Another Side, Another Story von _Kima_ (The Traitor's Tale) ================================================================================ Kapitel 9: Wo das Herz ist -------------------------- Am frühen Nachmittag betrat das seltsame kleine Grüppchen das Dorf Toto. Instinktiv hielt Jowy auf den Straßen Ausschau nach einem bekannten Gesicht, doch er sah nur eine muskulöse, grimmige Frau, an deren Hüfte ein Breitschwert hing und die aufmerksam den Dorfplatz zu beobachten schien, auf dem wie gewohnt reges Treiben herrschte. „Das ist also Toto?“, fragte Riou und fing Jowys Blick auf, „Es ist schön hier.“ „Ja“, nickte der junge Aristokrat und dachte daran, wie wohl er sich hier gefühlt hatte, während er bei Joanna, Marx und Pilika gelebt hatte. Ob er es sich wohl erlauben konnte, ihnen einen Besuch…? „Onkel! Onkel Jowy!!“ Er zuckte zusammen und sah auf, nur um im nächsten Moment Pilika zu erkennen, die fröhlich lachend auf ihn zugelaufen kam und ihn in Bauchhöhe fest umarmte. „Onkel! Onkel!“, rief sie immer wieder, während sie das Gesicht in seinem Hemd vergrub, „Du bist wieder da!“ „Pilika“, sagte er und spürte, wie sich in seinem Inneren plötzlich ein wohliges, warmes Gefühl ausbreitete, das ihn Zuhause nie ereilt hatte, „Geht es dir gut?“ Sie ließ ihn los und schaute ihn mit einem breiten Lächeln an, ehe sie nickte und erwiderte: „Ja! Mir geht’s gut.“ „Das freut mich“, lächelte Jowy und ging unter den erstaunten Blicken seiner Begleiter in die Hocke, um mit dem Mädchen auf einer Augenhöhe zu sein, „Hast du viel erlebt, seit ich gegangen bin?“ „Ganz viel!“, nickte Pilika eifrig, „Ich war mit Mama und Papa in Muse! Wir mussten ein…“, sie zögerte und schien nach dem richtigen Wort zu suchen, „ach ja! Wir mussten ein Opfer für Papas Schrein besorgen. Es war ganz weit weg, aber ich bin ganz allein gegangen. Ist das gut, Onkel Jowy?“ Sie sah ihn erwartungsvoll an und er fühlte sich gerührt, dass sie so viel Wert auf seine Meinung legte. Also nickte er und sagte: „Ja, Pilika, sehr gut. Du bist ein gutes Mädchen.“ Er strich ihr übers kurze, braune Haar und sie kicherte vergnügt. Er hatte es sich nicht eingestehen wollen, aber er hatte sie vermisst. Und plötzlich wünschte er sich, eine kleine Schwester zu haben. „Wer ist das Kind?“, fragte Nanami stirnrunzelnd und Jowy sah zu ihr auf. Er bemerkte, dass Riou ihn irgendwie zufrieden betrachtete, beschloss aber, dass der Jüngere wohl seine Gründe hatte. Er erhob sich wieder und erklärte: „Das ist Pilika. Sie war diejenige, die mich gefunden und zu ihrer Familie gebracht hat, nachdem… du weißt schon.“ Nanami nickte und lächelte Pilika zu, dann sagte sie: „Hallo, Pilika. Ich bin Nanami.“ Das kleinere Mädchen nickte und rief: „Hallo, Tante Nanami!“, dann blickte sie allerdings zu Riou hoch und betrachtete ihn einen Moment lang aufmerksam. Schließlich trat sie zu ihm und fragte: „Bist du ein Freund von Onkel Jowy? Du siehst genau so lieb aus wie er.“ Riou grinste, kniete sich hin, um ihr in die Augen sehen zu können und antwortete: „Ja, ich bin sein bester Freund.“ Er sagte das ohne Stolz oder Arroganz, es war eine bloße Feststellung, eine Tatsache. Und genau so war es. „Ich wusste es!“, triumphierte Pilika, „Wie heißt du, Onkel?“ „Ich bin Riou.“ „Onkel Riou, ja? Ich bin Pilika! Freut mich, dich kennen zu lernen“, sagte sie freundlich, dann kehrte ihre Aufmerksamkeit zu Jowy zurück und sie rief: „Onkel Jowy! Bring Onkel Riou und Tante Nanami mit zu mir nach Hause, ja?“ „Meinst du denn, dass deine Mama und dein Papa einverstanden sind?“, fragte Nanami besorgt, doch Pilika nickte bestimmt: „Ja! Los, los! Beeilt euch, ja? Ich warte zu Hause!“ Mit diesen Worten lief sie los und verschwand zwischen den Häusern. Jowy, Riou und Nanami tauschten einen Blick, dann wandte sich der Aristokrat an die anderen, die stumm lächelnd die Szene betrachtet hatten: „Hört mal… wäre es in Ordnung für euch, wenn ihr im Gasthaus auf uns warten würdet?“ „Aber sicher“, erwiderte Kinnison und kraulte Shiro hinterm Ohr. „Ist Zeit zu essen“, stimmte Gengen ihm zu, „Tapfere Kobold-Krieger brauchen viel gutes Essen, jaja.“ „Essen klingt gut“, meinte Rikimaru und auch Millie nickte heftig, „wir warten dann auf euch drei, ja?“ „Einverstanden“, sagte Riou und lächelte, „Danke.“ Er überreichte Kinnison seinen Geldbeutel, den dieser mit einem Nicken entgegen nahm. „Keine Ursache. Wir sehen uns später“, entgegnete der Jäger mit einem Augenzwinkern, dann hob er zum Abschied die Hand und die drei Menschen, der Kobold und der Wolfshund bogen in die Richtung eines großen Gebäudes ab, welches die anderen Häuser im Dorf überragte. „Geht das wirklich in Ordnung?“, fragte Jowy die Geschwister leise, doch Nanami winkte resolut ab: „Natürlich ist das okay! Mach dir nicht immer so viele Gedanken, davon bekommst du Falten!“ Er grinste schwach, dann führte er die beiden zu Pilikas Haus. Es war erstaunlich, wie leicht es ihm fiel, zurück zu finden. Es war etwa drei Wochen her, seit er Toto hinter sich gelassen hatte, aber dennoch kam es ihm vor, als würde er das Haus, in dem diese nette, kleine Familie wohnte, selbst im Schlaf noch finden können. Was war es, das ihn so zu ihnen zog? Das dieses seltsame, warme Gefühl in ihm auslöste? Er wusste es nicht. Aber er wusste, dass das Gefühl, als wäre er wirklich nach Hause zurückgekehrt, ihn beim Betreten des Anwesens der Atreides-Familie nie derart überwältigt hatte. Wie versprochen hatte Pilika ungeduldig auf sie gewartet und riss die Eingangstür auf, sobald die Jugendlichen in ihre Sichtweite gelangten. „Mama! Papa!“, rief sie ins Innere des Hauses hinein und klang dabei so begeistert, dass Jowy unwillkürlich grinsen musste, „Kommt doch mal her! Los, los! Kommt her und schaut doch mal!!“ Einen Moment später traten die reichlich verwirrten Joanna und Marx aus dem Haus, doch als ihre Blicke auf Jowy fielen, der stehen geblieben war und etwas unbeholfen in ihre Richtung lächelte, verzogen sich ihre Lippen zu einem breiten Lächeln. „Jowy“, begrüßte Marx ihn mit einem Nicken, „Willkommen zurück.“ Joanna eilte strahlend auf ihn zu und schloss den Jungen in eine mütterliche Umarmung, ehe sie sich etwas von ihm entfernte und ihn von Kopf bis Fuß fixierte. „Du siehst gut aus“, stellte sie fest und lächelte wieder, „Du bist gegangen, bevor deine Wunden verheilt waren… wir haben uns solche Sorgen gemacht… Aber es ist alles in Ordnung.“ Sie atmete erleichtert durch und ließ ihn los, während Marx zu ihr trat und einen Arm um ihre Hüfte legte. „Ich… bin froh, euch wiederzusehen“, sagte Jowy mit brüchiger Stimme, „Ich weiß gar nicht, wie ich euch dafür danken soll, was ihr für mich getan habt…“ „Wir haben nur getan, was jeder getan hätte“, erwiderte Marx kopfschüttelnd, „Du brauchst dich nicht zu bedanken, Junge.“ „Das stimmt“, pflichtete Joanna ihrem Mann bei, dann wanderte ihr Blick zu Riou und Nanami, die irgendwie gerührt etwas abseits standen und sie fragte: „Du hast Freunde mitgebracht?“ „Ja“, nickte Jowy und grinste etwas, „Das sind Riou und Nanami, meine besten Freunde.“ „Dann bist du also der Freund, den Jowy unbedingt suchen gehen wollte“, sagte Joanna an Riou gewandt und gab den Geschwistern nacheinander die Hand, „willkommen, ihr beiden.“ „Kommt erst einmal rein“, unterbrach Marx lachend die Begrüßungen, „ihr seht hungrig aus.“ „Oh, wir wollten nicht…“, begann Jowy, der eigentlich nicht vorgehabt hatte, lange zu bleiben, doch Joanna schnitt ihm resolut das Wort ab: „Ach was! Jetzt, wo ihr da seid, lassen wir euch nicht so schnell wieder gehen.“ Ohne auf die weiteren, halbherzigen Proteste der Jugendlichen zu achten, winkte sie die drei ins Haus und ehe sie sich’s versahen, saßen sie bereits am Tisch und aßen mit der Familie zu Abend. „Warst du inzwischen zu Hause?“, erkundigte sich Joanna irgendwann, „Deine Familie macht sich doch sicher Sorgen um dich, Jowy.“ Er hielt im Essen inne und fühlte sich plötzlich so, als hätte er soeben einen Schlag in den Magengegend bekommen. „Ich… wir…“, begann er, verstummte jedoch und sah kurz zu Riou und Nanami, die schweigend in ihre Teller starrten, dann seufzte er und flüsterte: „Wir können nicht mehr nach Hause gehen.“ Er erwartete, dass Fragen auf ihn einprasseln würden. Dass Joanna und Marx ihn ausfragen würden, warum er nicht nach Hause konnte, was eigentlich passiert war… aber entgegen all seiner Erwartungen und Befürchtungen und obwohl er wusste, dass diese Menschen mehr als alle anderen ehrliche Antworten verdient hatten, ertönte lediglich Marx’ ruhige, freundliche Stimme: „Wenn das so ist, dann betrachtet dieses Haus als euer Zuhause. Ihr seid hier jederzeit willkommen, Kinder.“ Drei Köpfe fuhren gleichzeitig hoch, drei Augenpaare richteten sich ungläubig auf den braunhaarigen Mann mit den freundlichen grauen Augen. Jowy spürte, wie ein kalter Schauer seinen Rücken hinablief und ein Kloß sich in seinem Hals bildete. „Ganz genau“, nickte nun auch Joanna und lächelte Pilika zu, „du bist doch auch dafür, nicht wahr, Pilika?“ „Ja!“, krähte das Mädchen zufrieden und reckte in einer Jubelpose triumphierend die Arme in die Luft, „Dann wird Onkel Jowy immer bei mir sein! Und Onkel Riou und Tante Nanami!“ Sie lachte vergnügt. Jowy hingegen spürte, wie er unkontrolliert zu zittern begann. Vor lauter Rührung und Dankbarkeit schnürte es ihm die Luft ab und er merkte, wie seine Augen feucht wurden. „Danke“, hörte er sich selbst flüstern, „vielen Dank… Ich bin… so froh…“ Er fand selbst, dass sich das seltsam und fast schon lächerlich anhörte, aber er konnte seine Gefühle nicht in Worte fassen. Dazu war er einfach zu gerührt. „Pilika freut sich auch“, schmunzelte Joanna, was ihre Tochter mit einem lauten: „Ja!“, bestätigte. Während er die kleine Familie betrachtete, die ihm und seinen zwei besten Freunden soeben ein neues Heim angeboten hatte, wurde Jowy klar, dass längst nicht alles in seinem Leben verloren war. Ja, er war ein Highlander… aber es schien ganz so, als könne er noch einmal von vorne anfangen. Etwa eine Stunde später döste Pilika auf dem Schoß ihrer Mutter, während sich die Jugendlichen leise mit den Erwachsenen unterhielten. Sie hatten ihnen noch immer nicht die Wahrheit verraten… aber irgendwie brachte es keiner von ihnen über sich, ein solches Geständnis zu machen. Und Jowy persönlich wollte eigentlich vergessen, wo er ursprünglich herkam. „Vielleicht sollten wir jetzt gehen“, sagte Riou und erhob sich, „die anderen warten bestimmt schon.“ „Was habt ihr jetzt vor?“, fragte Marx ehrlich interessiert, „Werdet ihr Toto wieder verlassen?“ „Ja, wahrscheinlich“, nickte Jowy, „Wir wollen euch nicht allzu lange zur Last fallen.“ „Wir haben euch doch gesagt, dass ihr jederzeit wiederkommen könnt“, entgegnete Joanna lächelnd. „Danke“, murmelte Nanami und lächelte ebenfalls. Die drei Freunde erhoben sich und verabschiedeten sich leise, als Pilika plötzlich die Augen aufschlug und müde blinzelte, ehe ihr Blick auf Jowy fiel und sie augenblicklich wieder wach wurde. „Onkel Jowy… Onkel Riou, Tante Nanami… geht ihr etwa schon?“ „Es ist spät, Liebes“, erklärte Joanna zärtlich, „wir müssen alle ins Bett gehen.“ Doch das Mädchen war bereits vom Schoß ihrer Mutter gerutscht und war zu Jowy gelaufen, um ihn am Hosenbein zu ergreifen und zu fragen: „Könnt ihr nicht noch ganz kurz bleiben?“ „Riou, Jowy und Nanami sind sehr erschöpft, Pilika“, erwiderte Marx, „Lass sie für heute gehen.“ „Schon gut“, winkte Riou ab, „einen Moment können wir sicher erübrigen.“ „Schließlich ist Pilika ja unsere kleine Freundin“, lachte Nanami und strich dem kleinen Mädchen durchs kurze, braune Haar. „Dann aber schnell, Pilika“, sagte Joanna, „es ist Schlafenszeit.“ „Okaaay!“, rief das Mädchen, dann griff sie nach Jowys Hand und führte ihn und die Geschwister in das kleine Nebenzimmer, in dem die Familie schlief. Dort angekommen, zündete sie eine kleine Lampe an, die auf dem Nachttisch stand und bat Riou, die Tür zu schließen. „Was ist denn, Pilika?“, fragte Jowy, den die Geheimniskrämerei etwas irritierte. Pilika blickte sich um, als fürchtete sie, dass jemand lauschen konnte, und winkte die Jugendlichen dann zu sich: „Kommt näher, ganz nah mit dem Ohr dran!“ Die Freunde tauschten einen Blick, ehe sie der Bitte nachkamen. „Worum geht’s, Pilika?“, erkundigte sich nun auch Nanami und das Mädchen warf ihnen einen verschwörerischen Blick zu, ehe es sagte: „Ich hab etwas wirklich Tolles gesehen, als ich mit Mama und Papa in Muse war!“ „Etwas Tolles?“, wiederholte Jowy stirnrunzelnd. Er war sich nicht ganz sicher, wohin dies führen sollte. „Ja“, nickte Pilika und wandte ihm den Blick ihrer leuchtenden Augen zu, „Papa hat bald Geburtstag… und ich möchte ihm etwas wirklich Schönes schenken! Und in einem Laden in Muse hab ich ein schönes Holzamulett gesehen, mit Sternen und einem Fisch! Meint ihr, dass Papa das mögen wird?“ Die Verwirrung wechselte erneut zu Rührung und Jowy grinste leicht, ehe er dem Mädchen durchs Haar streichelte. „Ich bin mir ganz sicher“, versicherte er ihr und wieder strahlte das kleine Mädchen übers ganze Gesicht. Dann sagte sie: „Wisst ihr, wenn ich Mama und Papa helfe, krieg ich zwei Potch. Und ich hab jetzt genug, um das Amulett zu kaufen… Aber allein darf ich das Dorf nicht verlassen. Könnt ihr also nach Muse gehen und das Amulett kaufen? Bitte, bitte?“ „Natürlich“, nickte Jowy sofort, dem in diesem Moment klar wurde, dass er diesen Augen nichts abschlagen konnte, „Nicht wahr, Riou? Nanami?“ Er blickte zu den anderen beiden auf, doch zu seiner Erleichterung lächelten beide. „Sicher“, nickte Riou und auch Nanami nickte. „Klasse!“, verkündete Pilika begeistert, dann hüpfte sie aufgeregt zu dem kleinen Nachttisch und der kleinen Keramikfigur, die wie eine Katze aussah, und nahm den Kopf ab. Erst jetzt erkannte Jowy, dass es sich um eine Spardose handelte. Das kleine Mädchen förderte einen kleinen Haufen Münzen zutage, den sie vorsichtig in einen kleinen Lederbeutel fallen ließ, den Nanami ihr geistesgegenwärtig hinhielt. „Es ist ein Holzamulett und es ist im großen Laden in Muse“, schärfte sie den Jugendlichen noch einmal ein, nachdem Jowy den Beutel behutsam in Empfang genommen hatte, „Nicht vergessen!“ „Keine Sorge“, versprach Nanami und nickte dem kleinen Mädchen aufmunternd zu, „Wir holen das Geschenk. Aber jetzt sei ein braves Mädchen und geh schön ins Bett, ja?“ „Okay“, erwiderte Pilika zufrieden, „Danke.“ „Keine Ursache“, sagte Jowy und lächelte wieder. Irgendwie… mochte er die Unbeschwertheit, die dieses Mädchen ausstrahlte. Kindliche Naivität, ein warmes Heim, liebevolle Eltern… Er wollte hier bleiben und neu anfangen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)