Falling von Flordelis ================================================================================ Kapitel 2: Unverhofftes Wiedersehen ----------------------------------- Kyrie ahnte unterdessen nichts von Mortes Entdeckung und ihrer Sorge um ihn. Stattdessen war er damit beschäftigt, die Jacke eines der bei ihnen wohnenden Waisenkinder zu flicken. Die Kämpfe zwischen Menschen und Bestien hatten viele Opfer gefordert und nicht bei wenigen waren Kinder zurückgeblieben um die sich Kyrie und Morte nun kümmerten. Kyrie machte es Spaß und Morte... nun, er war sich nicht sicher, weswegen sie das tat. Schuldgefühle, Wiedergutmachung oder vielleicht doch Überzeugung? Er wusste es nicht und er hatte sie auch nie danach gefragt. Vermutlich würde er das auch nie tun. Er war sich sicher, dass Morte ihre Gründe besaß und das reichte ihm. Mit seinem üblichen Lächeln im Gesicht reichte er dem Jungen, der ihm aufgeregt zugesehen hatte, schließlich die Jacke. „Hier, so gut wie neu.“ Der Junge bedankte sich strahlend, zog sich das Kleidungsstück an und rannte dann lachend davon, um mit seinen Freunden weiterzuspielen. Kyrie dagegen erhob sich und ging in die Küche. Die Kinder und auch die Nachbarn erwarteten schließlich ihr Abendessen, für das er sich verantwortlich sah. Es ärgerte ihn zwar manchmal, das er immer in solch großen Mengen kochen musste, doch konnte er auch so schlecht Nein sagen, weswegen er es immer wieder tat. Wenigstens trugen die Nachbarn, die sie alle noch von ihrer Reise aus dem letzten Jahr kannten, auch ihren Teil bei und spendeten oft Nahrungsmittel. Anders könnte dieses Waisenhaus, das nur von Kyrie und Morte geleitet wurde, auch gar nicht existieren. Das Kochen war ihm inzwischen ins Blut übergegangen, so dass er währenddessen seinen Gedanken freien Lauf lassen konnte. Meistens dachte er dabei an das letzte Jahr zurück, als er noch gemeinsam mit Morte und dem Zwergbären Toppy unterwegs gewesen war, um die Welt zu zerstören. Damals waren sie als das Weltzerstörungskomitee bekannt gewesen, hohe Belohnungen hatten demjenigen gewunken, der sie einfangen würde. Aus Erinnerungsgründen besaß er ein solches Flugblatt noch immer, auch wenn ihm die fies gestalteten Phantombilder ganz und gar nicht gefielen. Er und Toppy waren nie von Mortes Ziel begeistert gewesen, doch sie hatten sie trotzdem weiterbegleitet. Warum der Zwergbär das getan hatte, war für Kyrie nicht klar, die Gründe für sein eigenes Handeln aber genausowenig, wenn er ehrlich zu sich war. Aber der Hauptgrund war wohl Morte selbst. Auch wenn sie manchmal gemein gewesen war, so hatte er von Anfang auch ihre sensible Seite gesehen. Die verletzte Seite, die sie zu dieser Aktion geradezu zwang. Warum genau es am Ende nichts geworden war mit der Weltzerstörung wusste er nicht genau. Er war dabei gewesen, doch seine Erinnerung an jene Zeit war verschwommen, zerstückelt und alles andere als klar; schlimmer als bei einem fast verblassten Traum, den man sich immer wieder ins Gedächtnis rief, in der Hoffnung, ihn endlich vollständig rekonstruieren zu können, ohne zu merken, dass er damit immer weiter zerfiel. Kyrie und Morte hatten sich nach der Reise niedergelassen, während Toppy weitergezogen war, um weitere Abenteuer zu erleben und anderen Menschen zu helfen. In unregelmäßigen Abständen meldete er sich bei seinen Freunden. Allerdings war seit seinem letzten Brief wieder ziemlich viel Zeit vergangen. Kyrie gab gerade das Gemüse in einen Topf, als er plötzlich hörte, wie die Tür aufging. Im ersten Moment wollte er es ignorieren, da es sich immerhin um eines der Kinder handeln könnte, doch die schweren Schritte verrieten ihm etwas anderes. Selbst dann überlegte er noch, es zu ignorieren, da es einer ihrer Nachbarn sein könnte, der nur wieder Nahrungsmittel vorbeibrachte – aber Kyries Nackenhaare stellten sich auf. Es war als ob etwas Gefährliches den Raum betreten hatte. Es war dasselbe Gefühl wie damals auf ihrer Reise, wenn sie in Gefahr geraten waren. Aber warum sollte die Gefahr nun zu ihm ins Haus kommen? Er wollte sich umdrehen, doch seine Vernunft sagte ihm, dass er das nicht unvorbereitet machen sollte. Während sich die Gestalt näherte, fasste er den Griff einer Pfanne. Seine Adern schienen hell durch die weiße Haut hindurch. Direkt hinter ihm blieb die Person erneut stehen, er konnte sie atmen hören. Entschlossen wirbelte Kyrie mit der Pfanne in der Hand herum. Die Gestalt duckte sich hastig unter dem Angriff weg. Kyrie reagierte sofort und zielte mit der Pfanne nach unten, als er mit der Rückhand wieder angriff. Ein erstickter Schmerzenslaut, gefolgt von einem Poltern, als das Opfer gegen eine Küchenzeile fiel und ein empörtes „Au!“ war das Ergebnis. Kyrie wollte sich gerade entschuldigen, doch als er die Person erkannte, stutzte er. Noch einmal sah er sich selbst zurückversetzt in das Fort, in dem die Menschen ihren Widerstand gegen die Bestien formiert hatten. Er spürte den Schmerz und die Hitze des Feuers, als sie mit Kanonen beschossen worden waren, kurz bevor er das Bewusstsein und seine Erinnerungen – den vermeintlichen Destruct Code – verloren hatte. Das wild abstehende braune Haar, die dichten Augenbrauen, der entschlossene Blick, er erkannte all dies wieder. Doch es war unmöglich – diese Person konnte nicht Reiben Asherah sein! Nicht nur hatte Morte oft betont, dass ihr Bruder tot war, nein, Kyrie wusste nicht weswegen, aber er hatte es in ihren Gedanken sehen können. Den leblosen Reiben in seinem Sarg, die Beerdigung, Mortes Trauer... all dies hatte er gesehen, sie konnte nicht gelogen haben. „Musst du so hart zuschlagen?“, beschwerte Reiben sich. „Ich dachte, du würdest dich über ein Wiedersehen freuen. Stattdessen willst du mich umbringen...“ Er rieb sich den schmerzenden Kopf und sah Kyrie schelmisch lächelnd an. Er stutzte einen Augenblick. „Nanu? Deine Haarfarbe hat sich ja geändert. Hast du sie gefärbt?“ Als ich Reiben traf, war ich jemand anderes... damals war auch mein Haar rot... Reibens Blick wandelte sich in Besorgnis. „Warum siehst du mich so seltsam an? Habe ich dir was getan?“ Kyrie zuckte zusammen. „N-nein, hast du nicht...“ „Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen“, lachte Mortes Bruder, während er sich aufrichtete. So ähnlich..., dachte Kyrie, während er den jungen Mann immer noch verdutzt ansah. Wäre er nicht von der Pfanne getroffen und dann mit dem Kopf gegen die Küchenzeile geschlagen, hätte Kyrie tatsächlich angenommen, dass es sich bei dieser Erscheinung um seinen Geist handelte. Doch die Gestalt war genauso real wie er selbst. Wie konnte das also sein? Sein Blick fiel auf Reibens Kleidung. Sie war gänzlich schwarz, auf der Brust war ein grünes Zeichen aufgestickt, das ihm absolut fremd war. An seiner rechten Hand trug Reiben einen Ring mit demselben Zeichen, der bis vor seinen Tod garantiert noch nicht dagewesen war. Etwas Böses schien von diesem Schmuckstück auszugehen. „Wie... wie kommst du hierher?“, fragte Kyrie mit zitternder Stimme. Überrascht über diese simple Frage, zog Reiben eine Augenbraue hoch. „Zu Fuß natürlich. Wie kamst du hierher?“ „Äh...“ - Kyrie räusperte sich - „Das meinte ich nicht. Du bist doch tot.“ So, da hab ich es gesagt! Reiben lachte herzhaft. „Bist du heute zu Scherzen aufgelegt, Kyrie? Ich stehe doch lebendig vor dir. Hier, du kannst meine Hand nehmen, dann siehst du es.“ Um seinem Angebot nachzukommen reichte er ihm die Hand. Als ob er zu ergründen versuchte, was er damit tun sollte, sah Kyrie diese nur untätig an. Etwas in ihm sagte, dass es besser wäre, die Hand nicht zu ergreifen – und ihm Moment vertraute er dieser Stimme voll und ganz. Er schüttelte den Kopf. „Schon gut. Ich glaube dir auch so, ganz sicher.“ Zufrieden mit dieser Aussage ließ Reiben seine Hand wieder sinken. „Ihr habt es euch hier richtig nett gemacht. Das ist schön.“ Kyrie hielt den Stiel der Pfanne immer noch so fest umklammert, dass seine Hand bereits schmerzte. Sein Misstrauen diesem Mann gegenüber wuchs mit jeder Sekunde weiter. „Ja, finde ich auch.“ „Wo ist denn Morte?“, fragte Reiben neugierig. Es war nur natürlich, dass er seine Schwester sehen wollte, doch etwas in seiner Stimme ließ Kyries Alarmglocken schrillen. Was immer dieser Reiben von Morte wollte, es konnte nichts Gutes sein. Kyrie zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, sie ist nicht hier. Sie hat mir nicht gesagt, wo sie hingehen will.“ Für den Bruchteil einer Sekunde war Verärgerung in Reibens Gesicht zu sehen, doch diese war schnell wieder verflogen. „Du bist kein guter Lügner, Kyrie. Sag mir doch, wo sie hin ist. Ich möchte sie unbedingt wiedersehen. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich sie vermisst habe.“ Kyrie wollte einen Schritt zurückweichen, doch direkt hinter ihm stand immer noch der Herd, so dass er nur mit dem Arm gegen den heißen Topf stieß. Ein erschrockener Aufschrei entfuhr ihm dabei. Reiben schmunzelte leicht. „Tut es sehr weh?“ Es schien ihn geradezu zu freuen, dass Kyrie sich verletzt hatte. „Es geht schon“, versicherte der Verletzte. „Du bist irgendwie anders als früher, kann das sein?“ Diesmal antwortete Kyrie nicht. Er wollte Reiben gerade auffordern, wieder zu verschwinden, als ihm plötzlich die Luft wegblieb. Panisch versuchte er, wieder zu Atem zu kommen, doch ihm wurde schnell klar, dass das nicht funktionierte – Reibens Hand war wie ein Schraubstock um seinen Hals geschlossen, er schaffte es sogar, noch fester zuzudrücken. Von Freundlichkeit war in seinem Gesicht nichts mehr zu sehen. „Sag mir, wo Morte ist!“ Der Umschwung allein hätte Kyrie Furcht eingeflößt, aber in Verbindung mit dem Würgen machte sich Panik in ihm breit. Mit letzter Kraft holte er aus, um Reiben mit der Pfanne zu schlagen, doch diesen störte es offensichtlich gar nicht. „Wo ist Morte!?“ Die Pfanne fiel aus Kyries kraftloser Hand und kam mit einem lauten Geräusch auf dem Boden auf. Sterne tanzten vor seinen Augen, während er erfolglos versuchte, sich zu wehren. Ist etwa... alles aus...? Er wollte es nicht so enden lassen, nicht hier. Was sollte aus Morte und den Kindern werden? Doch gerade als er glaubte, dass er endgültig ohnmächtig werden würde, hörte er einen Schuss, der die Stille zerriss. Reiben gab einen lauten Schrei von sich, Kyrie stürzte zu Boden, als der Griff um seinen Hals gelockert wurde. Hektisch schnappte er nach Luft, atmete den wertvollen Sauerstoff so schnell ein, dass er sich verschluckt hätte, wenn es Wasser gewesen wäre. Er hörte Reiben leise fluchen, im nächsten Moment erklang ein Klirren, als Glas zu Bruch ging – sein Angreifer war durch das Fenster geflüchtet. Doch wer hatte ihn gerettet? Kyrie sah zur Seite und lächelte erleichtert, als er die beiden Personen sah. „Naja! Lia!“ Noch vor einem Jahr wäre er nicht so erleichtert gewesen die weißhaarige Halbbestie und das blonde Mitglied des Drachenclans zu sehen. Damals waren sie Teil des Welterrettungskomitees gewesen, das Gegenstück zum Weltzerstörungskomitee. Inzwischen waren sie allerdings Freunde – zumindest sagte Kyrie das gerne. „Alles in Ordnung?“, fragte Naja, während er seine Brille zurecht schob. Wären seine seine roten Augen und der weiße Schweif, der an den eines Wolfs erinnerte, nicht, hätte wohl niemand je geglaubt, dass er zu Teil eine Bestie war. Kyrie nickte wortlos. Sein Hals schmerzte noch ein wenig. Lia steckte ihren Revolver, mit dem sie auf Reiben geschossen hatte, in den dazugehörigen Holster an ihrem Oberschenkel. Sie sagte nichts, sondern sah ihn nur mit einem leichten Rotschimmer im Gesicht an. Kyrie hatte nie ganz verstanden, warum die so wilde Lia, die schnell ihre Fassung verlor, bei ihm so wortkarg und verlegen war. Aber es hatte sich seit ihrer ersten Begegnung nie etwas daran verändert. „Wer war das?“, fragte Naja weiter, wobei er in Richtung des zerbrochenen Fensters deutete. In knappen Worten – da er immer noch kurzatmig war – erzählte er von Reiben, Mortes verstorbenem Bruder. Er erwartete, dass die beiden ihm nicht glauben würden, doch ihre Gesichter verfinsterten sich lediglich. „Dann müssen wir uns beeilen“, sagte Lia. „Wo ist Morte?“ „Warum?“, fragte Kyrie verwirrt. „Was geht hier vor?“ Naja winkte ungeduldig ab. „Das erklären wir dir später. Wo ist sie?“ Die ernsten Blicke des Duos und die Hektik, die sie verbreiteten, verrieten ihm, dass es wirklich wichtig war. Also erzählte er ihnen, dass sie in Richtung ihrer Heimat aufgebrochen war, um Reibens Grab zu besuchen. Anschließend erklärte er noch, wo sich diese Heimat befand, bevor Naja und Lia überstürzt wieder aufbrachen. Zurück blieb nur ein verwirrter Kyrie, der nicht wusste, dass er soeben auch dem sich versteckt gehaltenen Reiben, die gewünschte Information gegeben hatte und ein unfaires Wettrennen begann. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)