca eine Art Überraschungsangriff auf die Jugendbrigade der Armee von Highland befohlen und es so gedreht, dass es aussah wie ein Angriff des Staats. Und jetzt schreit das ganze Land nach Rache für die jungen Männer, die ihre Leben bei diesem Angriff lassen mussten! Das kann Agares nicht ignorieren, er würde einen Bürgerkrieg provozieren.“ Apple stieß aufgebracht Luft aus ihren Lungen, dann sagte sie: „Er mag sich für den Moment vom Gebiet des Staates zurückgezogen haben, aber ich bin mir sicher, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis Luca Blight wieder angreift.“ „Er kann doch nicht jeden mit diesem Zirkus zum Narren halten!“, rief Flik und schlug mit der Faust so laut auf den Tisch, dass Pilika zusammenzuckte und erwachte. Erschrocken begann das kleine Mädchen wieder zu weinen und Jowy beeilte sich, ihr beruhigende Worte ins Ohr zu flüstern. Flik beobachtete die Szene zerknirscht, schüttelte dann den Kopf und seufzte schwer. „Ihr habt gute Arbeit geleistet“, sagte Viktor daraufhin, „Flik, Apple und ich werden das ganze weiter besprechen. Warum geht ihr nicht und ruht euch aus? Ihr müsst müde sein. Für die Neuankömmlinge gibt es auch Platz genug.“ Er warf Millie, Rikimaru, Kinnison, Hanna und Zamza ein flüchtiges Lächeln zu, dann kratzte er sich am Kopf. Zum ersten Mal, seit Jowy den Söldner kannte, wirkte der Bär verloren. „Danke“, seufzte Jowy schließlich, dann wandte er sich ab und bahnte sich mit der noch immer weinenden Pilika einen Weg nach draußen. Wieso konnte man die Zeit nicht zurückdrehen? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)