Signalfarben von Lethal (Never Mess With A Woman's Hair...) ================================================================================ Kapitel 1: Prolog ----------------- Du hast mich doch gerufen…? Die Kreide kratzte so laut auf der Tafel, dass sie es bis zu ihrem Sitzplatz hören konnte, weit hinten, sicher vor dem Staub, mit dem das Schreibgerät sich gegen die rüde Behandlung wehrte. „… oder Zerfallsprozesse können durch die Funktion f, mit f von t gleich c mal e hoch…“ Er gab den Satz nicht wieder, er rezitierte ihn, machte eine Zeile aus einem Theaterstück daraus, für das sich im Klassenzimmer wohl niemand außer ihm wirklich begeisterte. Drei Tage die Woche dasselbe Ritual. Hieroglyphen an der Tafel, Farbpartikel auf seinem Hemd. Gelb, Blau, Rot, viel, viel Weiß, das Herrn Nishikawa nahtlos in die Weihnachtsdekoration einfügte, die die Flure der Schule schmückte. Ayumis Augen blieben starr auf das Schauspiel gerichtet als könnte sie der Vorführung folgen, die sich mit derselben Gnadenlosigkeit wiederholte, die sie jeden Morgen vergeblich in den Schlag gegen den Wecker legte. Tatsächlich hatte sie den roten Faden schon seit der zweiten Variable verloren, so wissend sie auch dreinblicken mochte. Ihre Augen starrten Löcher in die Luft. Mitten durch Lehrer, Tafel und fliegende Farbpartikel. „Dabei ist c - Element von R - der Bestand zum Zeitpunkt T gleich Null, F von T ist der Bestand zum Zeitpunkt…“ Sie senkte den Blick und kritzelte geschäftig an dem Baum im Zentrum einer Grusellandschaft weiter, die sich über den oberen Rand ihres Karoblattes rankte. „Du hast mich doch gerufen?“ Das Handy in ihrer Hand zitterte. Wo eben noch die pechschwarze Seite mit dem bedeutungsvollen Eingabefeld gewesen war, glomm jetzt ein rotes Leuchten, das langsam auf ihr Zimmer überzugreifen schien. Gras kitzelte ihre nackten Füße, die einen Lidschlag zuvor auf kaltem Holzfußboden gestanden hatten. Ayumi bewunderte die Hügellandschaft unter dem wohl rötesten Sonnenuntergang, den sie je gesehen hatte. Bis auf einen einzigen Baum schien sie nur aus sanften Konturen zu bestehen, die sich am Horizont verloren. Kein Zeichen von Vegetation bis auf einzelnen Baum, unter dem sie zu dritt standen. Kein Geräusch, das von Leben gekündet hätte. Selbst der sanfte Wind schien ihr irgendwie tot. Sie wagte nicht, ihn tiefer als nötig einzuatmen, fürchtete, er könnte den Geruch von Verwesung mit sich bringen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Dieser Ort, dachte sie, ist nirgendwo. Haltsuchend heftete sie ihren Blick auf das Mädchen in der schwarzen Schuluniform. Unter den langen, glatten Haaren schaute ihr ein Augenpaar von derselben Farbe entgegen, die auch der Himmel über ihnen hatte. „Jigoku… Shoujo…“ entwich es Ayumi. Das Mädchen nickte kaum merklich. „Mein Name ist Enma Ai.“ Der alte Mann in ihrem Rücken verlagerte sein Gewicht von einem Bein auf das andere. Trotz seines freundlichen Aussehens wollte er auf Ayumi nicht recht den Eindruck eines harmlosen Großväterchens machen. Ihr Herz hämmerte noch immer gegen ihre Rippen. „Wanyuudou“, sagte das Mädchen und der Alte verschwand. Der Stift hielt inne, als sie sich langsam nach ihrer Schultasche umwandte, die sie achtlos neben dem Tisch abgestellt hatte. Zwischen Büchern, Blöcken und einer täglich wachsenden Loseblattsammlung lugte der Kopf eines schwarzen Strohmännchens hervor. Ein Ende des roten Fadens, den sie um den Hals gebunden hatte, hing einladend heraus. Kanekos Ticket in die Hölle, die Rettung ihrer Familie, oder dessen, was davon noch übrig war. Beides nur ein Ausstrecken des Armes entfernt. Trotz dieses ernsten Gedankens, der so beglückend wie beängstigend war, drängte sich Ayumi das Bild auf, wie sie in ihrem Rucksack den glatzköpfigen Opa umhertrug, der die Strohpuppe zuvor gewesen war. So war sie eben. Lebhaft, aufgedreht, kindisch sagten manche ihrer Mitschülerinnen. Flausen im Kopf, hatten ihre Eltern oft gestöhnt. Ach was, Flausen. Riesige Staubknäuel. Sie zog den Opa aus seinem Versteck – und ertappte sich dabei, wie sie darauf achtete, dass er ihr dabei nicht unter den Rock schauen konnte. Vorsichtig nahm sie ein Ende der Schleife zwischen die Finger. „Wenn du an diesem Faden ziehst, ist unser Bündnis besiegelt. Die Person, die du hasst, wir geradewegs in die Hölle fahren.“ Die Stimme des Mädchens hob sich nur minimal. Es war als würde sie die Worte auf eben jenen Faden reihen. Schnurgerade, eins hinter das andere. „Doch wer einen Anderen verflucht, gräbt sich sein eigenes Grab. Deine Seele wird für immer-“ „Ich werd’ ein Weihnachtself. >.<“ Ayumi schreckte aus ihren Gedanken hoch. Das lautlos gestellte Handy auf ihrem Schoß hatte zu leuchten begonnen. Kei. Ihr Lichtblick. Sie vergrub die Puppe wieder im Rucksack, hinderte mit der anderen Hand das Telefon im letzten Moment daran, ihren Rock als Rutschbahn gen Fußboden zweckzuentfremden und mimte eiligst wieder die interessierte Zuschauerin, als Herr Nishikawa sich von der Tafel umdrehte und der Klasse seine mit buntem Staub bedeckte Vorderseite präsentierte. „… Nehmen wir also an, die Geldsumme zum Zeitpunkt T gleich Null beträgt…“ Er rezitierte noch immer. Sein oder nicht sein. Ich rechne, also bin ich. Sie öffnete die Nachricht und überflog den Rest mit schlecht unterdrückter Schadenfreude. Keiichi in grünem Hemd und Strumpfhosen wie er Geschenke für die Kunden einpackte. Allein, dass er die ungeliebte Verkleidung nicht vor ihr verheimlichte, sprach von wahrer Liebe, denn schließlich kannte er sie gut genug, um zu wissen, dass sie und ihr Handy samt Kamera gern zur Stelle sein würden, um ihn zum gemeinsamen Filmabend abzuholen. Selbstverständlich viel zu früh. Immerhin war sie gnädig genug, ihn vorzuwarnen, bevor sie sich das Telefon zwischen die Knie klemmte und sich noch einmal zu ihrer Tasche hinunterbeugte, um sie mit einem energischen Ruck zu schließen. Dieser Teil ihrer Welt war noch in Ordnung. Ihr Sandkastenfreund aus Kindertagen. Der Fels in der Brandung. Die Beziehung, die hielt, obwohl sie inzwischen weit mehr geworden war. Solang es Weihnachtselfen gab, konnte der Tod warten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)