Another Side, Another Story von _Kima_ (The Traitor's Tale) ================================================================================ Kapitel 2: Auf der Flucht ------------------------- Kapitel 2: Auf der Flucht Jowy erreichte das Fort gegen Mitternacht. Er hatte länger als zwei Stunden gebraucht, doch das war in seinem Zustand auch kein Wunder, und er war immerhin schneller an seinem Ziel angelangt als er befürchtet hatte. Das Fort war eine Festung, die von einem soliden Zaun aus angespitzten Baumstämmen umgeben war, bis auf einen etwa drei Meter breiten Durchgang, vor dem zwei Männer stationiert waren. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit waren dies Söldner und er ging schnell hinter ein paar Bäumen in Deckung. Die Festung der Söldner war im Osten und Westen von Wäldern umgeben und zwangläufig wunderte Jowy sich, wer auf die Idee gekommen war, ein Hauptquartier ausgerechnet an diesem Ort zu bauen. Wenn jemand das Fort hätte angreifen wollen, hätte er leichtes Spiel, da er die Söldner einfach von zwei Seiten in die Zange nehmen konnte. Aber andererseits wussten die Staatler dies wahrscheinlich selbst und es hätte ihn nicht gewundert, wenn in den Wäldern Fallen aufgestellt waren, um zu verhindern, dass ein Feind sich unbemerkt von hinten anschleichen konnte. Jowys Blick wanderte zum Fort selbst. Die meisten Lichter waren gelöscht, doch hinter einigen Fenster schien noch Licht zu brennen… Wieder blickte er zu den beiden Söldnern, die sich leise miteinander unterhielten. Die Frauen in Toto hatten gesagt, dass Riou gefangen gehalten wurde… und Gefangene hielt man im Kerker, richtig? Und höchstwahrscheinlich würden die Söldner nicht sonderlich froh darüber sein, dass er hier war, um ihren Gefangenen zu befreien. Also musste er sich reinschleichen. In Gedanken fasste er in Windeseile einen Plan und bückte sich dann, um einen großen Stein vom Boden aufzuheben. Kurz warf der Blonde einen Blick zurück zu den Wachposten, dann holte er weit aus und warf den Stein so fest er konnte gegen den Holzzaun, möglichst weit weg vom Eingang. „Da war was!“, rief einer der Söldner alarmiert, als der Stein gegen das Holz krachte. „Ja, ich hab’s auch gehört“, nickte der andere und sie nickten einander zu, ehe sie zwischen den Bäumen verschwanden, um den Geräusch nachzugehen. „Jetzt oder nie“, murmelte Jowy, dann rannte er so schnell er konnte in den Innenhof des Forts und war erleichtert, dass sich dort keine Söldner mehr aufhielten. Er schlich zur Tür und hoffte, dass sie nicht verriegelt war, doch als er sie aufzog, glitt sie mit einem leisen Knarren auf. Der Blonde stieß erleichtert den Atem aus, den er ohne es zu bemerken angehalten hatte, und schob sich durch die schmale Türöffnung, ehe er die Tür vorsichtig wieder hinter sich zuzog. Seine Augen brauchten eine Weile, um sich an das Halbdunkel im Inneren des Forst zu gewöhnen, doch dann erkannte er, dass er sich in einem großen Raum befand. Rechts und Links von ihm führten zwei Treppen in den ersten Stock hinauf und den Rest der großen Raumes nahmen lange Tische ein. Außerdem führte eine halboffene Tür scheinbar in eine Küche; sie lag hinter einem Tresen, an der wahrscheinlich die Essensausgabe stattfand. Ein paar andere Türen waren verschlossen und das leise Schnarchen, welches die Stille zerriss, verriet ihm, dass dahinter wohl die Schlafsäle der Söldner lagen. „Halt…“, ertönte ganz in seiner Nähe plötzlich ein Murmeln und er fuhr zusammen. Sein Herz hämmerte panisch in seiner Brust und einen Moment lang fürchtete er, dass man ihn bereits entdeckt hatte, doch dann fiel sein Blick auf eine pelzige Gestalt, die an einem der Tische saß und den Kopf auf die Tischplatte gebettet hatte. Mit klopfendem Herzen trat Jowy näher und erkannte in der pelzigen Gestalt einen Kobold, dessen rötliches Fell in dem Schein der einzigen Fackel zu schimmern schien. „Captain Gegen macht euch alle…“, murmelte das hundeähnliche Wesen im Schlaf und schnarchte leise auf, „Macht euch bereit…“ Der junge Aristokrat atmete erleichtert durch und warf dem schlafenden Kobold einen letzten Blick zu, ehe er sich noch einmal umsah. Irgendwo hier musste es doch… Er bemerkte eine steinerne Treppe, die weiter nach unten führte, und musste unwillkürlich grinsen. Dann schlich er leise die Stufen hinunter in den geräumigen Keller des Forts. Noch von der Treppe aus sah er, dass die Söldner ihren Keller offensichtlich hauptsächlich als Lagerraum nutzten und der schwache Geruch von Schwertpolitur sagte ihm auch, dass man sich hier unten offensichtlich eine Schmiede eingerichtet hatte. Er ließ die Treppe hinter sich und sah sich um. Hier irgendwo mussten doch auch die Kerker sein, nicht wahr…? Sein Blick fiel auf eine eiserne Gittertür und er machte sich befreit aufseufzend auf den Weg. Doch kurz bevor er die Tür erreichte, hielt er inne und ging in Deckung – vor einer der zwei Zellen, die er im schwachen Licht dreier Fackeln erkennen konnte, stand ein Söldner. Soweit Jowy erkennen konnte, war der Soldat nicht viel älter als er selbst, womöglich war er sogar jünger. Seine feuerroten Haare hatte er im Nacken zu einem Zopf geflochten und er trug die gleiche Rüstung wie auch die zwei Söldner am Eingang. Kurz überlegte der junge Aristokrat fieberhaft, doch die Entscheidung, was als nächstes zu tun war, wurde ihm abgenommen, als eine Stimme oben rief: „Hey! Hier hat sich jemand eingeschlichen!“ Erschrocken zuckte Jowy zusammen und tauchte gerade rechtzeitig hinter einen Stapel Kartoffelsäcke, damit der junge Söldner, den er gerade beobachtet hatte, ihn nicht entdeckte. „So ein verdammter Mist“, hörte er den Jungen murmeln, während er an ihm vorbeihastete, „muss so was immer passieren, wenn ich ins Bett will?“ Jowy wartete noch ab, bis der Söldner nach oben verschwunden war, dann kam er aus seinem Versteck hervor und rief leise: „Riou! Bist du hier? Riou!“ „Jowy?!“, ertönte Rious leise, verblüffte Stimme aus einer der Zellen, „Ich bin hier!“ Der Blonde trat an die Zelle, vor der der junge Söldner gerade noch gestanden hatte, und sah in das verblüffte und gleichzeitig unheimlich erleichterte Gesicht seines besten Freundes. Er sah gesund aus – offensichtlich hatte er den Sprung in den Fluss besser überstanden als der junge Aristokrat. Ihm war nichts passiert. „Riou… Den Runen sei Dank“, flüsterte Jowy, dann riss er sich zusammen, „Ich hol dich da raus, warte!“ Riou nickte und trat von seiner Zellentür zurück, während der Blonde mit seinem Stab ausholte und ihn so fest er konnte gegen das Schloss schlug. Glücklicherweise schien es eine Weile her zu sein, dass die Söldner sich darum gekümmert hatten, die Schlösser ihrer Kerker auf Vordermann zu bringen, und so sprang die Tür auf. „Geht’s dir gut?“, fragte Jowy besorgt, als Riou aus der Zelle trat. Der Jüngere nickte und erwiderte: „Was ist mit dir?“ „Nicht der Rede wert“, winkte der Blonde ab, „Lass uns abhauen. Weißt du, wo sie deine Sachen hingebracht haben?“ „Nicht auf Anhieb“, antwortete Riou, „aber wir haben ohnehin keine Zeit.“ „Okay“, nickte Jowy, „dann lass uns abhauen, bevor die Söldner uns erwischen.“ Riou nickte nur, dann verließen sie den Keller eilig, indem sie die Treppe hinaufhasteten. Doch kaum, dass sie oben angekommen waren, war ihre Flucht bereits vorbei. Sie waren umstellt von einer Gruppe bewaffneter Männer, die allesamt auf sie zielten. Zwischen ihnen standen zwei Männer, die nicht die Uniform der anderen trugen. Einer von ihnen war riesig, er überragte sie alle bei weitem, hatte schwarzes Haar, das ihm ungebändigt ins Gesicht fiel, und dunkle Augen, die im Licht der Fackeln schimmerten. Er trug ein gelbes Hemd, dessen Ärmel er offensichtlich abgerissen hatte und somit seine muskulösen Arme entblößte, einen ledernen Brustschutz und eine schwarze Leinenhose. An seiner Hüfte hing ein Schwert, das fast genau so riesig war wie er selbst und Jowy schluckte, als er die dünne Narbe unter seinem rechten Auge bemerkte. Der zweite Mann, der aus der Menge herausstach, war kleiner, doch noch immer größer als die beiden Jungen. Seine hellbraunen Haare wurden ihm von einem blauen Stoffband aus der Stirn gehalten und er trug eine dunkelblaue Lederkluft über einem hellgelben Hemd, einen blauen Umhang aus dem gleichen Stoff wie auch das Stirnband und ebenfalls eine schwarze Hose. Auch an seiner Hüfte hing ein Schwert, doch es war bedeutend schmaler und filigraner als das seines Gefährten. Der kleinere Mann fixierte die Jungen mit ernstem Blick aus blauen Augen und verschränkte die Arme vor der Brust, ehe er sagte: „Okay, das war’s. Ergebt euch, Jungs, bevor wir Erwachsenen noch wirklich wütend werden.“ Jowy presste trotzig die Lippen aufeinander. Er hasste es, wenn Erwachsene ihn nicht ernst nahmen… und das war hier ganz klar der Fall. Aber andererseits waren die Söldner alle bewaffnet und der große Kerl machte ihm mehr als nur ein wenig Angst. „Wir… wir sind in der Unterzahl“, murmelte er, ließ jedoch seinen Stab nicht sinken. Vielleicht… vielleicht…! „Okay, wir geben auf“, sagte Riou in diesem Moment und legte eine Hand auf Jowys. Der Blonde sah den Jüngeren überrascht an, doch dieser lächelte ihm nur kopfschüttelnd zu, und er seufzte. Wahrscheinlich hatte Riou Recht. Wie immer. „Lass die Waffe fallen“, sagte der Mann mit dem blauen Stirnband und widerwillig tat Jowy wie geheißen. Sofort wurde er von Söldnern ergriffen, doch er wehrte sich nicht, als man ihn und Riou in den ersten Stock schleppte; es hatte ohnehin keinen Sinn. Die Söldner führten die Jungen in einen großen Raum, in dem ein großer Tisch stand, auf dem eine gewaltige Karte des Staates lag. Sogar ein Teil von Highland war darauf noch zu sehen. An den Wänden befanden sich Regale voller Bücher und am anderen Ende des Raumes befand sich ein Kamin, in dem noch ein paar letzte Kohlen glühten. „Lasst uns allein“, sagte der Mann in blau an die anderen Söldner gewandt, „Ich glaube, wir kommen schon allein mit ihnen klar.“ Alle bis auf den Riesen taten wie ihnen geheißen und verließen den Raum, Riou und Jowy blieben eingeschüchtert da, während der Riese die Tür hinter den anderen abschloss. Der andere Mann warf derweil ein paar Holzscheite aus einem Korb neben dem Kamin in die Glut und goss etwas Öl in zwei Öllampen, die sofort heller leuchteten. „Fangen wir mit deinem Namen an“, sagte der Riese mit einer tiefen Stimme, die Jowy unweigerlich an einen Bären erinnerte. Die beiden Männer nahmen eine Position vor dem Kamin ein, die Jungen blieben am anderen Ende des Tisches stehen. „Jowy“, sagte der Blonde nach kurzem Zögern, „Jowy Atreides.“ „Jowy. Okay“, nickte der Riese und grinste dann, „Ich bin Viktor und das ist Flik.“ Er nickte in Richtung seines Gefährten, der mit vor der Brust verschränkten Armen an einer Wand lehnte und die Jungen schweigend beobachtete. Riou schien das alles nichts Neues zu sein und er blieb ruhig. Der Blick von Viktors dunklen Augen glitt kurz aufmerksam über Jowys Gesicht, dann fragte er: „Da du gekommen bist, um Riou zu befreien, gehe ich wohl recht in der Annahme, dass du auch ein Highlander bist?“ Wieder zögerte der Blonde kurz, ehe er antwortete: „Das ist richtig.“ Er fühlte sich wie auf dem Präsentierteller und wohl fühlte er sich schon gar nicht. Er wusste nicht, was in den Köpfen der beiden Söldner vorging, doch ihm war klar, dass sie ihn wohl nicht mit offenen Armen empfangen würden. „Ich verstehe“, murmelte Flik, „dann bist du der andere. Der, den wir im Fluss verloren haben.“ Überrascht blickte Jowy den älteren Mann an, doch der blaugekleidete Söldner sagte nichts weiter. „Wo du es erwähnst“, sagte stattdessen Viktor und runzelte die Stirn, als er wieder zu seinen beiden Gefangenen blickte, „ich habe niemals erfahren, wie zum Henker ihr eigentlich in dieses Schlamassel geraten seid. Ich meine, ihr hättet sterben können!“ „Nun, das…“, begann Jowy verstummte aber, als ihm einfiel, dass er nicht wusste, was Riou ihnen erzählt hatte. Er konnte seinem Freund nicht einfach so in den Rücken fallen. „Riou hat etwas von einem Überraschungsangriff der Staats-Armee gefaselt, aber unsere Armee hat sich nicht bewegt, seit wir den Friedensvertrag unterzeichnet haben. Also was im Namen der 27 Wahren Runen ist wirklich passiert?“, verlangte Viktor zu wissen. Jowy und Riou wechselten einen langen Blick, dann biss der Blonde sich auf die Lippe. Er vertraute diesen Menschen nicht. Es waren Soldaten, Söldner noch dazu, und sie kamen aus dem Staat. Das letzte war nicht wirklich ein Grund – immerhin waren auch Joanna, Marx und Pilika Staatler – doch es reichte, um ihn den Entschluss fassen zu lassen, nichts zu sagen. Doch bevor er den Mund aufmachen konnte, ertönte Rious leise, doch entschlossene Stimme: „Wir können es euch nicht sagen.“ Jowy blickte ihn verblüfft an, doch der Jüngere sah Viktor fest in die Augen. „Nein?“ „Nein“, wiederholte Riou bestimmt. Einen Moment lang blieb Viktor völlig still und Jowy bemerkte, dass Flik den Riesen fast schon interessiert beobachtete, als wäre er gespannt auf seine Reaktion. Der Blonde war es auch, vor allem, weil er nicht wusste, was er erwarten sollte. „Das ist eure Antwort?“, vergewisserte sich Viktor noch einmal und als Riou nickte, seufzte der Söldner und beschloss: „Gut, dann könnt ihr es euch ja heute Nacht noch einmal überlegen. Nachdem du“, er warf Jowy einen Blick zu, doch wirkte mehr belustigt als wütend, „eine unserer Zellen unbrauchbar gemacht hast, müsst ihr euch nämlich die andere teilen.“ Flik schnaubte und murmelte: „Ich hab dir doch gesagt, dass wir die Schlösser erneuern sollten.“ „Ja, ja“, winkte Viktor genervt ab, „Morgen dann.“ Flik rollte mit den Augen und seufzte, dann wandte er sich an die Jungen: „Ich nehme an, ihr habt Hunger?“ Riou schüttelte den Kopf und erwiderte: „Pohl hat mir gerade das Essen gebracht, als…“ Er errötete leicht und verstummte. „Was ist mit dir?“, fragte Viktor und sah zu Jowy. Dieser wollte gerade verneinen, als sein Magen eine andere Entscheidung für ihn traf. „Ich seh schon“, grinste Viktor breit und sah dabei überraschend nett aus, „Barbara wird sich sicher freuen, dass wir sie jetzt schon wieder aus dem Bett holen.“ Als sie später in der Zelle darauf warteten, dass der junge rothaarige Söldner – er wurde ihm von Viktor als Pohl vorgestellt – Jowy ein Abendessen brachte, saßen die beiden Jungen auf ein paar leeren Kisten, die ihnen als Betten dienten. Jowy saß an die Wand gelehnt und hatte die Beine an die Brust gezogen, Riou saß neben ihm und lehnte sich nach hinten, das Gewicht auf seine Arme gestützt. „Es tut mir leid“, murmelte der Blonde bedauernd und erntete einen überraschten Blick. „Was tut dir leid?“, fragte Riou verblüfft. Jowy seufzte und erklärte: „Dass ich dich doch nicht retten konnte.“ Wider Erwarten – obwohl es nach einigem Überlegen eigentlich gar nicht so überraschend war – lächelte der Jüngere und schüttelte den Kopf: „Mach dir keine Gedanken. Es ist okay. Und so übel ist es hier gar nicht. Die Söldner sind sogar ziemlich nett.“ „Trotzdem…“ Er verstummte wieder und eine Weile herrschte Schweigen, dann sagte er: „Ich bin danach in einem Dorf namens Toto aufgewacht.“ Riou betrachtete ihn aufmerksam und wartete auf eine Fortsetzung. „Ein kleines Mädchen hatte mich im Fluss treibend gefunden und mich zu sich nach Hause gebracht, wo man meine Wunden versorgte… und dann hab ich das Gerücht gehört, dass hier ein junger Mann gefangen gehalten wird“, fuhr er leise fort und seufzte. Dann blickte er in die warmen, braunen Augen des Jüngeren und wiederholte: „Es tut mir leid.“ Riou blickte ihn lange an und nickte schließlich, dann erzählte er davon, wie er die letzten paar Tage verschiedene Arbeiten für die Söldner erledigt hatte. Hauptsäch-lich schien er geputzt und Botenaufträge erledigt zu haben. „Die oberste Regel ist Wer nicht arbeitet, bekommt auch nichts zu essen“, schloss Riou, grinste dann aber und fügte hinzu, „Auch, wenn ich mich frage, wie einige hier überleben, wenn das wirklich so ist.“ „Essen fassen“, ertönte in diesem Moment Pohls Stimme und er betrat die Zelle mit einem Tablett, auf dem er etwas Brot und eine Schüssel Suppe balancierte. Er überreichte es Jowy, der die Suppe misstrauisch beobachtete und die Nase rümpfte, als er ein paar eindeutig als Karotten zu identifizierende Stückchen darin schwimmen sah. Er hasste Karotten. „Tut mir leid“, entschuldigte sich Pohl, der den Ausdruck auf Jowys Gesicht bemerkte und richtig deutete, „Ich weiß, dieses Essen ist sicher nicht das beste, aber versuch trotzdem, alles aufzuessen.“ Unglücklich fixierte der Blonde sein Abendessen und hörte nur mit halbem Ohr zu, während Pohl sagte: „Riou, ich kann’s dir nicht verübeln, dass du weglaufen wolltest, aber versuch es bitte nicht noch einmal. Der Boss mag dich, er wird dich bestimmt bald ohnehin frei lassen.“ „Hm“, brummte Riou nur und Pohl seufzte. Er wandte sich bereits zum Gehen, als Jowy leise fragte: „Entschuldigung? Könnte ich vielleicht… einen Löffel haben?“ Er hatte gerade bemerkt, dass man ihm kein Besteck mitgegeben hatte. Pohl drehte sich überrascht zu ihm um. „Einen Löffel?“, wiederholte er verwirrt, als wolle er sich vergewissern, richtig gehört zu haben, „Für deine Suppe?“ „Ja…“, antwortete Jowy und spürte, wie er errötete. „Was sind wir doch für ein feiner Herr“, grinste der junge Söldner, „Warte kurz, ich hole dir einen.“ Mit diesen Worten verließ er die Zelle wieder, schloss sie vorsorglich ab und verschwand aus ihrem Blickfeld. Er schien sich beeilt zu haben, da er nur wenige Minuten später wiederkam und Jowy einen Messinglöffel übergab. „Behalt ihn ruhig“, sagte er, als der Blonde den Löffel durch die Gitterstäbe in die Hand nahm, „ich hab keine Lust, jedes Mal nach oben zu laufen, damit du deine Suppe essen kannst. Die wird’s nämlich noch eine ganze Weile geben.“ Offensichtlich war seine nicht vorhandene Begeisterung Jowy anzusehen, da Pohl auflachte. Dann hob er zum Abschied die Hand und sagte: „Wie auch immer, schlaft gut. Wir sehen uns morgen.“ Er gähnte demonstrativ und verschwand. Jowy senkte den Blick auf seine Suppe und fragte dann leise: „Riou… willst du… meine Karotten?“ Als er erwachte, fiel durch ein kleines Fenster in der Zelle graues Morgenlicht herein und er wusste, dass es kurz vor Sonnenaufgang sein musste. Und er wusste plötzlich auch ganz genau, was zu tun war. Sein unbequemes Lager hatte ihn wirre Träume haben lassen, doch immerhin war ihm plötzlich die Lösung eingefallen. „Riou“, flüsterte er und tastete nach der Schulter seines besten Freundes, um ihn leicht zu schütteln, „Riou, wach auf!“ „Hm…?“, machte der Jüngere verschlafen, gähnte und richtete sich auf, während er sich die Augen rieb, „Ist es schon Zeit zum Aufstehen? „Das nicht, aber Zeit, um hier zu verschwinden“, antwortete der Blonde und erkannte im Halbdunkel, wie Rious Augen sich überrascht weiteten. Augenblicklich schien er hellwach zu sein. „Du meinst, du hast einen Plan?“, flüsterte ungläubig und Jowy nickte. Dann fragte er: „Hast du vielleicht irgendetwas von deinen Aufträgen hier behalten?“ Der Jüngere überlegte einen Moment, ehe er von seinem Lager kletterte und im Zwielicht nach etwas zu suchen schien. „Hier“, wisperte er, „Pohl hat vergessen, es mir wieder abzunehmen, und ich hab gedacht, dass ich ihn vielleicht auch nicht daran erinnern sollte. Nur für alle Fälle.“ Jowys Blick fiel auf ein ordentlich zusammengerolltes Seil, zwei Feuersteine und einen Lappen, der über und über mit dunklen Flecken verschmutzt war. „Was ist das?“, fragte der Blonde verblüfft und deutete auf das schmutzige Stück Stoff. „Der Lappen, mit dem ich vorgestern das Öl vom Boden gewischt hab, das Viktor verschüttet hat“, antwortete Riou achselzuckend, „Ist das gut?“ „Das ist klasse! Sie werden nicht erwarten, dass wir so schnell wieder versuchen werden, abzuhauen“, erklärte Jowy, „Aber erst mal müssen wir hier raus.“ Er bückte sich nach dem Tablett mit der leeren Schüssel und hob den Löffel auf, dann trat er auf die Tür zu. „Ich muss den Löffel nur so biegen…“, murmelte er, während er an dem Messing arbeitete. Er war auf diese Art oft von zu Hause weggelaufen, um zu Riou zu schleichen. Sein Stiefvater hatte nie viel von Meister Genkaku und seinen Adoptivkindern gehalten und ihm verboten, sie zu sehen. Doch Jowy wäre nicht Jowy gewesen, wenn ein solches Verbot ihn davon abgehalten hätte. „Geschafft!“, flüsterte er triumphierend, als ein leises Klacken ertönte und das Schloss aufsprang, „Dieses Mal werden sie uns nicht kriegen!“ Riou folgte ihm in den Gang hinaus und sah sich um. „Sie müssen meine Sachen irgendwo hier aufbewahren“, wisperte er, „Ich erinnere mich, dass Pohl sie geholt hat, als ich Mehl im nächsten Dorf holen sollte.“ „Die können wohl gar nichts alleine“, schnaubte Jowy abfällig, während er dem Jüngeren leise in einen kleinen Abstellraum folgte, in dem haufenweise Plunder zu liegen schien. „Meine Tonfa!“, flüsterte Riou nach einem Moment erleichtert und nahm die Waffen aus einer Halterung an der Wand. Auch Jowy entdeckte seinen Stab zwischen ein paar Speeren und nahm ihn an sich, während Riou einen kleinen Beutel von einem Tisch nahm. „Was ist das?“, fragte Jowy und der Jüngere öffnete den Beutel und zeigte ihm ein paar dünne Lederbänder, auf denen silberne Münzen mit einem Loch in der Mitte aufgereiht waren: „Mein Geldbeutel. Er hat den Sprung in den Fluss überlebt… ich habe gar nicht gemerkt, dass ich ihn dabei hatte. Jedenfalls bis er mir abgenommen wurde.“ „Wie viel Geld hast du?“ „Etwa 1000 Potch“, antwortete Riou, während sie schon wieder hinausschlichen, „Es ist nicht viel, aber ich glaube, dass es erst mal reichen wird.“ Jowy nickte nur, dann setzten sie ihren Weg ins Erdgeschoss schweigend fort. Das ganze Fort schien zu schlafen, doch sie hielten trotzdem den Atem an, als sie die Treppe verließen. Was gut so war, denn in diesem Moment ertönte die leise Stimme eines Mannes: „Mann, bin ich fertig… ich glaub, ich hau mich ein bisschen aufs Ohr, bis der Boss aufwacht.“ Ein Gähnen ertönte, dann antwortete eine zweite Stimme: „Ja, ich glaub, ich auch. Es wird schon keiner herkommen um diese Zeit. Wir müssen nur aufpassen, dass Flik uns nicht erwischt… Hast du die Tür abgeschlossen?“ „Ja, so ein dummer Fehler passiert mir doch kein zweites Mal!“ Die Stimmen kamen aus Richtung einer der Treppen und Jowy stieß gedanklich einen Fluch aus. Es war also doch noch jemand wach. „Gib mir die Feuersteine und den Lappen“, flüsterte er an Riou gewandt, dieser nickte nur und reichte die verlangten Gegenstände. Der Blonde brauchte zwei-drei Anläufe, bis es klappte, doch dann fing der ölige Lappen Feuer und Jowy warf ihn schnell weg. Er landete zwischen den Tischen am anderen Ende des Raumes und nur Sekunden später breitete sich der unangenehme Geruch des brennenden Materials aus. „Sag mal, riechst du das auch?“, fragte plötzlich der erste Söldner, der gesprochen hatte. „Nein, ich… hey, was ist das für ein komischer Geruch?“ „Es brennt!“, japste der erste Söldner und im nächsten Moment rannten sie auch schon an den Jungen vorbei. „So ein verdammter Mist“, zischte der zweite, während sie versuchten, das Feuer auszutreten, das bereits auf den Holzboden übergriff. „Jetzt oder nie“, flüsterte Jowy und Riou nickte, während sie an den Männern vorbeischlichen und die Treppe nach oben nahmen. Dort blieben sie einen Moment lang ratlos stehen, während Jowys Herz vor Aufregung und Nervosität so laut zu schlagen schien, dass es ihm wie ein Wunder erschien, dass er den Rest der Söldner nicht auch noch weckte. „Ich hab eine Idee“, raunte Riou in diesem Augenblick, ergriff Jowys Arm und zog ihn durch eine kleine Tür nach draußen auf einen Balkon. Dort machte er sich schnell daran, das Seil an der Balustrade festzuknoten, ehe er es hinunterwarf und sagte: „Schnell, Jowy, du zuerst!“ Der Blonde wollte protestieren, sah jedoch ein, dass sie keine Zeit für Diskussionen hatten, und schwang sich über die Brüstung. Mit ein paar geübten Bewegungen kam er unten an und sah sich schnell um, um sich zu vergewissern, dass auch wirklich niemand sich im Hof befand, dann winkte er Riou zu sich hinunter. Dieser sprang den letzten Meter einfach hinunter und warf einen leicht nervösen Blick auf die versperrte Vordertür, ehe sie wortlos eine Entscheidung trafen und durch den unbewachten Eingang des Holzzauns liefen. Sie rannten eine ganze Weile, bis Jowy keuchend anhielt und sich die Seite hielt. Natürlich war er als Mitglied der Jugendbrigade – ehemaliges Mitglied, korrigierte eine bittere Stimme in seinem Kopf – daran gewöhnt, von einem Ort zum anderen zu hetzen, doch bis vor einer Woche hatte er beim Laufen auch nicht um sein Leben fürchten müssen. Jetzt schien diese Angst ein immerwährender Begleiter zu sein. Obwohl sie beide müde waren – ausgeschlafen fühlte sich eindeutig anders an – waren sie sich einig, keine Pause zu machen. Sie wussten nicht, wann die Söldner bemerken würden, dass sie weggelaufen waren, doch sobald sie es taten, wollte Jowy lieber ein Gebirge und eine Grenze hinter sich gebracht haben und sicher zu Hause sein. Apropos zu Hause… „Riou“, rief er leise und wartete, bis der Jüngere ihn fragend ansah, bis er fortfuhr, „In der Nacht des Angriffs, da…“ Er verstummte wieder, schüttelte den Kopf und begann von Neuem: „Wenn ich an Captain Rowd und diesen Mann denke, mit dem er sich unterhalten hat… Luca Blight… Es könnte gefährlich sein, nach Kyaro zurückzukehren.“ Riou nickte und sagte leise: „Ich weiß.“ Er seufzte, schwieg jedoch. „Ich möchte trotzdem zurückgehen“, stellte Jowy klar, „Und Nanami wartet auch auf dich. Sie macht sich bestimmt schon Sorgen.“ Riou sah ihn wieder eine lange Zeit an, ehe er nickte und langsam, fast zögernd sagte: „Ich möchte auch heim. Auch, wenn es gefährlich ist…“ Sie sahen einander in die Augen und irgendwie wusste Jowy in diesem Moment, warum ausgerechnet dieser stille, aufmerksame Junge sein bester Freund und nicht jemand anders. Sie verstanden einander einfach ohne Worte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)