Falling von Flordelis ================================================================================ Kapitel 5: Entscheidung? ------------------------ Als er die angegebene Stelle erreichte, blieb Kyrie stehen. Die Sonne ging bereits wieder unter, der Weg war länger gewesen als ursprünglich erwartet. Der Mond war noch nicht aufgegangen, weswegen er keine Details erkennen konnte. Aber die Felsen, die vor einem dichten Wald eine natürliche Bühne bildeten, waren auch in der Dunkelheit deutlich zu sehen. Kyrie konnte sich nicht erinnern, jemals zuvor hier gewesen zu sein, ohne eine genaue Erklärung von Reiben hätte er den Weg nie gefunden – allerdings sah der Ort verlassen aus. Er schien völlig allein zu sein. Für einen Moment überlegte er, auf sich aufmerksam zu machen, doch dann besann er sich anders. Er versuchte, so zu denken wie Morte. Was würde sie in dieser Situation machen? So sehr er sie auch mochte, es dauerte seine Zeit – Sekunden, Minuten, Stunden? Er konnte es nicht sagen – , bis ihm tatsächlich etwas einfiel. Er griff nach seinem Messer, auch wenn er es sowieso nicht nutzen konnte. Im Kämpfen war er nicht sonderlich geschickt, aber es war besser, als einem Feind völlig unbewaffnet gegenüber zu stehen. Mit der Waffe in der Hand bewegte er sich langsam vorwärts. Sein Blick ging dabei aufmerksam umher, in jedem Schatten eine Bedrohung sehend. Doch alles war nur ein Fehlalarm. Innerlich lachte er über sich selbst. Ich sollte nicht so angespannt sein, das hilft mir nicht weiter. Morte würde das mit Sicherheit auch lächerlich finden. Der erneute Gedanke an sie lenkte ihn von der vorherrschenden Situation ab. Er würde sich viel sicherer fühlen, wenn sie bei ihm wäre. Sie würde mit ihrer ruhigen Art dastehen und ihn anfauchen, dass er gefälligst nicht so nervös sein sollte, weil er sie nur ablenkte. Und Toppy würde dann einen klugen Spruch abgeben. Eine Welle von Sehnsucht nach der Reise vom letzten Jahr überkam ihn. Sein jetziges Leben war ruhig und ausgeglichen – wenn man von Reiben absah – und es gefiel ihm, aber die gemeinsame Zeit damals fehlte ihm. Es gab nur ihn, Morte und Toppy – und das Rätsel um den Destruct Code. Mit dem Ende dieser Reise hatte sich alles verändert, auch er selbst und es würde nie wieder so werden wie früher, was er außerordentlich bedauerte. Aber sein neues Leben gefiel ihm auch gut. Es war anders, aber nicht schlechter. Es gab ihn, Morte, einen selten vorbeisehenden Toppy und auch viele Waisenkinder, die alle drei zu lieben schienen. So in Gedanken versunken bemerkte er gar nicht, wie weit er sich in den Wald vorgewagt hatte. Erst ein leises Rascheln holte ihn wieder in die Realität zurück. Abrupt blieb er stehen, wandte seinen Blick in alle möglichen Richtungen, aber nirgends war die Ursache zu sehen. Sein Körper begann zu zittern, doch er redete sich ein, dass es die – nicht vorhandene – Kälte war, anstatt Angst, die ihn zu lähmen drohte, wenn er sie zuließ. Ein Vogel schoss aus einem Gebüsch und sauste haarscharf an seinem Kopf vorbei. Kyrie zuckte mit einem leisen Kreischen zusammen, perplex sah er dem Tier hinterher, bis es aus seiner Sicht verschwunden war. Kaum war dies geschehen, brach er in nervöses Gelächter aus. Es ist nur ein Vogel. Nur ein... Die plötzliche Erkenntnis paralysierte ihn. Etwas stimmte hier ganz und gar nicht. Moment! Es ist mitten in der Nacht! Wohin sollte er jetzt fliegen? Das war nicht normal für Vögel, das wusste sogar er – also musste jemand ihn aufgescheucht haben. Das Leben kehrte fast zu spät in ihn zurück. Er konnte sich gerade noch zu Boden werfen. Zischend zog etwas über seinen Kopf hinweg und bohrte sich geradewegs in einen Baumstamm. Kyrie hob den Blick und versuchte zu sehen, von was er da angegriffen worden war. Doch es steckte zu tief im Holz, um es von seiner Position aus erkennen zu können. „Du hast Glück gehabt“, ertönte eine Stimme. „Aber glaubst du, das wird dir hier wieder heraushelfen?“ Diese Stimme... Reiben... Kyrie stand wieder auf. Sein Griff um das Messer festigte sich – als ihm plötzlich klar wurde, dass er es gar nicht mehr in der Hand hielt. Panisch ließ er den Blick schweifen, konnte es aber nicht mehr finden. Wann war es ihm überhaupt entglitten? „Suchst du das hier?“ Er fuhr herum. Als er ein helles Blitzen wahrnahm, konnte er gerade noch zurückstolpern. Im nächsten Moment steckte die Klinge direkt vor ihm im Boden. Eilig nahm er es wieder an sich, bevor er erneut einen Blick um sich warf. Von Reiben war immer noch nichts zu sehen. Wie schaffte er es nur, so sehr mit den Schatten zu verschmelzen? Oder wusste er einfach, wo man sich am besten verstecken konnte? Immer wieder drehte er sich im Kreis, aus Angst, zu lange seinen Rücken zu präsentieren. Schließlich hörte er Reiben seufzen. „Du langweilst mich. Ich habe kein Interesse an dir, sondern nur an Morte – aber offensichtlich hast du die nicht mitgebracht.“ Kyrie hörte ein Geräusch hinter sich, er wirbelte herum, doch sein Angreifer war schneller und verpasste ihm einen Schlag in den Nacken, der ihn zu Boden stürzen ließ. Ein dunkler Schleier legte sich vor seine Augen. „Du solltest als Köder für Morte reichen“, meinte Reiben abschätzend. Morte... Kyrie ließ seinen Kopf auf den Boden sinken und schloss die Augen, bevor er endgültig das Bewusstsein verlor. Der Mond näherte sich bereits wieder dem Westen, was auf eine baldige Dämmerung schließen ließ, als Morte, Lia und Naja endlich den angegebenen Ort erreichten. Wie Kyrie zuvor, blieben die drei stehen und sahen sich eingehend um. Und wie zuvor war nichts Außergewöhnliches zu sehen. Lia warf Naja einen genervten Blick zu. „Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?“ Er nickte. „Natürlich bin ich das. Ich irre mich nie.“ Sie zog ihre Stirn kraus. „Das weiß ich aber besser.“ Die Halbbestie lachte nur als Erwiderung. Er sah zu Morte hinüber, die bereits einige Schritte vorausgelaufen war. Sie wusste es nicht, aber im Moment dachte sie dasselbe wie Kyrie wenige Stunden zuvor: Sollte sie irgendwie auf sich aufmerksam machen oder sollte sie sich lieber anschleichen und versuchen, den Feind ausfindig zu machen und zu überraschen? Andererseits war sie zum ersten Mal hier, weswegen sie nicht einschätzen konnte, wo sich jemand verstecken könnte. Würde sie zu weit laufen und den Wald betreten, würde sie mit Sicherheit überrascht werden. Noch dazu war sie Zeuge der Fähigkeiten eines 'Black Lantern' geworden – er wäre um einiges schneller gewesen, als sie hätte reagieren können. Nein, das Risiko war zu groß, weswegen sie bei den anderen beiden stehenblieb. Doch selbst wenn sie genau gewusst hätte, wo sich dieser 'Black Lantern' versteckte, mit Sicherheit hätte sie es nicht über sich gebracht, ihn einfach so zu töten – auch wenn er nicht ihr Bruder war, er sah aus wie dieser und er schien auch über dessen Erinnerungen zu verfügen. Emotional gesehen war er also noch Reiben, egal wie sehr sie es zu verdrängen versuchte. Eine plötzliche Bewegung von Lia riss sie aus ihren Gedanken. Die Schützin zog blitzschnell ihre Revolver hervor, sie zielte auf irgendetwas und drückte ab. Zwei Schüsse zerfetzten die Stille. Morte sah in die Richtung, in die Lia geschossen hatte, doch konnte sie nichts erkennen. Die Schützin fluchte leise. „Daneben!“ Im nächsten Moment erklang ein leises Lachen. „Das mit dem Zielen solltest du aber noch einmal üben, meine Liebe.“ Es war die Stimme von Reiben. Naja und Morte zogen ebenfalls ihre Waffen und sahen in Richtung der Steinbühne, auf der sich plötzlich etwas zu regen schien. Im silbernen Licht des Mondes konnte Morte die Umrisse dreier Leute ausmachen. Zwei waren erwachsen, einer war ein Kind – der entführte Junge. Aber wer...? Die Konturen wurden deutlicher und plötzlich erkannte sie- „Kyrie!“ Naja griff nach Mortes Arm und hielt sie so davon ab, direkt auf die Bühne zu laufen. Reiben stand zwischen Kyrie und dem Junge, die beide sorgfältig verschnürt zu sein schienen. „Da bist du ja endlich, Schwester. Ich befürchtete schon, du wolltest mich ewig warten lassen.“ „Lass die beiden auf der Stelle gehen!“, verlangte Morte eindringlich. Er schüttelte bestimmt mit dem Kopf. „Das werde ich sicher nicht. Zumindest nicht beide.“ Fragend sah sie ihn an. „Was?“ Seufzend schüttelte er seinen Kopf. „Verstehst du das nicht? Du kannst einen der beiden zurück haben. Entweder deinen kleinen Freund Kyrie oder diesen armen kleinen, unschuldigen Jungen, der nie jemandem etwas getan hat.“ Während seiner Worte deutete er auf die jeweilige Person. „Entscheide dich gut, Schwester.“ Morte konnte nicht anders, als ihn fassungslos anzusehen. Sie verstand, was er da von ihr verlangte, aber nicht, wie er das verlangen konnte. Dieser Mann trug die Erinnerungen ihres Bruders in sich, also warum verhielt er sich nicht auch wie er? Warum tat er ihr das an? Oder überhaupt jemandem? Das sah Reiben einfach nicht ähnlich. „Lächerlich!“, urteilte Naja. „Morte wird nicht auf dein Spiel eingehen. Also gib gefälligst beide her – oder Lia wird noch ein paar Mal auf dich schießen. Und glaub mir, sie ist eine verdammt gute Schützin.“ „Als ob ich vor ihr Angst hätte“, höhnte Reiben. „Ich dachte, ihr wüsstet mehr über mich, als Morte. Aber anscheinend ist das doch nicht der Fall. Ihr könnt mich nicht töten und das wisst ihr.“ Morte warf einen Blick zu Naja und Lia hinüber. Wenn die Halbbestie vorhin gelogen hatte? Doch er wirkte nach wie vor selbstsicher und gelassen, er lächelte sogar. „Ich denke sehr wohl, dass wir dich töten können“, sagte Naja. „Alles, was existiert, kann getötet werden, das ist die Grundessenz des Lebens.“ „Wenn man denn lebt“, meinte Reiben unbeeindruckt. „Was ich aber nicht tue, wie ihr wisst.“ Morte betrachtete ihn eingehend. War es wirklich nicht möglich, den 'Black Lantern' zu töten, ohne ihrem Bruder etwas anzutun? War es nicht möglich, die fremde Entität in seinem Inneren zu töten und Reibens Seele selbst zu erhalten? Sie wollte Naja danach fragen, aber etwas hielt sie zurück. Sie war sich sicher, dass er ohnehin ablehnen und ihr sagen würde, dass es keinen Weg gab, das von ihr Gewünschte zu erreichen. „Also wie lautet deine Entscheidung?“, fragte Reiben nachdrücklich. „Kyrie oder der Junge?“ Morte sah wieder zu der Bühne hinauf. Die beiden Gefangenen schienen ohnmächtig zu sein, jedenfalls regten sie sich nicht. Aber Morte wusste dennoch, was Kyrie sagen würde – er war der typische Opfercharakter und würde mit Sicherheit verlangen, dass sie den Jungen retten sollte. Aber konnte sie das wirklich tun? Lia knurrte leise. „Das reicht! Ich werde dir die Entscheidung abnehmen, Frau!“ Bevor Morte etwas sagen konnte, stürmte Lia auf die Bühne. Wie erwartet packte sie Kyrie und brachte ihn blitzschnell zu ihren Begleitern zurück. „So, erledigt.“ Mit so etwas schien Reiben tatsächlich nicht gerechnet zu haben, denn er sah perplex auf die Gruppe hinunter. Es dauerte eine Weile, bis er sich wieder fangen konnte, aber seinen Feinden ging es ähnlich. „Warum hast du das getan?“, fauchte Morte. Lia warf den Kopf in den Nacken. „Weil du dich nie alleine entschieden hättest. Und ich werde nicht zulassen, dass Kyrie deswegen zu einem Opfer wird!“ Sie konnte nicht glauben, was sie da hörte. Morte war sich sicher, dass Kyrie diese Entscheidung niemals gutgeheißen hätte, aber Lia schien das völlig egal zu sein. Sie stand nur da, den Kopf in den Nacken geworfen, die Arme in die Hüften gestemmt und absolut von sich überzeugt, so wie eh und je. Reiben lachte leise. „Gut, die Wahl wurde getroffen, wenn auch von einer anderen Person.“ Er zog ein Messer hervor und ging zu dem Jungen hinüber. „Tut mir ja Leid für dich. Nun, nicht wirklich.“ Morte sah wie hypnotisiert hinauf, unfähig, sich zu rühren oder etwas zur Rettung des Kindes tun zu können. Reiben hob die Klinge, Morte wollte etwas tun, irgendetwas, doch wieder war da der Gedanke, dass es sich um ihren Bruder handelte und sie konnte ihn einfach nicht töten. Doch kurz bevor Reiben das Messer niedersausen lassen konnte, war eine weitere Bewegung zu sehen. Ein dumpfer Schmerzenslaut erklang, Reiben ging in die Knie. Im nächsten Moment konnte Morte die Bewegung noch einmal wahrnehmen. Es war eine kleine Gestalt, die mühsam das Kind nahm und eilig zur Gruppe herüberbrachte. Selbst in der Dunkelheit erkannte sie den gelben Zwergbären mit dem blauen Kopftuch und der Augenklappe. „T-Toppy...“ Ihre Stimme war nur noch ein leises Hauchen, ganz anders, als sonst. Mit einem Ächzen überließ der Zwergbär ihr das Kind, bevor er sich an Naja wandte: „Nimm Kyrie und dann lasst uns verschwinden, kuma!“ Die Halbbestie reagierte sofort und hob den immer noch bewusstlosen Kyrie auf seine Arme. Zufrieden fuhr Toppy in eine bestimmte Richtung herum und rannte eilig davon. Naja und Lia folgten ihm sofort. Morte sah noch einmal zu der zusammengekrümmten Gestalt Reibens, die sie nur als Schemen in der Dunkelheit ausmachen konnte. Er hätte beinahe dieses Kind umgebracht... Wieder sah sie das Bild vor sich, wie er das Messer hob. Hastig schüttelte sie den Gedanken ab, fuhr herum und rannte ebenfalls davon, ohne sich noch einmal umzusehen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)