White Christmas von cork-tip (Just like the ones I used to know) ================================================================================ Kapitel 2: Santa Baby I ----------------------- Harumi Sakamoto war völlig schleierhaft, wie er sich dazu hatte überreden lassen können, einen dermaßen lästigen Nebenjob anzunehmen. Gut, er war befristet und gut bezahlt war er auch. Aber er wurde und wurde das Gefühl nicht los, dass er sich entweder zum Gespött der ganzen Stadt machen oder wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses verhaftet werden würde. Ihm hätte von Anfang an klar sein müssen, dass er nicht zum Weihnachtsmann taugte. Das Kostüm war ihm viel zu groß, der künstliche Bart löste sich alle fünf Minuten von seinem Kinn und fusselte wie bescheuert, eiskalte Windböen wehten ihm in schöner Regelmäßigkeit die Mütze vom Kopf und ganze Horden von Kindern fielen über ihn her, traten ihm auf die Füße, zupften an seiner Jacke herum oder überreichten ihm kilometerlange Wunschzettel, die er niemals abarbeiten würde, weil er eben nicht echt war. Harumi mochte Kinder. Wirklich. Aber mit diesem Ansturm war er heillos überfordert. Nie wieder würde er für einen Spielzeugladen in der Vorweihnachtszeit den Weihnachtsmann spielen, das hatte er sich fest vorgenommen. Es war kaum fünf Uhr Nachmittags und schon stockdunkel. Dicke Schneeflocken fielen vom Himmel und er fürchtete, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis er nicht mehr den Weihnachts-, sondern einen Schneemann mimte. Einen Schneemann mit natürlich gewachsenem Kostüm. Dummerweise schien sein Chef geradezu begeistert von ihm zu sein, und das bedeutete, dass er ihn im Jahr darauf unweigerlich wieder um Hilfe bitten würde. Und Harumi Sakamoto war ein Mensch, der einfach niemandem einen Gefallen abschlagen konnte. Über mangelnde Aufmerksamkeit konnte er sich wahrlich nicht beschweren. Die Kinder liebten ihn so sehr, dass er von den Eltern schon für sein pädagogisches Geschick gelobt wurde. Ab und zu verwickelte ihn auch ein älteres Ehepaar in ein Gespräch, weil sie es so ganz reizend fanden, dass „so ein hübscher junger Mann wie er noch den Geist der Weihnacht zu schätzen wusste“. Die einzigen, die sich nicht im mindesten um ihn kümmerten, waren die Mädchen. Das Leben war nicht fair. Wenn wenigstens sein kleiner Bruder ab und an bei ihm vorbeischauen würde... Vielleicht würde er sich dann nicht ganz so schrecklich im Stich gelassen fühlen. Aber Akira war nicht da. Ausgerechnet diesen Winter hatte er seine Begeisterung fürs Skifahren entdeckt und ihn mit seinem fürchterlichen Nebenjob allein gelassen. Und dabei arbeitete er doch nur, um ein paar wirklich schöne Weihnachtsgeschenke kaufen zu können. Das Leben war ja so unfair! „Akira...“ Er seufzte betrübt, während er versuchte, sich gegen ein kleines Mädchen zu wehren, dass ihm im allerwahrsten Sinne des Wortes an den Fersen klebte. „Nicht Akira, Arisada.“ Erschrocken fuhr er herum und erbleichte. Er war sich hundertprotzentig sicher gewesen, dass der Tag nicht mehr schlimmer werden konnte. Und nun stand er direkt vor ihm: der unwiderlegbare Gegenbeweis. Das letzte Mal, dass er den Vorsitzenden der SMV gesehen hatte, hatte er Arbeit aufgehalst bekommen. Zu dumm, dass er einfach niemandem einen Wunsch abschlagen konnte. Im Umgang mit Arisada konnte einem das ohne weiteres das Genick brechen. Wie ein Bluthund witterte er die Schwächen seiner Gesprächspartner und darin sie „zum besten der Schule“ auszunutzen, war er ein echter Meister. Harumi wollte nichts mehr mit dem ganzen Mist zu tun haben! Er wollte nicht Tag und Nacht belagert und verehrt werden wie ein Buddha, er wollte nicht mit „Herr Sakamoto“ angesprochen werden, er wollte nicht, dass alle grob zwei Meter Höflichkeits-Distanz zu ihm hielten – er wollte einfach nur ein ganz normales Durchschnittsleben mit guten Kumpels, einer netten Freundin und ein bisschen Ruhe. Und schon Arisadas bloße Anwesenheit stellte eine tödliche Gefahr für diesen Wunschtraum dar. Aus einem spontan-kindlichen Bedürfnis heraus presste er sich die Hände auf die Augen. Vielleicht verschwand dieser Teufel ja, wenn er ihn nicht mehr sah. Aus den Augen, aus dem Sinn. Das sollte doch angeblich so gut funktionieren... „Geh weg, ich will dich nicht sehen!“, jammerte er verzweifelt. Er hatte zur Zeit wahrlich genug zu tun. Auch ohne, dass Arisada wieder einmal versuchte, seine ihm selbst völlig unerklärliche Popularität für seine Zwecke auszunutzen. „Na, na, das ist aber überhaupt nicht nett“, lachte der blonde Teufel vergnügt. Anscheinend funktionierte diese Taktik überhaupt nicht. „So kenne ich Sie überhaupt nicht, Herr Sakamoto...“ Na bitte, da war sie wieder, diese fürchterliche Anrede. Frustriert zog er die Hände zurück und steckte sie mangels besserer Verwendung erst einmal in die Hosentaschen. Er registrierte kaum, dass einige wesentlich kleinere Kinderhände vollkommen ungefragt folgten. „Arisada, bitte“, flehte er in geradezu theatralischer Verzweiflung. „Ich mag es nicht, wenn man mich so nennt! Ich bin doch kein Politiker.“ Arisadas gut gelauntes Grinsen versank beinahe in seinem langen, weißen Schal. „Sie sind eine Legende“, erinnerte er Harumi überflüssigerweise. Anscheinend wusste dieser Mensch ganz genau, was er nicht hören wollte und machte sich einen Spaß daraus, ihn damit zu ärgern. „Die ganze Schule vergöttert Sie. Was würden die Leute sagen, wenn ausgerechnet ich Ihnen nicht den Respekt erweise, den Sie verdienen, Herr Sakamoto?“ „Sie würden es überhaupt nicht erfahren!“, gab Harumi entnervt zurück. „Ich kann das wirklich nicht haben. Das fühlt sich an, als wäre da irgendeine unsichtbare Barriere zwischen mir und dem Rest der Welt.“ Scheinbar konnte Arisada nicht verstehen, dass er ein ernsthaftes emotionales Problem mit diesem Umstand hatte, denn er winkte nur verschmitzt grinsend ab. „Sie erschrecken alle mit Ihrer übernatürlichen Schönheit, Herr Sakamoto. Die Anrede ist daran nicht schuld.“ Harumi errötete unwillkürlich. „Sag das nicht!“, befahl er unangenehm berührt. „Das ist peinlich. Was machst du überhaupt her?“ „Das ist ein Spielzeugladen, Herr Sakamoto“, erklärte das lächelnde Monster ruhig. „Ich muss noch-“ Arisada hielt inne, schien einen Moment lang zu überlegen. „Na gut“, sagte er schließlich. „Wahrscheinlich sage ich besser gleich die Wahrheit: Ihr Bruder hat mir erzählt, dass Sie in der Vorweihnachtszeit hier arbeiten werden, und ich dachte, ich schaue mal vorbei.“ „Aha.“ Mehr fiel Harumi dazu beim besten Willen nicht ein. Da war ihm also sein eigener Bruder schamlos in den Rücken gefallen, und das, obwohl Akira ganz genau wusste, dass er sich unmöglich gegen die Überredungskünste des charismatischen SMV-Vorsitzenden wehren konnte. Augenblick... Bisher hatte Arisada überhaupt nichts von ihm verlangt. Konnte es denn tatsächlich sein, dass er ihm wirklich nur einen reinen Höflichkeitsbesuch abstattete? Der Gedanke kam ihm nicht ganz koscher vor. Aber wie hieß es doch so schön? In dubio pro reo... „Wollen Sie mich immer noch nicht sehen, Herr Sakamoto?“ Gute Güte, war das peinlich. Wahrscheinlich hatte er allen Ernstes einfach nur nett sein wollen und er hatte ihn so schroff abgewiesen. Das war sonst doch ganz und gar nicht seine Art. „Es tut mir leid“, entschuldigte er sich kleinlaut, doch wieder winkte Arisada ab. „Sie müssen sich nicht entschuldigen, Herr Sakamoto“, bestimmte er gnädig. „Ich sehe ja, dass Sie sehr beschäftigt sind. Vermutlich ist es wirklich besser, wenn ich jetzt gehe.“ Mit einem verschwörerischen Grinsen deutet er auf eine meilenlange Schlange von Kindern, die sich vor dem Eingang des Ladens gebildet hatte. Anscheinend warteten sie schon die ganze Zeit über geduldig darauf, dass der Weihnachtsmann endlich ein paar Minuten Zeit für sie fand. Der Schreck fuhr Harumi richtiggehend in den Magen. Verdammte Schuldgefühle! Tausend Mal verfluchtes Pflichtbewusstsein! Er wäre sicherlich besser dran, wenn er es nur endlich fertig bringen würde, seinen ungesund freundlichen und hilfsbereiten Charakter abzulegen. „Die Kinder scheinen Sie zu mögen“, stellte Arisada fest. „Sie sollten sie nicht warten lassen, Herr Sakamoto. Schließlich sind Sie eine Legende.“ Harumi beeilte sich zu nicken. „Du hast Recht, ich muss arbeiten. Vielen Dank für den Besuch. Vielleicht sieht man sich irgendwann mal wieder.“ Aber hoffentlich nicht mehr in diesem Jahr, dachte er. Und Arisada schien es ihm von den Augen abzulesen. „Wenn Sie mich so unbedingt loswerden wollen, werde ich natürlich nicht länger stören“, erklärte er unerschütterlich gut gelaunt. „Aber vorher...“ Er zauberte einen mehrfach gefalteten Zettel aus der Tasche seines langen, weißen Mantels hervor und hielt ihn Harumi unter die Nase. Etwas skeptisch nahm er ihn an. „Was ist das?“, erkundigte er sich misstrauisch. „Das?“ Arisada lächelte verschmitzt. „Das ist mein Wunschzettel.“ Im ersten Augenblick traute Harumi seinen Ohren nicht. Anscheinend war Arisada doch nur gekommen, um ihn zu ärgern. „Was soll das?“, fragte er verstimmt. „Sehe ich aus wie der Weihnachtsmann?“ Eine ganze Weile sah Arisada ihn nur an. Dann brach er in schallendes Gelächter aus. „Oh ja, das tun Sie!“, brachte er gepresst hervor. Dann hob er die Hand zum Gruß und wandte sich zum Gehen. „Auf Wiedersehen, Herr Sakamoto!“ Noch bevor Harumi selbst verstanden hatte, was genau an seiner Aussage so unglaublich lustig gewesen war, war Arisada auch schon in der Menge verschwunden. Mit gemischten Gefühlen entfaltete er den Zettel. Was ihn dort erwartete, waren die ersten zwei Strophen eines westlichen Weihnachtsklassikers. Ein Liedtext. Santa Baby, slip a sable under the tree for me Been an awful good girl Santa Baby, so hurry down the chimney tonight! Santa Baby, a 54 convertible too, light blue, I'll wait up for you, dear Santa Baby, so hurry down the chimney tonight Damit war es amtlich. Arisada machte sich über ihn lustig. Und er war doch tatsächlich dumm genug gewesen, sich auch noch bei ihm zu entschuldigen. Kaum zu glauben. Das Leben konnte so unfair sein... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)