Fortissimo von halfJack ================================================================================ Kapitel 1: 1. Satz: Recitando ----------------------------- Fortissimo 1. Satz: Recitando (frei vortragend, ohne strikte Einhaltung des Taktes, rezitierend) Ryuichi starrte durch den Spiegel auf das Bild dahinter. An den Seiten war das Glas leicht schmutzig. Er betrachtete sein verkehrtes Ich. Unter den Augen, die halb von seinem Haar verdeckt waren, lagen dunkle Ringe. „Please help me...“, flüsterte er zu seinem Spiegelbild. Etwas rann feucht seine Wangen hinab und brannte auf der überreizten Haut. Seine Augenbrauen zogen sich schmerzlich zusammen, als seine kalte Hand gegen das Glas schlug, genauso wie sein heißer Atem. Schwach glitt seine Faust an der glatten Fläche hinab. Er lehnte die erhitzte Stirn gegen den Spiegel. „Please help me“, sang Ryuichi leise, während jeder Atemzug einen schnell schwindenden Schleier hinterließ, „if you consider me to be your burden...“ Das spärliche Licht im Raum schien von der durch das Fenster eindringenden Dunkelheit verschluckt zu werden. „I will say so long anytime...” Der leise Gesang verlor sich im Raum, bis Ryuichi verstummte, seine Tränen versiegten. Er sah sich ins Gesicht. Schließlich rang er dem Anderen ein Lächeln ab, sodass sein Spiegelbild ihm zuzwinkerte. Einen langen Augenblick stand er nur reglos da und nahm das freundliche Grinsen der Person ihm gegenüber in sich auf. Dann wandte er sich ab. Mit unsicheren Schritten ging er auf das Bett zu und ließ sich auf den unangenehm weichen Stoff des Bettbezugs sinken. Ryuichi griff nach dem Stoffhasen, der auf dem Kopfkissen lag, und drückte ihn an seinen Körper. Er roch den alten Geruch von zerfledderter Vergangenheit. Es beruhigte ihn. Noch immer lag das Lächeln auf seinen Lippen. Er fiel zurück. Mit dem Gesicht zur Decke gewandt lag er auf dem Bett. Im Zimmer war es völlig still, als er flüsternd sang: „Please help me...” Kumagoro sagte: „Du musst keine Angst haben. Ich bin schließlich bei dir. Das werde ich immer sein.“ „Nein, wie kann ich mir sicher sein, dass du mich nicht allein lässt? Ich will nicht allein sein.“ Kumagoro versicherte: „Das wirst du auch nicht. Schließlich bin ich da. Und Sakuma ist auch bei dir, kleiner Ryuichi.“ „Aber er ist viel stärker als ich.“ Kumagoro fragte: „Du meinst Sakuma?“ „Ja.“ Kumagoro meinte: „Er muss auch stärker sein, damit er dich beschützen kann. Schließlich kannst du dich nicht selbst beschützen. Du brauchst uns.“ „Ich will ich bleiben.“ Kumagoro tröstete: „Wozu? Wenn du dich uns überlässt, dann bist du immer in Sicherheit. Dann kann dir niemand wehtun, kleiner Ryuichi.“ „Ich will stark sein...“ Kumagoro lachte: „Das bist du aber nicht.“ Tatsuha lag mit dem Bauch auf den Tatami am Boden, den Kopf zur Seite gewandt. Er starrte auf die Schachfigur, die einen halben Meter entfernt vor seinem Gesicht lag. Ein Bauer. Er griff danach und stellte die Figur auf. Während er sie fixierte, verschwammen in seinem Blick die Gegenstände im Hintergrund. Erneut hob er die Hand und stieß mit seinem Finger leicht gegen den Kopf des Bauern. Ein Grinsen huschte über sein Gesicht, als die Schachfigur umfiel. „Letztens hat Shindo-san zusammen mit Nakano-san sein erstes Konzert gegeben“, meinte Ayaka traurig und nach einer längeren Pause: „Ich war dort, mit Eiri-san. Hat er dir davon erzählt?“ „Interessiert mich nicht“, antwortete Tatsuha nur. „Du warst nicht da, oder?“, fragte sie zurückhaltend. „Ich dachte, du magst Shindo-san.“ „Doch nur, weil er meinem Ryuichi so ähnlich ist.“ Ayaka schwieg eine Weile. Dann sagte sie mit ein wenig Wut in der Stimme: „Warum müsst ihr alle auf Männer stehen? Dafür sind wir Frauen da. Das ist doch abnormal. Auch Shindo-san hat es einfach gesagt, dass er Eiri-san liebt. Und ihm wird mehr Gefühl entgegengebracht... als mir.“ Nun war es an Tatsuha, zu schweigen. Ayaka seufzte. Schließlich fuhr sie fort: „Auch wenn dir Shindo-san egal ist, Sakuma-san war ebenfalls dort. Er hat...“ „Was!?“, unterbrach Tatsuha sie. „Ja“, sagte Ayaka und schaute verwundert zu ihm auf. „Er hat mit ihm im Duett gesungen.“ „Verdammt.“ Warum hatte ihm das niemand gesagt? Tatsuha beschloss, Shuichi dies selbst zu fragen. Die Nacht war kalt. „Er hat euch rausgeschmissen?“, fragte Noriko, als sie Tatsuha mit Shuichi und Mika auf der Straße traf. Mika begann sich lautstark darüber aufzuregen, dass Eiri sie vor die Tür gesetzt hatte, nur weil Tatsuha es für nötig gehalten hatte, bei ihm nach Shuichi zu suchen und dabei seine Arbeit zu vernachlässigen. Doch das spielte keine Rolle. Tatsuhas Herz raste, als Noriko die drei mitnahm. Mitnahm, um die anderen Mitglieder von Nettle Grasper zu treffen. „Guten Abend, allerseits!“ Noriko setzte sich erfreut zu Toma und Ryuichi, während Shuichi neben ihr Platz nahm. „Hi“, war das erste Wort, das Tatsuha persönlich von Ryuichi hörte. Der erste Blickkontakt war für beide ein Schlag ins Gesicht. Nimm dich in Acht, sagte Sakuma in Ryuichis Innerem. Der gehört mir, hallte es in Tatsuha wider. „Guten Abend, Sakuma-san. Ich bin ein großer Fan von...“ Der erste Schritt, um einen anderen Menschen seiner Kontrolle zu unterwerfen, dachte Tatsuha, ist, ihn zu belügen. Verhalte dich nicht so, wie du bist, sonst wirst du angreifbar. „Stimmt ja“, meinte Noriko jetzt, „du musst wieder zurück nach L.A., nicht wahr, Ryu-chan?“ „Genau“, antwortete dieser, „aus irgendeinem Grund kann ich da am besten arbeiten.“ Tatsuha biss die Zähne aufeinander. Er musste die Aufmerksamkeit wieder auf sich lenken. „Bevor Sie zurückfliegen“, wandte er sich an Ryuichi, „müssen Sie unbedingt mal zu mir kommen.“ „Klar! Mach ich glatt!“ Angebissen. Ryuichi war leichte Beute. „Sie wohnen also in L.A.?“, fuhr Tatsuha fort. „Das passt zu Ihnen, Sakuma-san.“ Für einen Augenblick flackerte etwas in Ryuichis Augen auf, das Tatsuha nicht definieren konnte. Es kam ihm jedoch so vor, als hätte der andere Mann ihn durchschaut. Ein eiskalter Schauer lief Tatsuha den Rücken hinab. Er musste den Sänger von den anderen Anwesenden weglocken. Ryuichi sollte ihm vollkommen ausgeliefert sein. „Ist dir noch schlecht?“, fragte Ryuichi, legte seine kühlende Hand auf Tatsuhas Stirn und fuhr dann dessen Wange hinab. Durch das Nachtlokal wehte das Lachen der benachbarten Tische, die von der Ecke abgetrennt waren, in die sich die beiden Männer zurückgezogen hatten. „Nein, es geht schon“, antwortete Tatsuha und nahm Ryuichis Hand in seine eigene. Alles schien still um sie herum zu werden, ganz leise. Die Stimmen im Inneren der beiden blieben für sie allein hörbar. Sei vorsichtig, grollte Sakuma im Ohr des Sängers, er ist gefährlich. Doch Ryuichi hörte nicht darauf. Es war nicht viel nötig gewesen, um den förmlichen Ton abzulegen. Rasch hatte Tatsuha es geschafft, ihren Umgang miteinander auf eine freundschaftliche Basis zu heben. Vom Aufenthalt in Amerika war Ryuichi körperliche Nähe gewohnt und nahm sie bedenkenlos hin. Zeit für den nächsten Schritt. „Hast du heute Abend schon etwas getrunken?“, fragte Tatsuha und rückte ein Stück näher an ihn heran. Das war die perfekte Gelegenheit, vertraulicher mit seinem Opfer umzugehen. „Ein wenig“, antwortete Ryuichi grinsend. „Kommt drauf an, was du meinst.“ „Alkohol natürlich.“ Ryuichis Grinsen wurde breiter. Er entzog Tatsuha seine Hand und sagte: „Das ist wohl kaum etwas für kleine Jungen wie dich.“ „Ach?“ Tatsuhas Stimme klang verstohlen und er legte den Arm auf die Lehne hinter Ryuichi. „Woher willst du wissen, wie alt ich bin?“ „Kaum achtzehn Jahre, schätze ich. Obwohl deine Augen manchmal etwas anderes verraten. Man sieht es dir trotzdem an.“ Tatsuha antwortete nicht. Aufgrund dieser Aussage zerfraßen ihn Wut und Überheblichkeit, die man jedoch nicht in seinem Gesicht sehen konnte. Er näherte sich Ryuichi weiter und legte ihm eine Hand auf den Schoß. Sofort drückte dieser Kumagoro zwischen sie. „Na na, wer wird denn...“, sagte Ryuichi und lachte dabei verlegen. „Was soll eigentlich dieser Stoffhase?“, fragte Tatsuha und erwiderte das Lächeln, wobei er keinen Zentimeter zurückwich. „Er sagt mir, dass ich auf mein zweites Ich hören soll.“ „Und was sagt dein zweites Ich?“ Tatsuha griff nach Kumagoro, nahm ihn unsanft aus Ryuichis Händen und warf ihn hinter sich auf die Polster der Sitzecke. „Ich kann ihn dir gern geben, wenn du möchtest.“ „Wovon sprichst du?“, fragte Tatsuha, doch im nächsten Moment hatte sich Ryuichis Gesichtsausdruck schlagartig verändert, wurde ernst und unnahbar. „Davon, dass du um einiges zu grün hinter den Ohren bist, um mich anzumachen.“ Damit stieß er Tatsuha von sich und stand auf. Die Geräusche in ihrer Umgebung schienen plötzlich wieder zu ihnen durchzudringen. Ryuichi langte nach Kumagoro. „Schönen Abend noch, Tatsuha-kun“, verabschiedete er sich mit einem breiten Lächeln. Dieser lächelte kühl zurück. Jetzt wusste er, was sein Idol für ihn so anziehend gemacht hatte. Dieses Spiel konnte lustig werden. Kapitel 2: 2. Satz: Largo ------------------------- 2. Satz: Largo (breit, gedehnt, im langsamsten Zeitmaß) Ryuichi stand vor der Glastür und schaute in den hell erleuchteten Eingangsbereich. Es war spät, weit nach Mitternacht, und niemand war da. Einen kurzen Moment blieb er stehen und wartete. Er wartete nur auf den Klang der Stille in der Dunkelheit. Leises Blätterrauschen war zu hören. Endlich setzte er sich in Bewegung. Er schritt durch die Glastür, die sich automatisch öffnete. In der Empfangshalle stand ein Mann vom Personal, der den Blick vom Klemmbrett in seiner Hand hob, sich verbeugte und ihm einen schönen Abend wünschte. Ryuichi ging an ein paar Tischen vorbei, auf denen noch die Reste von kunstvoll angerichteten Speisen standen. Er stieg in einen Fahrstuhl und betätigte einen Knopf. Kurz bevor sich die Türen jedoch schließen konnten, hielt eine Hand sie auf. „Und ich dachte, das würdest du dir nicht trauen“, meinte Ryuichi mit belustigtem Gesichtsausdruck, „aber offensichtlich bist du mir doch gefolgt. Du bist ganz schön zäh, Tatsuha-kun.“ Dieser grinste überheblich und gesellte sich zu ihm. Beide lehnten sich an die Wand des Fahrstuhls, als sich die Türen wieder schlossen. Sie starrten an die Decke, an der ein großer, in Mosaiksteinen eingefasster Spiegel angebracht war. In einer der oberen Etagen stiegen sie aus. Rechts und links erstreckten sich lange Flure. Ryuichi ging nach links. „Ist das nicht Wahnsinn, diese endlosen Gänge?“, rief er erfreut und beschleunigte seine Schritte. „Ryuichi, warte!“ Tatsuha lief ihm hinterher, an etlichen Türen vorbei, nach rechts, wieder nach rechts. „Weißt du, was ich glaube?“, fragte Ryuichi ein wenig außer Atem. „Die wollen das Hotel nur pompös aussehen lassen, aber eigentlich befinden sich hinter all diesen Türen gar keine Zimmer, sondern nur Flure, durch die man endlos geschickt wird.“ Endlich blieben die beiden Männer vor einer der Türen stehen. „Bis hierher und keinen Schritt weiter“, sprach Ryuichi mit erhobenem Zeigefinger. „Der Herr darf Schneewittchen nur bis zur Tür geleiten.“ Perplex hob Tatsuha eine Augenbraue. Dann machte sich jedoch ein Lächeln auf seinem Gesicht bemerkbar. Er legte sanft die Hand unter Ryuichis Kinn und fragte: „Ist sich Schneewittchen da sicher?“ „Natürlich. Von hier an passen die Zwerge auf.“ Ryuichi drückte Kumagoro gegen Tatsuhas Brustkorb, der daraufhin seufzend meinte: „Das ist ein Hase.“ „Ein Zwergkaninchen“, berichtigte Ryuichi. „Denkst du nicht auch, dass ich genauso gut auf dich aufpassen könnte?“ Tatsuha strich Ryuichis Kiefer entlang zu dessen Ohr und spielte mit seinen Ohrringen. Ryuichi grinste verlegen und suchte währenddessen mit der Schlüsselkarte nach dem Türschlitz. „Du denkst wohl“, meinte er unschuldig, „es wäre einfach, sich andere Menschen gefügig zu machen, hm?“ Tatsuha hielt in der Bewegung inne. Rasch löste sich Ryuichi von ihm und öffnete mit einem Lachen die Tür. Doch er schaffte es nicht, sie schnell genug hinter sich zu schließen. Tatsuha hatte den Fuß dazwischen gestellt. „Das denke ich nicht.“ Tatsuhas Stimme strahlte kühne Selbstsicherheit aus. „Ich weiß es.“ „Du willst dein Ziel aber doch nicht mit Gewalt erreichen, oder?“ Ryuichis Blick wurde ernst, das Lächeln allerdings schwand nicht von seinen Lippen. „Das wäre kein Sieg, auf den du stolz sein könntest, Kleiner.“ „Nenn mich nicht so.“ Beide Männer starrten einander freundlich in die Augen. Ein Kampf, den keiner in diesem Moment gewinnen konnte. Dann trat Tatsuha einen Schritt zurück und fischte aus seiner Tasche ein Visitenkartenetui. „Du hast gesagt, du wirst mich besuchen, bevor du zurückfliegst. Das betrachte ich als ein Versprechen. Halte dich daran.“ Damit gab er Ryuichi seine Karte und ging. Hell. Dunkel. Knistern... „Er sagte, das betrachte er als ein Versprechen.“ Hell. Knistern... „Du sollst dich daran halten.“ Dunkel. Hell. Dunkel. „Er wartet auf deinen Besuch.“ Ryuichi blickte in die Schwärze. Er spürte nicht, dass seine Augen schmerzten. Hell. Er schloss sie kurzzeitig, als die defekte Glühlampe wieder aufleuchtete und im nächsten Moment zu flackern begann. „Von einem Nobelhotel hätte man eigentlich Besseres erwarten können.“ Rücklings lag er auf der Bettdecke. Er betrachtete sein Handgelenk, welches er schwankend in die Luft hielt, sodass es zur Decke zeigte. Mit der anderen Hand hatte er Kumagoro an seinen Körper gedrückt. Knistern... Dunkel. „Ich habe schon gedacht, du kommst nicht mehr.“ Tatsuha stand in der Eingangstür, sein geöffnetes Hemd entblößte seinen nackten Oberkörper. „Bin ich zu früh?“, fragte Ryuichi. „Habe ich dich geweckt?“ „Nein, schon seit vier Uhr veranstalten diese vermaledeiten Vögel ein totales Spektakel, sodass ich nicht mehr schlafen konnte.“ Tatsuha ging einen Schritt zur Seite. „Komm rein.“ Neugierig trat Ryuichi in die Wohnung und schaute sich staunend um, als hätte er noch nie eine enge japanische Behausung gesehen. Das hier war für Tatsuha ohnehin nur eine Unterkunftsmöglichkeit, die er lediglich dann nutzte, wenn er glaubte, seinem Bruder bei irgendwelchen Angelegenheiten in Tokyo beistehen zu müssen. Andererseits war es auch ein Zufluchtsort vor dem mühseligen und langweiligen Priesteralltag, der in Kyoto auf ihn wartete. Tatsuha blieb hinter seinem Besucher stehen und hob eine Hand. Er wollte das Haar des Sängers berühren, doch als Ryuichi zu sprechen ansetzte, ohne sich dabei zu ihm umzudrehen, hielt er in der Bewegung inne. „Du hasst es also, wenn die Vögel so früh zu singen anfangen. Toma hat mir erklärt, warum sie das tun. Heutzutage ist die Luft erfüllt vom Lärm der Straße, Motorengeräusche, die wir kaum mehr wahrnehmen. Vögel singen, um einander zu finden, um auf sich aufmerksam zu machen. Tagsüber hören sie sich gegenseitig nicht mehr, darum hat sich im Laufe der Zeit ihr Singen auf die Nacht und den frühen Morgen verschoben.“ „Hmm... stimmt schon.“ Tatsuha ließ die Hand wieder sinken. „Weißt du“, fuhr Ryuichi fort, „ich kann das verstehen. Das ist für mich vielleicht auch der Grund, weshalb ich schlecht reden kann. Ich kann es nur hinaussingen, wenn es still und dunkel um mich herum ist. Wenn ich gehört werde, ohne daran denken zu müssen, dass ich allein sein will. Denn nur wenn ich singe, hören die Leute mir wirklich zu.“ Etwas Fremdes, aber dennoch von seiner Bühnenpräsenz unnahbar Vertrautes schwang in Ryuichis Worten mit. In diesem Moment drehte er sich herum und schenkte Tatsuha ein unbedarftes Grinsen. „Warum hast du dann aufgehört?“, fragte dieser. „Wieso spielen Nettle Grasper nicht mehr?“ Übertriebene, fast aufgesetzte Verwunderung zeichnete sich in Ryuichis Augen ab. „Kannst du dir das denn nicht denken?“ Tatsuha hatte keine Ahnung, wovon die Rede war. Allerdings wollte er seine Unkenntnis nicht offen zeigen und sagte deshalb nichts. „Jedenfalls...“ Ryuichi sprach sehr langsam, während er zum Fenster ging. Er blieb stehen und schaute in den Morgen hinaus. „Ich wollte nur kurz vorbeikommen. Eigentlich muss ich gleich wieder los. Heute reise ich nämlich ab.“ Irritiert wollte Tatsuha diesem Bekenntnis etwas entgegensetzen. Er öffnete den Mund. Dann schloss er ihn wieder. Statt etwas zu erwidern, näherte er sich Ryuichi und fasste ihn bei der Schulter, um ihn zu sich herumzudrehen. „Und wenn ich will, dass du bleibst?“ Tatsuha drückte ihn gegen das Fensterglas in dessen Rücken und umschlang den Körper des anderen Mannes mit seinen Armen. Ryuichi schaute verlegen zu ihm auf, als er die Hände auf Tatsuhas nackten Oberkörper legte, um ihn von sich zu schieben. „Das würde erst einmal nichts ändern.“ „Erst einmal?“, wollte Tatsuha genauer wissen und strich durch Ryuichis Haar. Doch dieser entwand sich geschickt seinem Griff und war in Windeseile wieder an der Eingangstür. „Du solltest dir darüber im Klaren sein, dass nicht jeder Mensch so einfach zu manipulieren ist“, sagte Ryuichi lächelnd. „Ich muss zum Flughafen. Sorry, Tatsuha-kun.“ Die Tür schloss sich hinter ihm. „Scheiße“, sagte Tatsuha und starrte auf seine leeren Hände. In einer letzten Kurve fuhr die Maschine von der Rollbahn auf die Startbahn. Von da an nahm ihre Geschwindigkeit erheblich zu, bis sie sich schließlich von der Erde löste und in die Luft aufstieg. Ryuichi lugte durch das winzige Fenster auf die Tragfläche direkt darunter. Der Narita Airport und die umliegenden Häuser wurden beständig kleiner. Das Meer kam in Sicht. „Like a drug of life“, sang Ryuichi flüsternd, um den Lärm des Flugzeugs zu ertragen, „we are fleeing to the end.“ Er ließ Japan hinter sich. Kumagoro fragte: „Fliehst du etwa?“ Kapitel 3: 3. Satz: Forte ------------------------- 3. Satz: Forte (laut, starke Klangfülle, kräftig) Flimmern. Flimmern. Flimmern auf dem Bildschirm. Gebannt verfolgte Ryuichi das Geschehen auf dem Monitor. „Blind game again!“ Ein grelles Outfit. Gefärbtes Haar. Die gleiche Frisur. „Don’t let me down.“ Ryuichi schmeckte Blut, als er sich von innen auf die Wangen biss. „Cry for the sun.“ Seine Knöchel schmerzten, als er mit der Faust gegen die Kommode neben dem Bett schlug. „...Auftritte von Bad Luck in Sapporo, Nagoya, Osaka, Hiroshima, Fukuoka und der Ariake Arena in Tokyo. Der unglaubliche Erfolg dieser Band...“ Laut krachend landete das Fernsehgerät auf dem Boden. Der Bildschirm zerbrach. Das Bild wurde schwarz. Ein paar Sekunden vergingen, bis es verhalten an der Tür klopfte. „May I help you?“, erkundigte sich der Zimmerservice gedämpft. „Sorry, I just broke the television.” Der Sänger setzte eine souverän entschuldigende Mimik auf. „There was a fly. I had to kill it.” Die Stimme kam von irgendwoher. „Es ist toll, dass ihr wieder angefangen habt.“ Ryuichi lächelte, schloss dabei unbeteiligt die Augen und spielte mit der Kette um seinen Hals. Wer war das nur? „Endlich kehren Nettle Grasper in das Rampenlicht zurück.“ Dadurch konnte Ryuichi wieder singen. War das gut? Ja, das war gut. Er grinste noch breiter. Kumagoro lag auf seinem Arm und im Hinterkopf hörte er Sakumas Stimme. Du musst es beweisen, sagte dieser, du musst deine Stärke beweisen, lass mich für dich einspringen, deine Stärke ist wichtig und ich mache das schon für dich. „Toma, Noriko-chan und ich machen das schon“, bestätigte er selbstsicher. Das Licht blendete. Er spürte die Menschen, die hinter ihm standen. Und nahm sie doch nicht wahr. Hier war er allein. Nur Sakuma stand an seiner Seite. War in ihm. Für ihn. „Der nächste Song trägt den Titel Unreal Freedom.“ Ryuichis Stimme klang zuversichtlich. Er stand auf der Bühne und schaute in die Menge. Er versuchte ihnen zu zeigen, dass er sie wahrnahm. Doch es war nichts als Lüge. Das Scheinwerferlicht war zu grell, um die einzelnen Gesichter der jungen Mädchen und all der anderen Fans noch sehen zu können. Wozu auch? Es spielte keine Rolle. „We are crawling for death“, sang er mit einer Stimme, die keine Traurigkeit, sondern nur pure Stärke verkörperte, „to never let our life begin. There will be just one turn.“ Er öffnete die Augen, da er erst jetzt bemerkte, dass er sie die ganze Zeit geschlossen hatte. Dadurch hätte man fast denken können, er habe Angst. Doch er hatte keine Angst, das musste er beweisen. „This is you. Betrayed and killed by Innocence.” Wie sehr hatte er vermisst, auf der Bühne zu stehen. „Crushed by this freedom in chains.” Und ganz allein zu sein. „Carried by the wind to let us down.” Das Licht war nicht mehr so hell. Die Scheinwerfer tauchten die Bühne in eine sanfte blaue Farbe. „Crushed by the blue of my soul.” Und dann sah Ryuichi in der Menge das Gesicht von Tatsuha. „This is only you.“ Tatsuhas Herz hämmerte unvermindert heftig im Rhythmus des letzten Liedes. Die Zugabe war im Konzertsaal verklungen. Dennoch hallte die Stimme von Ryuichi Sakuma in seinen Ohren nach. Stets offenbarte die Bühne jene andere Seite der Persönlichkeit, die Ryuichi nur selten aufflackern ließ. Tatsuha verstand nicht, was in den Zwischenräumen verborgen lag. Er wusste jedoch, dass es einfach sein würde, jenen Teil von Ryuichi, der voller Überschwang und guter Laune zu sein schien, zum Weinen zu bringen. Dafür musste man nichts tun. Das war kein Sieg. Starr lächelnd lehnte sich Tatsuha an einen der zwei Meter hohen Lautsprecher, der neben der Bühne stand. Nettle Grasper waren wieder da. Sie waren zurück aus Amerika, zurück in Japan. Als sie ihr erstes Konzert angekündigt hatten, waren die Karten innerhalb kürzester Zeit ausverkauft. Tatsuha hatte nur durch Beziehungen und das nötige Kleingeld ein Ticket ergattert. Sobald es um sein Idol ging, widersprach keine Handlung mehr seinem Stolz. Auch nicht eine stundenlange Wartezeit vor den Toren der Konzerthalle. Hatte es sich gelohnt? Ryuichi Sakuma hatte ihn gesehen. Tatsuha war sich sicher. Sakuma hatte ihn gesehen. Jener Teil, der unbesiegbar und tränenlos zu sein meinte, hatte ihn wahrgenommen. Er musste vom Gegenteil überzeugt werden. Tatsuha würde es schaffen. Er würde ihn besiegen, ihn versklaven. Auch wenn er dafür selbst zum Sklaven werden sollte. „Wer hat dir verraten, wo du mich findest?“ „Kannst du dir das nicht denken?“ Ein selbstbewusstes Lächeln aufsetzend gedachte Tatsuha nicht, seine Quellen zu offenbaren. Er wollte den Älteren vorführen, wie er selbst von ihm vorgeführt worden war. „Ich weiß es! Ich weiß es!“ Ryuichi trat rasch aus dem Hotelzimmer hinaus auf den Flur. Zügig schloss er die Tür hinter sich, als wolle er gar nicht erst riskieren, nach einer Einladung zum Eintreten gefragt zu werden. „Du hast in deinen Spiegel geschaut und der hat dir gesagt, Schneewittchen würde hinter den sieben Bergen leben bei den...“ „Halt doch mal deinen hübschen Mund“, unterbrach Tatsuha ihn, erfasste sein Kinn und legte ihm einen Finger auf die Lippen. „Hübsch, Tatsuha-kun?“, nuschelte Ryuichi verwirrt. „Willst du mich nicht“, fragte dieser und machte eine Pause, als wolle er den ersten Worten seines Satzes mehr Gewicht verleihen, „nur bei meinem Vornamen nennen, ohne dieses unnötige Anhängsel?“ „Ich bin nur höflich.“ „Nein, du bist überheblich.“ „Überheblich, Tatsuha-kun?“ Ryuichi legte den Kopf schief und Tatsuha seufzte. „Ein Gespräch ergibt nicht viel Sinn, wenn du immer nur wiederholst, was ich sage.“ Jetzt verzog Ryuichi das Gesicht zu einem weinerlichen Ausdruck. „Du bist gemein, Tatsuha-kun. Nicht ich bin unhöflich, sondern du! Wenn du so bist, dann mag ich dich nicht!“ Der begnadete Sänger von Nettle Grasper warf ihm seinen Plüschhasen an den Kopf, hockte sich auf den Boden und begann zu schluchzen. Tatsuha holte noch einmal tief Luft, bevor sich sein Gesichtsausdruck in einer plötzlichen Erkenntnis erhellte. „Heißt das“, setzte er forsch an, „normalerweise magst du mich?“ Mit den Fäusten in seinen Augen reibend schluchzte Ryuichi weiterhin, ohne eine Antwort zu geben. Hierauf nahm Tatsuha das Stofftier zuhilfe. Kumagoro fragte: „Wenn er nicht gemein zu dir ist, magst du Tatsuha dann?“ „Vielleicht“, gab Ryuichi zögerlich zu. „Aber Sakuma würde das überhaupt nicht gefallen.“ Kumagoro meinte: „Willst du nicht lieber auf dein Zwergkaninchen hören als auf dein zweites Ich?“ „Zwergkaninchen?“ Verblüfft schüttelte Ryuichi den Kopf. „Aber Kuma-chan, du bist doch eine Kreuzung aus Bär und Hase.“ „Wo denn?“, fuhr Tatsuha erstaunt dazwischen und musterte das Stofftier, das er am Ohr in der Luft baumeln ließ. „Kumagoro ist rosa“, erklärte Ryuichi wie selbstverständlich. „Wann hast du jemals rosa Bären gesehen?“ „Und wann hast du jemals rosa Kaninchen gesehen?“, entgegnete Ryuichi großspurig. „Außerdem gibt es in Amerika alles.“ „Da wir schon von Amerika sprechen“, säuselte Tatsuha sanft, während er den zappelnden Ryuichi von der Seite zu umarmen versuchte, „warum bist du nach Japan zurückgekehrt?“ Sogleich verharrte der Sänger in seiner Bewegung und starrte auf eine der künstlichen Pflanzen im Hotelflur. „Ich hatte einen Traum“, setzte er endlich an. „Ich war in Europa oder Amerika und fuhr mit dem Auto, um jemanden zu besuchen. Die ganze Zeit einfach nur der Straße folgend. Die Stadt verschwand und verregnete Landschaft breitete sich um mich herum aus. Mein Weg wurde immer unebener und kurviger, in kleinen Dörfern vorbei an kleinen Häusern.“ Mit dem Zeigefinger malte Ryuichi eine kaum sichtbare Spur in den zentimeterdicken Teppichboden, als wäre seine Fingerkuppe ein Automobil, mit dem er über dicht bewachsene Wiesen und Felder fuhr. „Niemand war da“, sagte er leise. „Niemand. Regentropfen schlugen gegen die Scheiben meines Wagens. Je weiter ich fuhr, desto mehr hatte ich das Gefühl, in einer Sackgasse zu enden. Und schließlich war da ein riesiges weißes Haus, an dem ich vorbeifuhr, links und rechts von mir Laternen. Ich bog um eine scharfe Kurve, hinein in das letzte Dorf. So seltsam es klingt, aber in diesem Moment wusste ich ganz genau, es würde die Endstation sein. Danach geht es nicht weiter, dachte ich. Danach hört die Welt auf zu existieren. Genau in diesem Moment...“ Er hob den Kopf, fing Tatsuhas Blick ein und ergänzte: „...wachte ich auf.“ Die Zeigefingerspitze stoppte. Sie pflügte nicht mehr durch den teuren Teppichboden des Hotels. Einige Sekunden rannen von den kunstvoll gemusterten Tapeten. „Warum sind Nettle Grasper zurückgekehrt?“, wollte Tatsuha wissen. „Hast du dich am Ende doch davon beeinflussen lassen, was ich sagte, bevor du abgereist bist?“ „Das“, rief Ryuichi laut, mit emporgestrecktem Arm, „war eher schlechtes Glück.“ Kapitel 4: 4. Satz: Accelerando ------------------------------- 4. Satz: Accelerando (allmählich schneller werdend, beschleunigend) Im Aufnahmestudio war es totenstill. Das Schweigen im Raum war so dicht, dass man es in Stücke hätte schneiden können. Mit geschlossenen Augen ließ Ryuichi die einsetzende Pause nach dem letzten Song auf sich wirken. Endlich öffnete er langsam die Augen. „Ich dachte, du hättest etwas drauf, Toma“, sagte er kalt. Die beiden Keyboarder von Nettle Grasper tauschten einen verständnislosen Blick. „Das ist zu lahm“, erklärte Ryuichi schneidend. „Viel zu lahm.“ Er tippte ungeduldig mit zwei Fingern auf das netzbespannte Rund des Mikrofons. Wie in Zeitlupe drückte er den Mikrofonständer von sich, bis er fiel. Das Scheppern war nach der verstummten Musik der erste Klang, den das Equipment von sich gab. „Was meinst du, Ryu-chan?“, fragte Noriko vorsichtig. „Sollen wir es schneller spielen?“ „Genau, schneller“, bestätigte Ryuichi, eilte zu ihr hinüber und hämmerte wahllos und unmelodisch auf die Tasten ein. „Macht es schneller! Schneller! Schneller!“ Zusammen mit seinen Worten ließ sich Ryuichi im Kreis drehen. Aus der Drehung heraus stieß er seine Handballen gegen das Instrument und warf es schwungvoll zu Boden. Noriko verfolgte den Sturz ihres Keyboards mit Bedauern, aber ohne Überraschung. Derlei Allüren kannten sie von ihrem Frontmann bereits. Ryuichi wandte sich zur Tür des schallisolierten Raumes. „Das können wir besser“, meinte er unnachgiebig. „Ich verlasse mich auf euch.“ Das Zuschlagen der Tür begleitete sein Verschwinden. Einige Sekunden lang blieben die zwei restlichen Mitglieder von Nettle Grasper reglos in dem halb verwüsteten Bandraum stehen, bis Noriko schließlich ihr Keyboard, ohne eine Miene zu verziehen, wieder aufrichtete und dessen Funktionstüchtigkeit überprüfte. Dann nickte sie Toma zu, der teilnahmslos meinte: „Tun wir, was er sagt.“ An einer Fußgängerabsperrung lehnend schaute Ryuichi durch die getönten Gläser seiner Brille an der Hochhausfassade des Aufnahmestudios hinauf. Dahinter jagten Wolken über den grauen Himmel. Er senkte den Kopf, zog das Basecap tiefer ins Gesicht und wärmte sich die Hände an der mit heißer Matcha Latte gefüllten Getränkedose, die er kurz zuvor aus einem Automaten geholt hatte. Ein paar Schritte weiter befand sich neben einem Restaurant ein Plattenladen, aus dessen Schaufenster ein Fernseher buntes Licht auf den Gehweg warf. Ryuichi öffnete die Dose und nahm einen kräftigen Schluck von seinem Getränk. Eine junge Frau in elegantem Kostüm, die einige Flyer bei sich trug, sprach ihn freundlich von der Seite an: „Entschuldigen Sie, dürfte ich...“ „Nein“, unterbrach Ryuichi sie knapp. Seine unhöfliche Antwort machte die Frau einen kurzen Moment sprachlos. Starr verfolgte er auf dem Bildschirm des Plattenladens die Musikgruppe, die wie Nettle Grasper gleichfalls aus drei Mitgliedern bestand. Voller Energie schrie hinter dem Glas jener Sänger, der mit seinen schrillen Klamotten und der knalligen Haarfarbe fast noch wie ein Junge aussah, ins Mikrofon. „Nein“, wiederholte Ryuichi bestimmt, trank den Rest seiner Grünteemilch in einem Zug aus und zerdrückte die leere Dose in seiner Hand, wobei er die Unbekannte frech angrinste. „Ich kann das selbst wegwerfen.“ Damit beförderte er die Dose in einem hohen Bogen über die Passanten hinweg auf die gegenüberliegende Seite des Gehwegs. Sie knallte gegen die Ecke einer erleuchteten Reklametafel, prallte gegen den nächstgelegenen Laternenpfosten und flog dann in Richtung des Mülleimers, der neben dem Getränkeautomaten stand. Die Dose verfehlte ihr Ziel. Um die eigene Achse wirbelnd landete sie mitten auf dem gepflasterten Gehweg. Außer der Frau bedachten noch mehrere andere Leute Ryuichi mit entgeisterten Blicken. „Sorry“, entschuldigte dieser sich schulterzuckend. „I’m just a stranger in this country.” Pfeifend stieß er sich von der Absperrung zur Straße ab. In der Stadt der Engel, der dreckigsten Stadt dieser Welt, konnte er besser arbeiten als hier. „Help me“, hallte der Gesang durch das leere Apartment, „even if I’m just your burden.“ Hoch, hoch hinaus flog der rosa Hase. „I will sing in your cage as the bird I ever wanted to be.“ Ryuichi fing Kumagoro in der Luft auf und rollte sich mit dem Plüschtier im Arm über das Bett. „Please don’t let me be less than your burden.“ Tief, tief hinab fiel er zu Boden und rührte sich nicht mehr. Doch dann klingelte sein Mobiltelefon. Irritiert langte Ryuichi danach und klappte das Display auf. Die Nummer war ihm fremd. Er nahm den Anruf trotzdem mit den Worten an: „Woher hast du meine Nummer?“ „Ich verrate meine Quellen nicht“, wich Tatsuha am anderen Ende der Leitung der Frage aus. „Langsam mauserst du dich zu einem Stalker“, meinte Ryuichi lachend. „Wohl eher schneller als langsam.“ „Was hältst du vom Vergnügungspark?“ „Super!“ Ryuichi warf das Mobiltelefon in die Luft, sodass es beim Aufprall über den Teppich polterte. „Vergnügungsparks sind toll!“ „Hol mich Ende der Woche ab, du kennst ja meine Adresse. Ryuichi? Hörst du mich noch? Ende der Woche, einverstanden? Ryuichi?“ Er träumte. Vor ihm war die Tür. Die Reaktion. Ryuichi wusste, dass diese Tür den Namen der Reaktion trug. Er musste über ein Hindernis hinweg, doch er glaubte, schnell genug zu sein. Auf diesem Hindernis saß Noriko und las. Vielleicht würde sie ihn nicht aufhalten. Doch das spielte keine Rolle, denn er würde sowieso schneller sein. Er sprang über das Hindernis hinweg, war an der Reaktion und öffnete die Tür. Er wusste nicht, was hinter ihr war. Dahinter lag Schwärze. Er rannte durch ein Labyrinth. Die anderen verfolgten ihn und er floh durch die offenen Mauern. Immer wieder bog er ab, sobald sich ihm die Möglichkeit bot, um ihren Blicken zu entkommen. Toma hatte ihn gesehen. Er war neben ihm, doch er würde ihn nicht aufhalten. Er machte ihm nur Angst. Also lief Ryuichi weiter. Er musste entkommen. Er hatte solche Angst. Licht durchflutete alles und er wusste nicht, woher es kam. Wieder war vor ihm die Tür. Die Reaktion. Er lief auf sie zu, um sie zu öffnen. Er musste entkommen. Doch dahinter lag Schwärze. „Zieh das an.“ Fröhlich streckte ihm Ryuichi ein Ganzkörperkostüm entgegen, mit braunem Fell und bekrallten Tatzen. Ohne zu protestieren, nahm Tatsuha es an. Für niemanden sonst hätte er etwas derart Lächerliches angezogen und sich so zum Affen gemacht. Morgenlicht fiel durch die hohen Fenster seiner Wohnung. Nachdem er sich das Wolfskostüm übergestreift hatte und lächelnd die Arme ausbreitete, nickte Ryuichi zufrieden. „Gut, und jetzt das hier.“ Die nächste Verkleidung, die Ryuichi ihm reichte, war vollkommen weiß. „Wieso zwei Kostüme?“, wollte Tatsuha stirnrunzelnd wissen. „Die Hitze wird mich spätestens heute Nachmittag im Park umbringen, vorausgesetzt ich ersticke vorher nicht.“ „Damit, lieber Tatsuha-kun“, verkündigte Ryuichi grinsend, „kann man sofort sehen, dass du ein Wolf im Schafspelz bist.“ Achterbahn. Wikingerschaukel. Kettenkarussell. Wildwasserrutsche. Ryuichi war unermüdlich und kaum zu stoppen. Allen Versuchen Tatsuhas, ihn zu erhaschen, entwischte er. Es war nicht einfach, den Sänger festzuhalten. Allmählich verlor Tatsuha die Geduld. Nach dem Autoscooter ließ er das Schafskostüm auf dem Gaspedal liegen und schob Ryuichi vor sich her in ein Gruselkabinett. Zwischen den Spiegeln stellte sich der Sänger auf die Zehenspitzen, um sein verkehrtes Bild noch weiter zu verzerren. Er zog sich selbst durch das schauende Glas die Ohren seines pinkfarbenen Hasenanzugs lang. Auch diesen Unsinn ließ Tatsuha gern über sich ergehen. Er mochte jene kindliche Facette seines Idols, weil sie ihn wehrlos erscheinen ließ. Leicht zu unterwerfen. Dennoch war die andere, versteckte Charakterseite eine Spur interessanter. Sie forderte Tatsuha heraus. Es war nur eine Frage der Zeit. Er musste lediglich abwarten, während er die Entwicklung mit seinem Tun leicht beschleunigte. Als sie durch ein Gerüst hinab in das Dunkel des Gruselkabinetts stiegen, über bebende Untergrundplatten hinweg und durch allerlei hängende Ketten hindurch, entledigte sich Tatsuha unbemerkt seiner zweiten Haut. Er griff nach Ryuichi und drückte ihn in der Finsternis in eine gepolsterte Ecke. „Jetzt habe ich dich“, raunte er siegesgewiss. „Tatsuha-k...“, begann Ryuichi, wurde jedoch von den Fingerspitzen, die sanft seine Lippen verschlossen, am Weitersprechen gehindert. Die Finger wanderten fort, streiften ihm die Hasenkapuze vom Kopf und fanden unter dem Kinn schließlich den Reißverschluss des Kostüms. Bedächtig öffnete Tatsuha den Verschluss und glitt dabei immer tiefer an der Vorderseite von Ryuichis Körper hinab. Seine Reise endete kurz über dem darunter befindlichen Hosenbund. „Ryuichi“, hauchte Tatsuha ihm auf die Lippen und schickte sich an, ihm den Overall von den Schultern zu schieben, als ein Ruck durch die gesamte Umgebung ging. Bevor Tatsuha es schaffte, dem anderen Mann einen Kuss zu stehlen, drängte sich ein Sandsack zwischen sie. Ryuichi hatte sich diese Requisite unbemerkt geangelt. „Nur nicht übermütig werden, Tatsuha-kun.“ Im nächsten Moment hielt der junge Priester nur noch ein leeres Hasenkostüm in den Händen. Er unterband ein Fluchen und suchte in der Dunkelheit nach seiner entwischten Beute, von der er anfangs angenommen hatte, sie sei leicht zu fangen. Seine Augen hatten sich noch immer nicht an die lichtlose Schwärze gewöhnt. Allerdings kam er nicht mehr dazu, die Schemen in seinem Umfeld richtig zu deuten. Jemand packte ihn an den Oberarmen, presste ihn mit dem Rücken gegen die vernietete Wand des Kabinetts und vereinnahmte seinen vor Schreck geöffneten Mund. Der fordernde Zungenkuss raubte ihm beinahe die Luft zum Atmen. So schnell der Überfall begonnen hatte, so schnell war er wieder vorbei. Tatsuha lehnte atemlos an der Wand in seinem Rücken, während er seinen Verstand zu sortieren versuchte. „Du bist doch kein Wolf“, vernahm er Ryuichis belustigte Stimme, „sondern nur ein unerfahrener Bengel.“ Kapitel 5: 5. Satz: Strascinando -------------------------------- 5. Satz: Strascinando (schleppend, geschleift) Menschen sind einfach zu durchschauen. Sie lassen sich von Geld, Macht und Ansehen lenken. Wenn das nicht ausreichte, dann half zum Schluss die Anwendung von Gewalt. Seit seiner Kindheit war es Tatsuha gewohnt, mit dem Einfluss seiner Familie jede Person, die er zu besitzen begehrte, früher oder später in seine Gewalt zu bringen. Vielleicht hatte er deshalb den heuchlerischen Weg der Religion gewählt, an die er selbst nicht glaubte. Kontemplation und Glaube waren mächtige Waffen, um Menschen zu kontrollieren. Umso schwieriger war es, jemanden aus diesem Sumpf der Überzeugung an die Oberfläche der Realität zu holen, sobald er einmal darin versunken war. Seinen düsteren Gedanken ähnlich trat Tatsuha nun hinter Ryuichi aus dem Kabinett des Grauens zurück ins Tageslicht. Der Schreck saß noch immer in seinen Gliedern, allerdings nicht jener absichtsvoll durch die Inszenierung der Attraktion provozierte Schrecken, sondern der plötzliche Kontrollverlust in der Finsternis. Beide Männer hatten, obwohl sie einander in der Schwärze nicht sehen konnten, ihre Verkleidungen abgelegt. Keiner von ihnen war in der Lage gewesen, das Gesicht des Gegenübers zu erkennen, und dennoch hatten sie ihre Masken verloren. Während Ryuichi seine übliche Fröhlichkeit auch ohne Kostümierung wieder aufsetzte und zu einem nächstgelegenen, mit bunten Zirkuspferden bestückten Karussell rannte, hing Tatsuha weiterhin seinen Überlegungen nach. Er hatte sich längst für einen Pfad in die Zukunft entschieden. In zwei Richtungen diente ihm seine priesterliche Ausbildung zum Spaßvertreib. Er konnte seine Kenntnisse nutzen, um die Ungläubigen in Bann zu schlagen. Gleichermaßen konnte er sie von ihrem Dogma abkommen lassen, damit sie auf den labyrinthischen Irrwegen der Wirklichkeit orientierungslos wurden. Tatsuha war auf sadistische Weise besessen von Kontrolle. Doch er wollte keine leichte Beute mehr haben. Das war ihm nicht genug. Anfangs war sein Interesse für Ryuichi Sakuma geweckt worden, weil dieser unerreichbar erschien, denn ein Ziel, das niemals erfüllt werden konnte, würde ihn beständig fesseln und seinem Streben kein Ende bereiten. All das hatte sich auf einen Schlag geändert. Sein Idol war zum Greifen nah, entwischte ihm jedoch unentwegt. Ryuichi war anders. Anders als sein zur Schau gestelltes Abbild. In erster Linie war er härter zu knacken, als Tatsuha vermutet hatte. Gerade deshalb musste er Ryuichi für sich beanspruchen. Um ihn zu besitzen, musste er die Stärke seines zweiten Ichs brechen. „Du bist so still, Tatsuha-kun.“ Eine vertraute Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Von der Seite schaute ihn Ryuichi besorgt durch seine blau getönte Sonnenbrille an. Tatsuha beschloss, den direkten Weg zu wählen. „Als du meintest, das Comeback von Nettle Grasper sei schlechtes Glück gewesen, meintest du eigentlich das Debüt von...“ „Shu-chan!“, fuhr ihm Ryuichi aufgeregt ins Wort und streckte die Arme in die Luft, als würde er am Nachmittagshimmel nach den Sternen greifen. Tatsuha grinste, aber seine Augen lachten nicht. „Was ist so besonders an Shuichi Shindo?“, wollte er umgehend wissen. „Ich liebe ihn einfach“, stellte Ryuichi verwundert fest. Die Frage schien ihm überflüssig zu sein. „Magst du ihn denn nicht, Tatsuha-kun? Du bist doch mit ihm befreundet.“ Tatsuha bemühte sich nicht mehr um einen freundlichen Gesichtsausdruck, beobachtete stattdessen mit versteinerter Miene, wie Ryuichi dem Verkäufer einer Imbissbude einige Münzen zahlte und dafür eine Papiertüte entgegennahm. „Er ist ein Abklatsch von dir.“ „Probier mal!“, forderte Ryuichi ihn auf und stopfte ihm ein warmes Brötchen mit Azukibohnenmus in den Mund. Tatsuha kaute darauf herum, doch mit jeder Bewegung seines Kiefers verschwand zunehmend das Lächeln von seinen Lippen. Den Rest seines Anpans drückte er irgendeinem vorbeilaufenden Typen in die Hand. „Du bist eine Legende“, wandte er sich erneut an den Sänger. „Shuichi ist nur eine billige Kopie.“ Ohne darauf zu reagieren, lief Ryuichi ein paar Meter weiter zu einem Stand, an dem man mit runden Papierkeschern nach Goldfischen angeln konnte. „Wie viel?“, fragte er die alte Dame, die hinter den mit Wasser gefüllten Bassins saß. „Hundert Yen pro Kescher“, antwortete sie automatisch. „Nein, wie viel für alle?“ Verdutzt schaute die Alte auf. Ryuichi wedelte mit ein paar Fünftausend-Yen-Scheinen vor ihr herum. „Ich möchte ein ganzes Becken voll.“ Die Inhaberin hielt die Hand für das Geld auf und erlaubte ihm daraufhin teilnahmslos: „Bedienen Sie sich.“ „Was willst du d...“, setzte Tatsuha neben ihm zu einer Frage an, kam allerdings nicht dazu, sie zu beenden. Das viereckige Becken hochhebend goss Ryuichi mit einem Schwall kalten Wassers dessen kompletten Inhalt über Tatsuhas Kopf aus. „Mach es besser wie ein Fisch“, kommentierte Ryuichi nachträglich seine Tat, als sein junger Begleiter tropfnass und völlig perplex vor ihm stand. „Wie ein Fisch, Tatsuha-kun.“ Damit wandte er sich ab und marschierte lachend davon. Auf dem Boden zappelten indes einige Goldfische und schnappten vergeblich nach Luft. „Keine Zeit, keine Zeit!“, rief Kumagoro. „So warten Sie doch. Wo laufen Sie denn hin, Herr Karnickel? Wie soll ich Sie nennen?“ „Ich weiß von nichts.“ Kumagoro schüttelte den rosa Plüschkopf. „Meister Lampe?“ „Nenn mich Harvey und niemand außer dir kann mich sehen.“ „Das gefällt mir nicht!“ Ryuichi schüttelte gleichfalls heftig den Kopf, wie ein kleines Kind, das seinen Willen durchsetzen wollte. „Dann nenn mich Frank“, schlug Kumagoro vor, „und die Zeit wird rückwärts...“ „Sag mal“, fuhr Sakuma mit eiskalter Stimme dazwischen, „warum trägst du eigentlich dieses hässliche Hasenkostüm?“ „Gegenfrage. Warum trägst du dieses abartige Menschenkostüm?“ Schwerfällig hob Kumagoro die Stofftatzen und zog an seinen Hasenohren. Er rückte seine knallrote Fliege zurecht und wischte sich die Perlentränen unter den glänzenden Knopfaugen weg. Dann sagte Kumagoro fest: „Ich werde dir Sakumas hässliche Maske vom Gesicht reißen.“ „Nein, das will ich nicht!“ Empört schüttelte Ryuichi seinen Kopf noch heftiger. „Aber dann werde ich für immer ein Bär bleiben“, sagte der Hase betrübt, „und für dich, kleiner Ryuichi, wird es Zeit, zurückzukehren.“ „Welcome back!“, rief K und knallte begeistert seine Faust auf den Tisch, sodass Noriko zwischen den beiden anderen Mitgliedern ihrer Band zusammenzuckte und eine verdrießliche Bemerkung murmelte. „Das nenne ich wirklich den Sound eines Genies, Ryuichi! Damit werdet ihr garantiert ganz oben in den Charts mitspielen.“ „Die Frage ist nicht, ob oder auf welchem Platz wir in den Charts landen“, entgegnete Toma hierauf trocken und verschränkte gelassen die Arme vor der Brust, „sondern wie lange wir damit auf dem ersten Platz bleiben.“ „Nein“, widersprach K breit grinsend, „die Frage lautet eher, wie lange ihr es schafft, bis euch Bad Luck vom Thron stoßen.“ Tatsuha lag reglos in seinem Zimmer, rücklings auf den Tatami und halb auf seinem Futon, den er meist quer unter dem niedrigen Tisch ausgebreitet hatte, ohne ihn am Morgen wieder zusammenzurollen und im Schrank zu verstauen. An derlei konventionelle Gewohnheiten hielt er sich nur, wenn es von Vorteil war, ein artiges Auftreten zu imitieren. „Another day and night“, schallte der neue Song von Nettle Grasper aus dem Radio, „in reapers paradise.“ Liedtext und Melodie der neuen Hitsingle hatte Ryuichi, den Aussagen des Moderators zufolge, noch in Amerika zu Papier gebracht, nach seiner letzten Arbeit als Schauspieler und kurz vor seiner Rückkehr nach Japan. War das die Inspiration, von der er vor seiner Abreise gesprochen hatte und die ihm das Land der unbegrenzten Möglichkeiten bieten konnte? „...come take the scythe...” Viele Tage waren vergangen seit dem Date im Vergnügungspark. Date. So hatte es Tatsuha gleich nach ihrer Vereinbarung bezeichnet. Er hatte auf mehr Intimität spekuliert. Sogar einen Kuss hatte er sich erhofft, womöglich auch mehr. Und nun? Hatte er wirklich erhalten, was er sich wünschte? „...and try to smile...” Tatsuha drehte sich auf die Seite und drückte sich die Handballen gegen seine Schläfen. Er wollte seine Ohren vor der Stimme verschließen, die aus dem Radio ertönte, doch er schaffte es nicht. Nein, was er sich erhofft hatte, war in seinem Inneren bereits zu einem Monster angewachsen, das hilflos gegen die Innenwände seines Herzens pochte. Er hatte nicht bekommen, was er wollte. Stattdessen wurden ihm allmählich jegliche Chancen genommen, das Ruder wieder in die Hand zu nehmen. Schleppend, mit jedem weiteren Schritt auf seinem geplanten Weg, wurde ihm die Möglichkeit genommen, seinen geliebten Sänger wieder so zu mögen, wie er ihn am Anfang gemocht hatte. Tatsuha hatte nicht gewollt, dass das Gefühl übermächtig wurde. Er wollte nicht, dass das Monster weiter wuchs. Kapitel 6: 6. Satz: Pianissimo ------------------------------ 6. Satz: Pianissimo (sehr leise) Finsternis flüsterte ein unbrechbares, unberechenbares Schweigen in die Nacht und Ryuichi dachte sich zurück in die Schwärze des Gruselkabinetts. Tatsuha hatte sich schon einige Zeit nicht mehr gemeldet, seit mehreren Tagen, vielleicht Wochen. Ganz leicht bewegte Ryuichi die Lippen, als würde er singen. Doch er sang nicht. Er sang nicht mehr, weil die Stimme ihm fehlte. „Weißt du, dass ich panische Angst davor habe?“ Er lachte leise und drückte den Stoffhasen eng an sich. „Auch gerade eben, sobald es dunkel ist und ich nichts sehen kann. Es bereitet mir irgendwie Genugtuung, das Licht nicht anzuschalten. Kennst du das?“ Er schaute dem Hasen in die leeren Glasaugen. „Wenn ich von einem Raum in den anderen gehe“, fuhr Ryuichi fort, „dann habe ich Angst vor der Dunkelheit, Angst vor all den Dingen, die dort lauern und die ich nicht sehen kann. Ich weiß, dass dort nichts ist. Trotz meiner Angst mache ich das Licht nicht an. Weißt du, warum?“ Der Stoffhase blieb weiterhin stumm. „Weil ich mir sonst eingestehen müsste, dass...“ War es Zufall? Das fragten sich beide Männer, als sie einander auf der Straße begegneten. Ryuichi hatte das Musikstudio zum ersten Mal seit einer schieren Ewigkeit verlassen. Jeden Tag trieb er seine Bandkollegen an, die Songs des neuen Albums noch einmal zu bearbeiten. Die Musik wurde schneller, voller, reicher. Gleichzeitig wurde sein Herz langsam, leer und still. Im selben Atemzug, mit dem Ryuichi seine Sehnsucht und sein Fernweh in das Mikrofon schrie, begann auch sein Gesang zunehmend leiser zu werden. Mittlerweile übernachtete er sogar im Studio, ließ sich Essen, Trinken und Kleidung direkt ins Haus liefern. Seine eigene Wohnung wollte er derzeit nicht betreten. Sie erinnerte ihn daran, dass er in Japan war, dass er daheim war und sich eigentlich auch so fühlen sollte. Dabei kam er sich in der erstickenden Uniformität dieses Landes wie ein Fremder vor. Wie ein exotischer Tropenvogel in der Fußgängerzone von Ikebukuro, der die neonerleuchtete Nacht nicht fand. Shuichi Shindo. Der Gedanke kam Ryuichi ganz plötzlich und unvermittelt, während er noch immer wort- und regungslos vor Tatsuha stand. Auch Shuichi Shindo war, selbst für die sonst so bunte Musikbranche, exotisch und außergewöhnlich. Dennoch schien er sich auf diesem dünnen Eis so sicher zu bewegen wie ein Eiskunstläufer, als sei sein unbefangener Charakter das Material seiner Schlittschuhkufen. Ryuichis nächster Gedanke führte ihn zurück auf die asphaltierten, unerträglich sauberen Straßen seiner Heimat. Er schaute Tatsuha in die Augen und glaubte, es könne kein Zufall sein, dass er ihn hier traf. Er vermutete, dieser habe sicherlich oft und lange vor dem Studio ausgeharrt. Tatsuha erwiderte den Blick und glaubte gleichfalls nicht an einen Zufall, obwohl er zum ersten Mal seit mehreren Tagen die Nähe zu Ryuichi suchte. War es demnach Schicksal oder nur die zynische Ironie einer schweigsamen, viel zu wirklichen Realität? Endlich jedoch, nachdem nur der Großstadtlärm den Raum zwischen ihnen ausgefüllt hatte, sagte Ryuichi sehr leise: „Ich will hier weg.“ In Japan zwitscherten die Ampeln. Sie zwitscherten fast wie ein Nachtigallenboden. Es war das Einzige, das Ryuichi an diesem Land vermissen würde. „Von Fischen und Vögeln“, redete er unbekümmert vor sich hin, während er über die Streifen eines Zebras sprang, „von Mäusen und Menschen.“ Tatsuha folgte ihm, ohne sich über die scheinbar unsinnigen Aussagen zu wundern. „Magst du sie?“, fragte er nach einer Weile des ziellosen Durchwanderns vieler Gassen und Schluchten. „Magst du Fische oder Vögel oder Mäuse?“ „Du hoffst wohl, dass ich mich für einen goldenen Fisch entscheide, Tatsuha-kun?“ „Was ist mit Vögeln?“ Ryuichi drehte sich nicht um, schien auch die anzügliche Bemerkung nicht zu beachten, als er antwortete: „Die kann man nicht halten. Sie sind nur schön, wenn sie fliegen. In Gefangenschaft sind sie nicht mehr schön. Keiner von ihnen ist schön, wenn er nicht fliegen kann. Aber sie sollen nicht frei sein. Was ich mag, soll mir gehören. Darum halte ich nichts von Vögeln.“ „Vom“, berichtigte Tatsuha ihn scherzhaft, indem er wiederholt auf seine vorige Anspielung aufmerksam machte. Ryuichi wandte sich nun doch zu ihm um und begegnete dem lasziven Grinsen mit Unschuldsmiene. „Bist du dir sicher“, bohrte Tatsuha nach, „dass du davon nichts hältst? Ich könnte dir einiges zeigen.“ „Du bist wirklich noch ein Kind“, reagierte Ryuichi darauf in gespielter Verblüffung. In diesem Moment vergaß Tatsuha sein Selbstbewusstsein. In diesem Moment konnte er sich selbst nicht leiden. Trotzdem zuckte er mit den Schultern, als würde ihm das alles nichts ausmachen. Du willst doch erwachsen sein, wies er sich innerlich zurecht, dann verhalte dich auch so. Sei erwachsen. Sei kein Kind mehr. „Ryuichi.“ Der Angesprochene legte den Kopf leicht schief, mit weit geöffneten Augen, als wartete er auf ein Wunder. Tatsuha runzelte die Stirn und setzte während seiner folgenden Worte eine ernste Miene auf. „Du fühlst dich hier doch gar nicht wohl, habe ich Recht? Warum fliegst du dennoch nicht nach Amerika zurück? Warum willst du euer neues Album hier produzieren lassen, obwohl du in L.A. besser arbeiten kannst?“ „Ich muss es in Japan aufnehmen.“ In vollkommener Überzeugung, die sich von allein zu verstehen schien, nickte Ryuichi. Er benötigte einiges an Kraft, um seiner Erklärung einen letzten, leisen Teilsatz hinzuzufügen. „Weil er hier ist.“ „Er?“, stellte Tatsuha die Frage, obwohl er die Antwort bereits kannte. Die Furchen auf seiner Stirn wurden tiefer. Gewaltsam unterdrückte er das Zittern in seiner Stimme. War es kälter geworden? Was er sagte, klang unter der auf seine Stimmbänder ausgeübten Kontrolle schneidend und aggressiv. „Warum erst jetzt? Nettle Grasper waren Ewigkeiten in der Versenkung verschwunden. Du magst offensichtlich einen sehr ausgelassenen Kanarienvogel, oder nicht? Jemand, der dir ähnlich ist. Für deine Fans wolltest du den Schritt hinaus aus der Dunkelheit nicht wagen, aber für...!“ Tatsuha brach ab und starrte in das Scheinwerferlicht der vorbeifahrenden Autos, bis die Punkte vor seinen Augen tanzten und er kein menschliches Gesicht mehr sehen konnte, nicht mehr sehen musste. Abwartend musterte Ryuichi ihn besorgt. Wahrscheinlich war selbst diese Besorgnis nur gespieltes Mitleid aus fadem Desinteresse. „Warum warst du verschwunden?“, raunte Tatsuha fast tonlos. „Warum stehst du jetzt auf einmal vor mir?“ Erreichbar, fügten seine Gedanken bitter hinzu, aber nach wie vor fern. „Ich habe mich der Stille ausgesetzt“, antwortete Ryuichi, „um eins mit der Musik zu werden.“ Gemeinsam folgten sie den endlosen Blindenzeichen durch die Stadt. Sie hätten sich ein Taxi rufen können, doch sie taten es nicht. Tatsuha wünschte sich derweil unentwegt, er besäße mehr als nur ein Motorrad oder einen Kleinwagen. Stattdessen wollte er gerade lieber einen gelben Ferrari mit lederner Innenausstattung. Obwohl er all das nicht bieten konnte, hatte er Ryuichi zu sich eingeladen. „Hello darkness, my old friend“, sang dieser leise vor sich hin und summte ein paar weitere Tonfolgen. Wenn Ryuichi sich schon fremd fühlte, dachte Tatsuha, dann sollte dieses Gefühl wenigstens von einer anderen, nicht von seiner eigenen Wohnung ausgelöst werden. Und vielleicht würde sie ihm irgendwann nicht mehr fremd sein. Vielleicht würde Tatsuhas Nähe irgendwann das Gefühl der Fremde und des Fernwehs in Ryuichi auslöschen. „In restless dreams I walked alone, narrow streets of cobblestone, beneath the halo of a street lamp.“ Zeit seines Lebens war Ryuichi allein gewesen. Zumindest vermutete das jeder. Sehr viel mehr als Vermutungen konnte man zu ihm auch gar nicht anstellen. „When my eyes were stabbed by the flash of a neon light that split the night.“ Tatsuha hatte nie etwas von innigen oder oberflächlichen Beziehungen des Sängers gelesen. Man lobte sein herausragendes Schauspieltalent. Mittlerweile fragte sich Tatsuha allerdings, ob Ryuichi dieses Talent nur vor der Kamera zeigte oder ob sein gesamtes Auftreten eine Vermischung seiner zwei gegensätzlichen Persönlichkeiten war. Welche davon war echt? „And in the naked light I saw ten thousand people, maybe more. People talking without speaking. People hearing without listening.“ Wie schaffte man es, für einen Menschen wichtig zu werden? Wie konnte man überhaupt an Bedeutung gewinnen? Was fesselte und faszinierte, bevor man sich einem Fremden gegenüber binnen Sekunden für Gleichgültigkeit oder binnen Jahren für Hass und Liebe entschied? Wenn es falsch und richtig zugleich war, konnte ein Augenblick zu Jahren werden. „Silence like a cancer grows.“ Es war nach zweiundzwanzig Uhr. Die Lokale schlossen und Nachtschwärmer torkelten durch die Gassen. Langsam vertrieb das Neonlicht, das sich in den Rillen der gepflasterten Wege verfing, die Ernüchterung der vergangenen Tage, die Tatsuha aus seinen Überlegungen und Erkenntnissen gewonnen hatte. Er lauschte jenem Gesang, der ihn in seiner Vergangenheit aus der eintönigen Stille geholt hatte. „But my words“, intonierte Ryuichi ungewohnt verhalten, „like silent raindrops fell.“ Ein Wechselspiel aus Resignation und erwartungsvoller Euphorie hielt in Tatsuha Einzug. Nach einem von seinem Idol vorgeschlagenen Zoobesuch und nach den Ereignissen im Vergnügungspark war er erstmals auf Abstand gegangen. Diese erzwungene Abstinenz änderte jedoch nichts. „Hear my words that I might teach you. Take my arms that I might reach you.“ Drei Jahre waren vergangen, seit Nettle Grasper ihre Auflösung bekannt gegeben hatten. Nun waren sie ins Rampenlicht zurückgekehrt, in alter Besetzung und mit der Aussicht auf ein baldiges Album. Wegen eines Wettstreits mit Shuichi Shindo sollte Ryuichi innerhalb von drei Wochen zehn Hitsingles herausbringen. Aus dem kürzlich erschienenen Promotionsvideo zu schließen und laut einiger Interviews, in denen größtenteils Toma Seguchi in Vertretung der Band zahlreiche Fragen beantwortet hatte, waren die restlichen der neuen Songs bereits geschrieben worden, als an ein Comeback noch gar nicht zu denken war. Offenbar hatte Ryuichi die drei Jahre nicht nur in seine Schauspielkunst investiert. Er war nicht in der Lage, die Finger von der Musik zu lassen, und doch hatte er sie zwischenzeitlich aufgegeben. „And the people bowed and prayed to the neon god they made.“ Es konnte demnach nicht sein, dass ein Newcomer wie Bad Luck für Ryuichis Ehrgeiz verantwortlich war. Keine Konkurrenz hätte ihn dazu bringen können, wieder zu singen. Er war ohnehin schon eine Legende. Nichtsdestotrotz blieb eine dunkle Ahnung in Tatsuha bestehen, die er nicht wahrhaben wollte. Denn möglicherweise war es keine Rivalität. „...whispered in the sounds of silence...“ Möglicherweise war es Anziehungskraft. Kapitel 7: 7. Satz: Staccato ---------------------------- 7. Satz: Staccato (hart, unverbunden, kurz abgestoßen) „Stört dich das?“ Tatsuha wedelte mit einer Schachtel Zigaretten in der Luft herum, um Ryuichi zu verdeutlichen, was er mit seiner Frage meinte. Dieser zuckte mit den Schultern. „Mach ruhig. Noriko-chan raucht ebenfalls. Kumagoro manchmal auch, aber er will damit aufhören, weil ihm der Hals davon kratzt und er ständig sein Fell ankokelt.“ „Lass das Licht gedimmt“, verlangte Tatsuha sanft, als sein Gast die Hand zum Schalter ausstreckte. Einige mit Papier bespannte Standleuchten warfen geringe Helligkeit aus den Raumecken ins Innere. Das Fenster öffnend lehnte sich Tatsuha an den Rahmen und blies den Rauch seiner entzündeten Zigarette in die Nachluft. „Schadet das nicht ihrem Gesang?“ Ryuichi zuckte teilnahmslos mit den Schultern, während er auf einem Hasenohr von Kumagoro herumkaute und nuschelte: „Noriko kann machen, was sie möchte. Es ist nur wichtig, dass ich herausragend singe.“ „Also würdest du nicht...?“ Erneut wedelte Tatsuha mit seiner halbleeren Zigarettenschachtel und wieder zuckte Ryuichi lediglich mit den Schultern. An einer Hauswand in der Nähe war ein Reklameschild defekt. Es flimmerte auf, wurde abwechselnd hell und dunkel und surrte dabei wie ein Mottenfänger. Nachdenklich zog Tatsuha an seiner Zigarette. „Ich glaube, er hat Angst vor mir“, sagte Ryuichi, auf kindliche Weise in sich gekehrt. Verwundert schaute Tatsuha bei dieser Aussage zu ihm auf. Natürlich wusste er, wer gemeint war. Es ging ohnehin nie um eine andere Person. „Wer hätte das nicht?“ In übertriebener Belustigung ging Tatsuha auf die Mutmaßung ein, um hinter einer aufgesetzten guten Stimmung seine schlechte Laune zu verbergen. „Du bist ziemlich durchgeknallt, aber falls es dich aufmuntert...“ Er grinste, als würde er die Zähne fletschen. „Ich habe keine Angst vor dir.“ „Er hat gesagt, ich sei sein Idol!“ Aggressiv zog Tatsuha stärker an seiner Zigarette. Da hatte er bereits diverse Treffen mit Ryuichi arrangiert, ihn mittlerweile sogar in seine eigene Wohnung befördert und dennoch schien dieser in manchen Situationen geistig völlig abwesend zu sein. Zum Kotzen. Spätestens jetzt war Tatsuha angepisst. „Warum will er trotzdem nicht mir gehören?“, jammerte Ryuichi. „Stattdessen will er...“ „Meinen Bruder“, fuhr Tatsuha dazwischen. „Was hat der, was ich nicht habe?“, quengelte Ryuichi weiter. „Er ist groß, cool, erwachsen, hat einen tollen Körperbau und ein schönes Gesicht. Wer könnte ihm schon widerstehen?“ „Du bist gemein.“ Die Lippen aufeinanderpressend taxierte Ryuichi ihn von der Seite, bevor er sich mit seinem Plüschtier im Arm über den Boden und den unordentlich ausgebreiteten Futon rollte. Tatsuha fragte sich, ob Ryuichi ihn nur provozieren wollte oder ob er sich tatsächlich kein Stück für ihn interessierte. „Ich habe nicht gesagt, dass du keine dieser Eigenschaften besitzt“, relativierte er seufzend. „Groß bist du allerdings wirklich nicht. In Bezug auf seine Vorzüge ist mir mein Bruder übrigens sehr ähnlich.“ „Stimmt, du siehst echt gut aus.“ Rücklings auf dem Futon liegend kostete Ryuichi die hoffnungsvolle Überraschung des Teenagers mit einer kurzen, unbekümmerten Pause aus, bis er sich dessen Wortwahl anschloss und hinzufügte: „Erwachsen bist du allerdings nicht.“ Sogleich schnippte Tatsuha seinen Zigarettenstummel aus dem Fenster, war in Windeseile bei dem älteren Mann auf dem zerwühlten Stoff seiner Schlafstätte und hielt dessen Handgelenke mit eisernem Griff fest. Es verschaffte Tatsuha ein Hochgefühl, dass er durch seine körperliche Konstitution überlegen und es somit ein Leichtes für ihn war, den Sänger in seine Gewalt zu bringen. „Meinst du, du wärst so viel erwachsener?“ „Was machst du denn, Tatsuha-kun?“ Ryuichi wimmerte fast, als er sich unter ihm zur Wehr setzte, die Augen ängstlich geweitet. Ein paar Utensilien, mit denen er rasch hätte gefesselt werden können, lagen in Reichweite. Das wusste Tatsuha allzu genau, doch er langte nicht danach und rührte sich nicht mehr, während er den Anderen unter sich betrachtete. Er konnte dessen Hilflosigkeit nicht genießen. Denn das war es nicht, wonach er verlangte. Es wäre zu einfach. „So macht es keinen Spaß“, entschied er unvermittelt. Abrupt machte er sich von Ryuichi los, strich ihm lachend durch das wirre Haare und tat, als habe er nur einen Scherz gemacht. Ob er gelassen oder glaubhaft wirkte, war ihm momentan egal. Was war das Geheimnis hinter der charakterlichen Wechselhaftigkeit des Sängers? Warum war es nicht er, Tatsuha, der diese Seite in Ryuichi auslöste? Es musste doch irgendeinen Weg geben. Einen Weg ohne Shuichi Shindo. Um mit der Schnelligkeit seiner Worte deren Sinn zu verschleiern, zischte Tatsuha äußerst zügig: „Ich werde dafür sorgen, dass du mich ernst nimmst.“ Damit zündete er sich genervt eine weitere Zigarette an. Gleichmäßig in einem Raster waren über ihm medizinballgroße Öffnungen angeordnet. Ringsum alles schwarz drang bloß aus diesen oberen Löchern diffuses Licht. Mutig steckte Tatsuha seinen Kopf durch solch ein erleuchtetes Rund. Sein Trommelfell vibrierte von klingelnden Geräuschen, die nach Pachinko oder Kasino klangen. An der Oberfläche bemerkte er, dass er sich tatsächlich in einer Spielhölle befand. Er war ein Maulwurf und lugte aus einem Whac-A-Mole hervor. Ein weißes Gespenst ohne Füße, mit einem Dreieck auf der Stirn und Kerzen an den Schläfen, wurde auf ihn aufmerksam, huschte schnell näher und schlug ihm mit einem Holzhammer auf den Schädel. „Wach auf!“, brüllte das Gespenst fröhlich und schlug ein zweites, ein drittes, ein viertes Mal zu. „Wach auf! Wach auf! Wach auf! Wach auf! Wach...!“ Ächzend regte sich Tatsuha. Sein Geist schälte sich aus den Fängen des unsinnigen Traumes, der ihn bis eben festgehalten hatte. Allmählich wurde sein Verstand klarer. Er kam endlich zu Bewusstsein. Zusammen mit der Realität traf ihn leider auch die volle Wucht von stechenden Kopfschmerzen. Sie hämmerten gegen seine Schädeldecke wie kurz zuvor die Schläge des obskuren Gespenstes. Begleitet wurde das Pulsieren in seinen Schläfen von einem Klingeln und hölzernen Pochen, das ihn ebenfalls an seinen Traum erinnerte. Erst jetzt registrierte Tatsuha, dass diese Geräusche nicht eingebildet, sondern real waren. Jemand klopfte und klingelte ziemlich energisch an seiner Wohnungstür. Gequält stöhnend erhob er sich und stieß dabei einige leere Bierdosen um, von denen er sich am vorigen Abend ein paar zu viel gegönnt hatte, einerseits aus Frust, andererseits, wie er zu seiner Schande gestehen musste, um seine jugendliche Erregbarkeit zu hemmen, die durch die Anwesenheit des von ihm angebeteten Sängers ausgelöst wurde. Tatsuhas Emotionen waren mittlerweile unentwegt damit beschäftigt, mit seinem Körper Roulette zu spielen. Nach Roulette fühlte sich auch seine Umgebung an, die sich wirbelnd im Kreis drehte. Wie spät war es überhaupt? Der Morgen war grau und trüb und viel zu früh. Im Aufstehen bemerkte Tatsuha, wie schlecht und schwindlig ihm eigentlich war. Seine nackten Unterarme, die nicht vom Stoff seines kurzärmligen Shirts bedeckt waren, zierte ein unansehnliches Tatamimuster. Währenddessen lag Ryuichi in knapper Entfernung noch immer friedlich auf dem Futon und schlief mit seinem Plüschtier im Arm wie ein kleiner Junge. Ein einunddreißigjähriger kleiner Junge. Tatsuha konnte nicht bestimmen, ob sein Idol zu unbedarft oder zu sadistisch war, um seine Annäherungsversuche ernst zu nehmen. Wahrscheinlich traf beides zu. Stolpernd erreichte Tatsuha die Tür und riss sie wütend auf. „Wer stört?“ „Das wurde auch Zeit“, begrüßte ihn Toma Seguchi mit einem kalten Lächeln. „Ist er bei dir?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, schob er Tatsuha mit seiner behandschuhten Rechten beiseite, um in die Wohnung zu gelangen. Kurz machte er den Eindruck, als würde er nach einem Rundumblick abfällig die Nase rümpfen, dann jedoch sah sein Gesicht wieder auf übliche Weise mild und aggressiv zugleich aus. Der ehemalige Präsident von N-G Records nickte in Ryuichis Richtung, welcher weiterhin schlafend auf dem Boden lag, und fragte freundlich: „Wolltest du ihm helfen, sich den Kopf freizuvögeln?“ „Ich habe ihn nicht angerührt.“ „Ryuichi ist zurzeit unausstehlich.“ Seguchi zupfte teilnahmslos an den Fingerenden seiner Handschuhe. Entweder erwartete er, dass sein Bandpartner nicht so bald erwachte, oder es war ihm schlichtweg egal, falls dieser die Aussagen mitbekam. „Wenigstens nutzt er seinen Elan gewinnbringend und liefert pausenlos einen Hit nach dem anderen ab. Es liegt nur an seinem Perfektionismus, seiner Unzufriedenheit und Selbstkritik, dass er momentan so schwierig ist.“ „Bist du nicht ein bisschen kaltherzig? Du forderst immer nur Leistung von ihm und verlangst womöglich zu viel.“ Unbeeindruckt heftete Seguchi seinen Blick auf Tatsuha, wobei sein Lächeln eine Spur eisiger wurde, als er sagte: „Ich nahm an, du seist ein Fan von Nettle Grasper. Wenn du so ahnungslos daherredest, muss ich das wohl stark bezweifeln. Dann hast du Ryuichi Sakuma nicht verstanden.“ „Er hat all diese Songs innerhalb von drei Wochen aus dem Ärmel geschüttelt! Was ist mit denen davor? Die hat er doch...“ „...in Amerika geschrieben, das stimmt. Diese Stücke waren für ihn allein. Für ihn als Solokünstler.“ Tatsuha öffnete den Mund, um etwas zu erwidern. Er wusste, dass es stimmte, was sein Schwager über Ryuichis vergangene Karriere sagte, aber trotzdem ergab es keinen Sinn. Es war anders, als es den Anschein hatte. Bevor er seine Bedenken äußern konnte, räumte Seguchi jedoch ein: „Er hat keinen einzigen davon veröffentlicht. Frag dich mal, wieso.“ Einige Sekunden ließ Seguchi seine Aufforderung nachklingen und fügte schließlich hinzu: „Es war K, der Ryuichi nach Amerika gelockt hat.“ „Wozu das alles?“ Aufgebracht packte Tatsuha seinen Besucher am dichten Fellkragen seiner Kleidung. „Die Auflösung der Band, sein Verschwinden, die angebliche Solokarriere, die Schauspielerei. Sag mir, wieso! Wie soll K ihn denn von hier weggelockt haben?“ „Ich rate dir, meinen Kragen loszulassen“, befahl Seguchi leise. „Der Mantel war teuer.“ Mit knirschenden Zähnen lockerte Tatsuha seinen Griff. Daraufhin glättete der blonde Keyboarder geflissentlich seine Kleidung, ging zu seinem Bandleader hinüber und neben ihm in die Hocke. Er betrachtete Ryuichi mit einem Gesichtsausdruck, den Tatsuha schwer deuten konnte. Genauso schwer war auch die kryptische Erklärung zu verstehen, die Seguchi nun ablieferte. „K hat ihn mit dem Hasen zum Flughafen gelotst. Ryuichi ist nur dem Kaninchen gefolgt und danach in ein tiefes Loch gefallen, aus dem er drei Jahre lang nicht herausgekrochen ist.“ Gedankenversunken schaute Tatsuha hinab auf Ryuichis schlummerndes Gesicht. Dessen Lippen bewegten sich kaum merklich. „I thought it would be easy“, sang er beinahe stumm, „too easy to lose you.“ Überdeutlich konnte Tatsuha den Klang jener vertrauten Stimme vernehmen. Mehr als damals glaubte er in diesem Moment, sein Herz müsste daran zerbrechen. Kapitel 8: 8. Satz: Presto -------------------------- 8. Satz: Presto (sehr schnell) „We left our life!“, sang Ryuichi aus vollem Hals und versuchte mit der Schnelligkeit der Klangfolge seinem zweiten Ich zu entrinnen. Komm schon, das kannst du doch besser. Wir können das besser. Ich kann es besser. Lass mich dich ersetzen, sagte Sakuma drängend, unerbittlich, kaltblütig, bevor er die Kontrolle übernahm. Bevor er Ryuichi übernahm. „In trouble and insanity is what you might have thought of me!“ Das Mikrofon dicht an den Lippen war sein Blick stechend und blind. „In vain is my indignity is what you might have thought to see!“ Er war besser. Er war immer besser. Besser als Ryuichi. „In every single inch of me is what you might have thought to be!“ Sakuma war besser, als irgendjemand sonst es jemals hätte sein können. „But you are wrong!“, intonierte die Stimme des Sängers perfekt jede einzelne Strophe, wie ein unabhängiges Instrument, ein ungebändigtes Tier, die Facetten der Melodie hinauf und hinab. „I am the one who knows that he has lost.“ Hinter der schalldichten Glasmauer des Aufnahmestudios saß Kumagoro. „You have prevailed.“ Und lachte über ihn. Eine neue Single, ein neuer Hit. Nettle Grasper und Bad Luck stürmten die Charts jede Woche aufs Neue. Ihre Musikvideos füllten die Bildschirme in den Schaufenstern der Läden. Sie flimmerten unablässig über die riesigen Leinwände an den Gebäuden um die Kreuzung von Shibuya herum. Bei Tower Records positionierte man ihre Platten direkt am Eingang. Dummerweise hatte dieses Musikgeschäft zwei Eingänge. Somit lagen die beiden Bands nicht direkt nebeneinander, sondern auf getrennten Podien, Nettle Grasper hinter der einen, Bad Luck hinter der anderen Tür. Zahlreiche Leute umströmten die Werbeplatzierung und drängten Ryuichi beiseite, der aufgeregt im Laden hin- und herlief. Er hockte sich neben den Aufsteller seines Rivalen und starrte durch seine Sonnenbrille konzentriert auf das Maßband, das er an einen der CD-Stapel hielt. Mit einem schnappenden Geräusch schnellte das Maßband zurück, als Ryuichi bereits den Weg zum zweiten Eingang rannte. „Diese Schnelligkeit“, sagte dort ein Mädchen begeistert zu ihrer Freundin. Beide trugen ein Shirt mit pinkfarbenem Hasenaufdruck und hüpften synchron in die Luft, mit einer CD von Nettle Grasper in der Hand. „Ryuichi ist ein Genie. Niemand könnte das nachmachen.“ „Doch, einer könnte es“, nuschelte der Sänger undeutlich hinter seinem Mundschutz, während er das Maßband auch hier an einen Turm gestapelter Tonträger hielt, „wenn er sich anstrengt.“ Sein Grinsen war nicht zu sehen, aus seiner Stimme jedoch konnte man es hören. Beide Mädchen begutachteten abfällig jenen merkwürdigen Mann, der sich ungefragt in ihre Unterhaltung eingemischt hatte. „Was ist das denn für einer?“ „Sonnenbrille im Inneren eines Gebäudes, dabei ist es heute bewölkt.“ „Mit dem Mundschutz, dem Stirnband und der Mütze sieht er aus wie ein Perverser.“ „Ist er vermutlich auch. Lass uns lieber schnell verschwinden.“ In Windeseile liefen die beiden Mädchen zur Kasse hinüber, um zu bezahlen. „Was haben die denn?“, murmelte Ryuichi verwirrt, zuckte rasch mit den Schultern und widmete sich erneut seinem Maßband. An diesem Morgen war er in einem Zimmer aufgewacht, das ihm zuerst nicht bekannt vorkam. Solche Situationen hingegen waren ihm sehr wohl vertraut. In Japan wie Amerika besaß er einige Wohnungen, sogar Häuser, die ihm sein Management mit dem Geld kaufte, das er für sie erwirtschaftete und das ihm gleichfalls egal war. Sollten sie doch damit machen, was sie wollten. Ryuichi war es trotzdem gewohnt, in Hotelzimmern, Aufnahmestudios oder Tourbussen zu erwachen. Fremdheit war mehr Heimat, als Eigentum es sein konnte. Der Ort, an dem er am heutigen Tag aus seinem Schlaf in die Realität gefunden hatte, lag in einem Randbezirk von Tokyo. Ähnlich wie bei Ryuichi war es nicht die einzige Unterkunft, zu der Tatsuha nach Hause kommen konnte, denn in Kyoto standen ihm die Türen zum Anwesen seiner Familie stets offen. Seit dem Wettstreit der beiden Bands war Tatsuha nicht mehr dorthin heimgekehrt, zumindest hatte er das kürzlich erwähnt. Erstaunlich, dass er sich daran erinnerte, das fiel Ryuichi eben auf, als seine Augen auf dem Maßband von Strich zu Strich huschten. Normalerweise hörte er anderen Leuten selten zu oder vergaß, was sie ihm sagten, wenn es für ihn nicht relevant war. Seufzend ließ er das Messinstrument zurück in die Verankerung schnappen. Ihm war selbst nicht klar, welche Erkenntnis er gerade zu erlangen versuchte. Seit einigen Tagen war es das erste Mal gewesen, dass er woanders übernachtete, dass er tatsächlich bei einer Person erwachte, die ihm einen Schlüssel nicht auf Zeit und gegen Bezahlung gab. Dieses kleine, gezackte Stück Metall hatte vor einigen Stunden im Vormittagslicht auf dem niedrigen Tisch gelegen, darunter ein beschriebener Zettel. Tatsuha war gegangen und hatte augenscheinlich nur diese Nachricht hinterlassen. Er ist eine Kopie. Lange hatte Ryuichi die Mitteilung betrachtet und gewusst, dass Tatsuha damit nicht nur den Schlüssel meinte, den sich der Sänger von Nettle Grasper schließlich in die Hosentasche schob. Es war ein Geschenk. Und ein Kompliment. Und eine Beleidigung. Vielleicht sollte er Tatsuha endlich zeigen, dass mit Ryuichi Sakuma nicht gut Kirschen essen war. Sie standen auf einer Überführung und spuckten Kirschkerne hinab auf die Autos. Unter der Brücke erloschen die Frontstrahler in der abendlichen Finsternis. „Erklär es mir“, forderte Tatsuha gelassen und griff in die Papiertüte auf dem Geländer, um sich eine Kirsche zu angeln. Ryuichi holte tief Luft, bevor er einen weiteren Kern aus seinem Mund katapultierte. „Von wem weißt du das denn?“, erkundigte er sich anschließend. „Ich verrate meine Quellen nicht.“ „Warum sollte ich dir dann irgendetwas verraten?“ Wie einen Kaugummi dehnte Ryuichi seine rhetorische Frage in die Länge. Tatsuha durchbohrte ihn mit den Augen und versuchte herauszufinden, wen er soeben vor sich hatte. Als sein Idol unsicher den Blick senkte, erkannte er es. „K hat mich damals von hier befreit“, antwortete Ryuichi und hängte sich zwei Kirschen ans Ohr. „Er hat mich nach Amerika geschleift, weil er meinte, in Hollywood könne man am besten scheitern. In der Stadt der Engel lägen die Gefallenen mit ausgerissenen Flügeln in den Gassen.“ „Bist du einer von ihnen?“ „Denkst du etwa, in der saubersten Stadt der Welt könne man nicht scheitern? Das müsstest du doch wissen, Tatsuha-kun. Ansonsten hättest du es nicht von Anfang an vorgezogen, einer Niederlage zu entgehen, indem du dich dem Kampf gar nicht erst stellst.“ Tatsuha spuckte seinen Kern auf das Dach eines Transporters. Abrupt stieß er sich mit einem Arm ab, stellte sich vorgebeugt hinter Ryuichi und legte die Hände rechts und links von ihm auf das Geländer. „Als hättest du in deiner Pause mehr getan“, raunte er ihm ins Ohr. „Ich habe immer verfolgt, was du in Hollywood gemacht hast. Solokarriere? Dass ich nicht lache. Was hast du denn dort getrieben? Ein paar Auftritte und dazwischen etliche Rollen, die du in diversen Filmproduktionen übernahmst. Hast du als Solokünstler in diesen drei Jahren auch nur ein Album herausgebracht? Du warst kein Sänger mehr, sondern eher ein Schauspieler, und nicht einmal das hast du wirklich durchgezogen. Du sollst in Amerika Songs geschrieben haben, aufgenommen hast du sie allerdings nicht unter deinem eigenen Künstlernamen, sondern zurück in Japan mit Nettle Grasper. An Inspiration mangelt es dir offenbar nicht, sonst hättest du nicht innerhalb kürzester Zeit so viele Lieder kompo...“ „Ich weiß, dass du es nicht wahrhaben willst“, unterbrach ihn Ryuichi, „aber das habe ich Bad Luck zu verdanken.“ Erneut stieß sich Tatsuha vom Geländer ab, angespannt und ohne sich ein fröhliches oder überlegenes Grinsen aufs Gesicht zaubern zu können. Er kramte in seinen Taschen herum, suchte nach etwas, von dem er selbst nicht sofort wusste, was es eigentlich war. Am Ende gab er es auf. Er hätte sich jetzt zu gern eine Zigarette angezündet, aber nachdem Ryuichi ihn vorhin unerwartet angerufen und herbestellt hatte, war seine letzte Schachtel dem Hinweg zum Opfer gefallen. Stattdessen fischte er nun in der Papiertüte nach einem unzureichenden Ersatz. Ein paar Kirschkerngeschosse überbrückten das einsetzende Schweigen. Ryuichi hängte sich an sein anderes Ohr ebenfalls einen Schmuck aus roten Früchten am Stiel. Gelassene Abfälligkeit vortäuschend fing Tatsuha schließlich wieder zu sprechen an: „All das Gerede über ein neues Album ist doch nur Show, habe ich Recht? Du willst gar kein Comeback, du willst dich nur mit Shuichi messen, ihn herausfordern und dich selbst damit animieren.“ Ryuichi spuckte einen Kern gegen die Plane eines Lastkraftwagens und sagte nichts. „Außerdem kannst du nur mutmaßen, warum ich mich für den Werdegang des Priesters entschied.“ Ryuichi spuckte einen Kern gegen die Frontscheibe eines Subarus und sagte nichts. „Ich kann Geister sehen, bin quasi prädestiniert für den Job. Da ist es kein Wunder, dass ich diesen Weg eingeschlagen habe.“ Ryuichi spuckte einen Kern gegen den Seitenspiegel eines Dogdes und sagte nichts. „Seit wann existiert Sakuma eigentlich? Seit wann ist er ein Teil von dir?“ Ryuichi spuckte einen Kern gegen den Helm eines Motorradfahrers. Dieser geriet vor Schreck ins Schlingern, wechselte die Spur und kam einem Kleinwagen in die Quere. Ein paar Autos wichen aus, krachten in die Leitplanke, ein Wagen überschlug sich. Endlich sagte Ryuichi: „Sakuma ist ein klitzekleines Monstrum in mir, das explodieren würde, wenn ich ihn nicht manchmal herauslasse. Er hat mich gefangen, damals im Roggen, als ich gerade eine Klippe herunterstürzen wollte. Dann flog er mit mir ins Nimmerland und meinte, ich müsse niemals erwachsen werden, solange er bei mir ist.“ „Ist Amerika das Nimmerland?“, fragte Tatsuha und beobachtete den Auffahrunfall unten auf der Straße, bei dem sich die nächsten Verkehrsteilnehmer mit ihren Gefährten ineinander verkeilten. „Menschen sind erbärmlich und falsch. Nur Monster verraten einen nicht“, sagte Ryuichi und verfolgte gleichfalls den Tumult. „Du solltest dir auch eine Maske aufsetzen und mit uns singen, auf dass wir alle zu Monstern werden.“ „Ich wusste nicht, dass du auch eines hast.“ „Jeder hat ein Monster unterm Bett, Tatsuha-kun.“ Der Lärm aufeinander prallenden Metalls verebbte und wich dem Geschrei aufgebrachter Menschen. Einige Finger zeigten empor zur Überführung. Mit einem Seufzen meinte Tatsuha: „Wir sollten besser verschwinden.“ Ryuichi nickte. Gemeinsam machten sie sich zügig aus dem Staub. In der Ferne waren die ersten Sirenen zu hören. Kapitel 9: 9. Satz: Ritenente ----------------------------- 9. Satz: Ritenente (im Tempo zurückhaltend, zögernd) „...hat es in der Innenstadt eine Massenkarambolage von derartigem Ausmaß seit fünf Jahren nicht mehr gegeben. Am Ort des Geschehens fand man mehrere Kirschkerne, doch machte die Polizei keine großen Hoffnungen, dass eine Analyse der DNA auf die Täter...“ Fernsehgeräusche überdeckten die angestaute Stille im Raum. In Tatsuhas Apartment war es nicht deshalb still, weil er allein war, sondern weil weder sein Gast noch er selbst etwas sagte. Ryuichi saß auf dem Boden und starrte abwesend auf das eingeschaltete Gerät, während gerade die Nachrichten liefen. Hingeworfen wie ein unbedeutendes Ding lag Kumagoro schlaff zwischen ihnen. Eine Hand wanderte über die glatten Rillen der vergilbten Strohmatte zu dem Hasen hinüber. Sie reckte und streckte sich ein wenig, bis sie eines der langen Ohren zu fassen bekam. Aufmerksam werdend folgten Ryuichis Augen der Hand und dem Stofftier, welches Stück für Stück über den Boden gezogen wurde, als handelte es sich hierbei um das Opfer einer heimlichen Entführung. Mit einem Ruck sprang Kumagoro in die Höhe, wirbelte einmal um die eigene Achse und landete sicher in Tatsuhas Händen. Das Fernsehflimmern zeichnete weiche Konturen auf sein jugendliches Gesicht, während er rücklings auf der Matte vor dem Fenster liegend Kumagoro in die Luft hielt, die schwarz glänzende Nase mit dem Zeigefinger anstubste, über den weichen Plüschstoff strich und sich ein rosa Hasenohr um den Daumen wickelte, das sich ein bisschen klamm anfühlte, weil vor kurzem noch darauf herumgekaut worden war. Ohne sich dem Teenager vollständig zuzuwenden, beobachtete Ryuichi ihn eine Weile aus dem Augenwinkel. Tatsuha bemerkte es nicht. Er spielte gedankenversunken mit Kumagoro, zupfte an seinen Gliedmaßen, dem knollenartigen Stummelschwanz und der roten Fliege, als sei dieses leblose Plüschtier für ihn das einzig Erreichbare. Ein Spiel. Das hatte Tatsuha bei ihrem ersten Aufeinandertreffen aus seiner Bekanntschaft mit Ryuichi Sakuma machen wollen. Ein Kräftemessen, einen Eroberungswettstreit und einen Sieg. Mittlerweile, da der berühmte Sänger immer häufiger in seiner Wohnung auftauchte, besaß Tatsuha weit mehr, als er sich je erhoffen konnte, und wusste dennoch nicht weiter. „Es ist lange her, dass ich einen richtigen Winter erlebt habe.“ Verwundert blickte Tatsuha auf, als er die unvermittelten Worte vernahm. Auf dem niedrigen Tisch angelte sich Ryuichi einen Kugelschreiber, bevor er zu Tatsuha hinüberkrabbelte und dessen Arm ergriff. Vor Schreck ließ dieser den Hasen fallen. „Was... was tust du da?“ „Komponieren“, antwortete Ryuichi und malte mit dem Kugelschreiber ein paar Noten auf Tatsuhas Unterarm, einige Textzeilen begleiteten die notierte Melodie. „Kannst du das nicht woanders?“, fragte Tatsuha lachend. „Aus den Klamotten wäscht sich Kugelschreiberfarbe schlecht heraus. Oder soll ich auf deine Tatami malen?“ „Ist es wenigstens ein Song an mich?“ Ryuichi zögerte, formte aus dem begonnenen Schriftzeichen mit der Minenspitze einen Kringel, der am Ellbogen endete. Den anderen Arm hebend glitt Tatsuha sacht durch die Haarsträhnen des Sängers und löste dessen Stirnband. „Und wenn nicht?“, fragte Ryuichi endlich. „Du meinst, wenn du ihn wieder nur wegen deines Wettstreits komponierst? Wenn du ihn eigentlich für eine Band schreibst, die nicht deine eigene ist?“ „Du kennst mich ziemlich gut, hm?“ Das Grinsen auf Ryuichis Lippen erlosch, als Tatsuha sich abrupt aufrichtete, ihn an den Schultern packte, hinabdrückte und somit unter seinen eigenen Körper brachte. Zur Abwechslung mischte sich in die Überheblichkeit auf dem Gesicht des jungen Priesters keine Siegesgewissheit, sondern Zweifel. „Obwohl Shuichi nicht da ist, steht er uns ständig im Weg“, meinte er aufgebracht, bemüht darum, seine Verärgerung nicht offen zur Schau zu stellen, was ihm gründlich misslang. „Er ist nie da und scheint doch permanent anwesend zu sein.“ Unter dem Gewicht von Tatsuhas Körper tastete Ryuichi mit der Hand über den Boden, fand die zerknitterten Seiten einer alten Zeitschrift, dann ein Bein von Kumagoro. „Weißt du überhaupt, wie gut sich Shuichi Shindo anfühlt, wenn man ihn im Arm hält?“, fragte Tatsuha, seine Emotionen unter Kontrolle bringend, nun sanft. Schweigend fand Ryuichi die Fernbedienung, den weggerollten Kugelschreiber. „Weißt du, wie es sich anhört, wenn seine sonst so klare Stimme vor Erregung heiser wird?“, raunte Tatsuha dicht an seinem Ohr, bevor er mit den Zähnen eine von Ryuichis Kreolen erhaschte. „Woher willst du das denn wissen?“, flüsterte der Sänger und fand mit ausgestreckter Hand zwei rund geformte, parallel übereinander angebrachte Metallbänder, die er leise klirrend an sich nahm. „Ich habe mich an Shuichi herangemacht, weil er dir so ähnlich ist. Und während ich ihn küsste, stellte ich mir vor, dass du es wärst.“ „Das meinte ich nicht, Tatsuha-kun.“ Die Augen schließend spürte Ryuichi den warmen Atem kitzelnd an seiner Halsbeuge. „Woher willst du wissen, dass ich das von ihm will?“ Tatsuha hielt inne, richtete sich halb auf, um in der unergründlichen Mimik und dem zur Schau getragenen Lächeln eine Alternative lesen zu können. Ihm war klar, dass sie vorhanden sein musste, doch seine Eifersucht verwehrte ihm den Blick darauf. „Ich würde dir jetzt gern wehtun“, gestand er mit unüberhörbarem Trotz in der Stimme, „aber nicht, solange du hilflos bist. Was muss ich tun, um den anderen Ryuichi zu bekommen?“ Keine Antwort konnte die Situation im freien Fall auffangen, denn stattdessen ermächtigten sich die Lautsprecher des Fernsehers, die Auseinandersetzung zu unterbrechen. Nun erst kam den beiden Männern der sowohl fremde als auch vertraute Klangteppich zu Bewusstsein, der vor wenigen Sekunden eingesetzt hatte. Jener klare und überschwängliche Gesang. „Don’t you believe mind?“ Sie hörten es und hörten es doch nicht, gedämpft durch das glatte Material der Tatami, begleitet von den Umgebungsgeräuschen, die kaum erstickt durch die dünnen Wände sowie das Fenster drangen, und zuletzt erfüllt von der Melodie des Liedes aus dem Fernseher. Unter der Vermischung all dieser Töne verschwand der dumpfe Laut ihres Gerangels fast vollständig. „Can you believe lie?“ Shuichis Stimme im Ohr war beiden noch schwindlig vom Sturz und ihrem plötzlichen Wechsel. Tatsuha spürte den Boden in seinem Rücken, Hände auf seinem Brustkorb, ein Knie auf seinem Oberschenkel, Umklammerungen an den Handgelenken, die seine Arme über dem Kopf festhielten. Er kannte nicht einmal den Titel des Songs, der soeben von Bad Luck gespielt wurde. Gar nichts mehr kennend nahm Tatsuha allein den veränderten Ausdruck in Ryuichis Augen wahr. Ein Lied, von dem er den Namen nicht kannte. Ein Sänger, dessen wahre Persönlichkeit er nicht kannte. Und eine Stimme, die ihm in kühler Belustigung sagte: „Zerstör mich doch, wenn du kannst.“ „Glaub mir, das...“ „Ich gebe dir dafür einen Tipp“, schnitt Ryuichi ihm das Wort ab, ersetzte geschwind seinen eigenen Griff durch die Handschellen, die er vorhin in Reichweite gefunden hatte, und kettete Tatsuha an die Leitung der neben dem Fenster befindlichen Heizung. „Du solltest es besser schaffen, bevor ich es bei dir schaffe.“ Perplex wollte sich Tatsuha aufrichten. Seine festgeketteten Handgelenke verhinderten dies allerdings ruckartig. Stumm, reglos und zu verwirrt, um anders zu reagieren, erlaubte er Ryuichi ohne Gegenwehr, weitere Zeilen auf seinen Unterarm zu schreiben. Zeichen um Zeichen, Note um Note vollführte dieser seine Komposition auf Tatsuhas nackter Haut, bis der Song von Bad Luck zu einem Ende kam. „Rühr dich nicht“, befahl Ryuichi knapp und erhob sich. Nachdenklich blieb er eine Weile breitbeinig über Tatsuha stehen, klickte ungeduldig mit dem Kugelschreiber und betrachtete die blauen Linien, mit denen er seinen jungen Freund verziert hatte. Anschließend schaute Ryuichi ihm lächelnd ins Gesicht. „Warte bitte hier auf mich, Tatsuha-kun. Ich brauche dich noch.“ „Noch?“ Tatsuha konnte nicht verhindern, dass sich seine Stimme überschlug, beinahe panisch wirkte. Doch Ryuichi drehte sich bereits um, warf den Kugelschreiber achtlos in eine Ecke und lief zügig zur Ausgangstür. „Danke übrigens für den Schlüssel.“ „Ryuichi?“ „Du bist ein Dummkopf, Tatsuha-kun.“ „Ryuichi, geh nicht!“ „Pass gut auf ihn auf, Kuma-chan.“ „Ryuichi, warte! Komm zurück...“ Er lief durch die Stadt und stellte sich vor, er sei in Amerika. Grelle Reklametafeln. Das war ähnlich, wenn auch ein bisschen zu überladen. Straßenlärm. Auch das war ähnlich, dennoch war das Verkehrssystem spiegelverkehrt. Verkehrter Verkehr, dachte Ryuichi und lachte kurz über seine widersinnigen Überlegungen. Sakuma fand das natürlich gar nicht lustig. Anfangs eine Melodie pfeifend begann Ryuichi bald zu singen. „I wrote this novel just for you.“ Tatsuha war wirklich ein Dummkopf. Wollte nichts sehen, nichts verstehen. Was willst du denn mit ihm?, fuhr Sakuma ihn unwirsch an. „That’s why it’s vulgar, that’s why it’s blue.“ Japan war nicht Amerika und Tokyo nicht Hollywood. Tatsuha sah so vieles nicht. Aber er sah Dinge, die andere Leute nicht sahen. Geister zum Beispiel. Gespenster, die sich unter der Oberfläche versteckten. Gespenster, die Furcht und Fernweh hießen. „I read a book about the self“, sang Ryuichi und achtete nicht auf entgegenkommende Passanten, „said I should get expensive help.“ Blue, so nannte man in englischer Sprache das Gefühl von Traurigkeit. Irgendwo in Europa bezeichnete man damit Taumel und Trunkenheit. In Japan hingegen meinte man damit bloß jene Ampelfarbe, bei der man gehen durfte. „Go, fix my head, create some wealth, put my neurosis on a shelf.“ Meerblau. Himmelblau. Tokyo war nicht Hollywood. „But I don’t care for myself.“ Irgendwann wusste Ryuichi nicht mehr, wie lange er durch die Stadt gelaufen war. Niemals erlosch das Licht gänzlich. Niemals waren die Straßen völlig menschenleer. Sie wurden nur weniger. Weniger Lichter. Weniger Menschen. „I don’t care for myself.“ Mitten in der Nacht verlor sich Ryuichi im Untergrund, bei der Untergrundbahn, zwischen komplizierten Fahrkartenautomaten und an gekachelten Wänden befestigten Plänen, die anhand bunter, verworrener Stränge das Verbindungsnetz erklärten. „I don’t care.“ Einige Münzen Kleingeld in der geöffneten Handfläche musste Ryuichi hilflos feststellen, dass er nicht weiterkam. Der letzte Zug war längst abgefahren. Kapitel 10: 10. Satz: Grave --------------------------- 10. Satz: Grave (schwer, feierlich, ernst) „Eingesperrt.“ Ryuichi lächelte ihn an. Seine Augenbrauen machten dabei etwas Komisches. Hinaufgezogen kräuselten sie sich in der Mitte und nach außen hin, nach rechts und links fielen sie schräg hinab. Genau dazwischen, über der Nasenwurzel und unter der Stirn, bildete sich eine Falte. Obwohl seine Brauen das taten und obwohl seine Augen mitmachten, lächelte Ryuichi trotzdem. Es sah fast aus, als würde er es ernst meinen. „Eingesperrt“, wiederholte er und breitete kurz die Arme aus, „all diese kleinen Existenzen.“ An den Gehegen vorbeilaufend hielt er Tatsuhas Hand fest in seiner eigenen. All diese kleinen Existenzen. „Die Welt ist ein Zoo. Ein Käfig für jeden. Immer einsam, nie allein.“ „Das klingt traurig“, sagte Tatsuha und Ryuichi antwortete: „Traurig ist nur ein Wort.“ Sie schauten sich die Tiere an, verschwommene Geschöpfe vor Glas und Gitterstäben. Einen Moment fühlte sich Tatsuha, als wäre daran etwas falsch und als befände er sich auf der verkehrten Seite. „Wir müssen draußen bleiben. Menschen werden von ihnen ausgesperrt.“ „Haben wir sie nicht eingesperrt?“ „Das glaubst du, weil der Raum auf deiner Seite der Gitterstäbe größer ist. Aber ist er das wirklich?“ War er das wirklich? Nachdenklich einer ungreifbaren Lösung auf der Spur drehte sich Tatsuha auf dem Absatz herum, bis er Ryuichi wieder begegnete. Dessen Gesicht, kindlich, erwachsen und geheimnisvoll zugleich, tauchte unvermittelt zwischen den Gitterstäben auf. Kurzzeitig wunderte sich Tatsuha, wieso der Sänger sich eingeschlossen hatte. Mit den Händen die harten Eisenstangen umklammernd erkannte er jedoch bald, dass er selbst es war, der sich in einem Käfig befand. Schwere Ketten hielten ihn fest und wilde Tiere teilten seine Gefangenschaft, doch duldeten sie seine Anwesenheit nicht. „Warum bist du dort und nicht hier?“, hörte sich Tatsuha rufen. Von der anderen Seite kam die Antwort: „Weil unsere Welten zu verschieden sind.“ Waren sie das wirklich? Konnte nur ein anderer Sänger, ein ebenbürtiger Gefährte und Rivale, jenes kämpferische Spiel bestreiten, nach dem es Tatsuha verlangte? Unerreichbar. Eingesperrt. Die wilden Tiere umkreisten ihn bereits. Sie schnappten nach seinen Händen, begruben ihn unter mächtigen Tatzen, legten ihre gewichtigen Pranken auf seinen Körper, bissen und nagten an seinen Fingern. Vom Laut eines beschwerlichen Stöhnens geweckt, welches offenbar aus seinem eigenen Mund gedrungen war, wurde Tatsuha mit einem plötzlichen Ruck wach. Seine Handgelenke schmerzten, seine Finger ebenso wie sein Brustkorb, was, wie er schnell feststellte, von dem Gewicht herrührte, das auf ihm lastete. Ein warmes, beruhigendes, lebendiges Gewicht. Er blinzelte und sah zuerst die Schlieren eines grauen Morgenlichts über seine Zimmerdecke wandern. Allerdings stimmte der Blickwinkel nicht. Er lag zu nah am Fenster, in einer unbequemen Haltung. Der Fernseher lief, sodass er mit seinen langsam erwachenden Sinnen Gespräche vernahm, die er zuerst nicht verstehen konnte, als wären sie in fremden Sprachen formuliert. Bald jedoch füllten sich die Worte mit Inhalt, ergaben ein klar strukturiertes Bild und endeten in einer bedeutungslosen Dauerwerbesendung. „Magical Power Up Tsubasa! Fühlen Sie sich so leicht wie eine Feder. Verwenden Sie dieses Sportgerät und Sie werden schlanker und glücklicher! Zu Gast ist heute Rumiko-san. Hallo, Rumiko-san!“ „Guten Morgen! Ich freue mich hier sein zu dürfen.“ „Noch vor wenigen Wochen hat Rumiko-san fünfzig Kilo gewogen.“ „Zu viel gegessen und in meiner Freizeit komme ich nur selten hinaus. Peinlich, peinlich, aber ich habe Süßigkeiten doch so gern, ojemine.“ „Das alles macht gar nichts mit Magical Power Up Tsubasa!“ „Jetzt wiege ich unter vierzig Kilo!“ „Was für ein Glück für dich, Rumiko-san. Applaus! Applaus!“ „I don’t care for myself.“ Aus der Realität unterbrach murmelnder Gesang das Geschwätz der Werbesendung und erinnerte Tatsuha an die Last auf seinem Leib. Ryuichi war zurückgekehrt, irgendwann, nach etlichen Stunden, in denen Tatsuha in der vergangenen Nacht versucht hatte sich von der Heizung zu befreien und schließlich erschöpft eingeschlafen war. Eine seiner Hände war mittlerweile von der Fessel gelöst worden. Stattdessen wurde sein Arm von dem Sänger festgehalten, der sich ungeniert auf ihn gelegt hatte und ihm hierbei einen Ellbogen in die Rippen bohrte, während er an den Fingern des jungen Priesters nuckelte. Tatsuha seufzte. Kein Wunder, dass seine Fingerkuppen weh taten, wenn jemand eine unbestimmte Zeit lang auf ihnen herumgekaut hatte. „Ryuichi, wach auf.“ Tatsuha bewegte sich ein wenig und versuchte ihn damit aufzuwecken. Zwar wäre er gern noch länger liegen geblieben, die Wärme des fremden Körpers an seinem eigenen genießend, dummerweise machte ihm etwas einen Strich durch die Rechnung, das ihn bereits in den letzten Stunden zu quälen begonnen hatte. „Ryuichi.“ Allmählich reagierte der Sänger auf die Weckaktion, regte sich müde und hörte schließlich damit auf, die fremden Finger als Beißring zu missbrauchen. „Deine Hände sind eisig, Tatsuha-kun“, grummelte Ryuichi verschlafen und undeutlich. „Weil du mich hier ohne Decke liegen gelassen hast“, stellte Tatsuha trocken fest. „Egal. Wer selbst kalt ist, muss nicht frieren. Seit wann bist du wieder da?“ „Erst seit kurzem. Es wurde schon hell.“ Ryuichi dachte nicht daran, aufzustehen, machte es sich hingegen mit dem Kopf auf der Brust des Anderen bequem. „Warst du die gesamte Nacht unterwegs?“, wollte Tatsuha wissen und streichelte, an die Decke starrend, durch Ryuichis zerwuscheltes Haar. Leise schnurrend antwortete dieser: „Nein, heute habe ich auf einer Parkbank übernachtet.“ „Konntest du etwa den Rückweg nicht finden?“ „Es gab Pläne, die mir den Weg zeigen wollten. Anleitungen, wie ich mein Leben führen sollte.“ Die Augen schließend schüttelte Ryuichi den Kopf, als wollte er die vergangenen Stunden abwerfen, seine Pilgerschaft in Vergessenheit geraten lassen. Die letzte Nacht war wie ein Labyrinth gewesen. „Das war alles so bunt und verwirrend. Ich verstand es nicht. Ich habe nicht verstanden, was ich tun muss.“ „Bitte geh nicht wieder weg.“ Tatsuha sprach diesen Satz aus, bevor er sich davon abbringen oder überhaupt darüber im Klaren werden konnte, was er sagte. „Wieso nicht?“, fragte Ryuichi unbescholten. „Wieso sollte ich nicht weggehen, Tatsuha-kun? Du kannst mir doch auch nicht helfen und mir sagen, was ich tun soll. Warum sollen Menschen nicht einfach so verschwinden, ohne dass es jemand merkt?“ Tatsuha schluckte schwer. Von dieser Warte aus hatte er es noch gar nicht betrachtet. Er befürchtete, Ryuichi käme nicht mehr zurück. Nicht aus Gehässigkeit, sondern schlichtweg deshalb, weil er es vergessen könnte. Weil er Tatsuha vergessen könnte. Der einzig glückliche Umstand war der Liedtext auf seiner nackten Haut. Ihn würde Ryuichi sicher nicht vergessen. „Mach mich los.“ Die Forderung kroch dem Winterfrost vergleichbar über den Boden des Raumes, über abgenutzte Tatami und rissige Holzdielen, die unter dem Gewicht und durch die unbekannten Bewegungen des Hauses leise knarrten. Tatsuhas Hals kratzte. Ihm tat sein schneidender Tonfall längst in der Kehle weh. Ryuichi allerdings schien sich in keiner Weise angegriffen zu fühlen und fragte schmollend: „Wieso denn?“ „Du hast mich hier angekettet, glaubst du, das ist bequem? Ich kann mich kaum rühren.“ „Das war doch der Zweck meiner Aktion, Tatsuha-kun.“ „Dann ist dieser Zweck jetzt zur Genüge erfüllt. Außerdem habe ich Hunger.“ „Ich kann dich füttern. Was magst du denn?“ „Okonomiyaki. Aber darum geht es nicht!“ Handschellen und Heizungsrohr führten im Zuge eines neuerlichen Befreiungsversuchs klirrend und rasselnd ein Zwiegespräch. „Du kannst mich hier nicht ewig festhalten!“ „Aber warum denn nicht?“ „Weil ich mal aufs Klo muss!“, brüllte Tatsuha nun frei heraus. „Das stört mich nicht.“ „Mich aber!“ Widerwillig leistete Ryuichi der Aufforderung endlich Folge und ließ sich von Tatsuha zum Schlüssel der Handschellen dirigieren. Dessen Unmut verwandelte sich hierauf rasch zurück in seine übliche Selbstsicherheit. „Ach so, was die Sache mit dem Füttern anbelangt“, erwähnte Tatsuha mit einem Grinsen, bevor er, von den Fesseln befreit, ins Badezimmer eilte, „da nehme ich dich beim Wort.“ Sie hoben mit dem Handrücken die am Eingang aufgehängten Stoffbanner an und beugten sich beim Eintreten unter ihnen hindurch. „Guten Tag. Wir freuen uns, Sie in unserem Restaurant willkommen zu heißen. Bitte folgen Sie mir. Ich werde Ihnen einen Platz zuweisen. Wünschen Sie, am Tresen zu speisen?“ Da es relativ zeitig und das Geschäft noch nicht lange geöffnet war, saß nur ein einziger anderer Gast vor seiner Mahlzeit aus einem mit Weißkohl gebratenen Pfannkuchen. Ryuichi und Tatsuha schlenderten der Empfangsdame hinterher, welche die beiden Männer mit höflicher Verbeugung bat, auf den hohen Hockern an der bislang freien Theke Platz zu nehmen. Nach der Bestellaufgabe erfüllten zunehmend geschäftiges Treiben und der Duft von Essen das Lokal. Während der Küchenchef diverse Zutaten in einer Schüssel vermengte und sie zischend auf die den gesamten Tresen entlanglaufende Herdplatte goss, jaulte er fröhlich ein paar japanische Volkslieder. Tatsuha beobachtete den Entstehungsprozess seines Okonomiyakis und wagte sich zur Überbrückung der Wartezeit an eine gefährliche, womöglich aussichtslose Frage. „Was ist damals geschehen?“ Dampf waberte um sie herum hinauf zur Decke, zwei Spatel schabten über die pechschwarze Herdplatte und ein Lied verklang dissonant zwischen all diesen Geräuschen. Den verdutzten Blickkontakt einfangend und aufrechterhaltend präzisierte Tatsuha mit äußerster Eindringlichkeit seine bereits häufig gestellte Frage. „Warum habt ihr aufgehört?“ Kapitel 11: 11. Satz: Incalzando -------------------------------- 11. Satz: Incalzando (drängend, antreibend) Ryuichi schwieg. Statt zu antworten, beobachtete er das Spektakel vor seinen Augen. In einem raschen Wendemanöver warf der Küchenchef das Okonomiyaki in die Luft, sodass es einen Salto vollführte. Mit einem Pinsel strich er eine dunkelbraune Sauce auf die andere Seite, hierbei knallte er einen seiner Spatel gegen die Platte, ließ ihn zurückfedern und sich wirbelnd im Kreis drehen, bevor er ihn aus freiem Fall wieder auffing. Er schob sein Bandana ein wenig die Stirn hinauf und summte noch immer seine schiefen Melodien. „Wie sich das wohl anfühlt?“, fragte Ryuichi. Irritiert folgte Tatsuha der Richtung, in die Ryuichi mit seinen eben auseinandergebrochenen Essstäbchen zeigte, bis sein Blick zu dem bedruckten Stück Stoff gelangte, welches verhinderte, dass dem Koch seine wirren Haare störend in die Augen fielen. Der bunte Aufdruck des Kopftuchs bestand aus einem merkwürdigen Tier, einer Raupe oder einem Wurm mit kleinen Saugarmen und Greifzähnen. „Wie sich das wohl anfühlt“, fragte Ryuichi erneut, „wenn sich der eigene Mund beim Sprechen nicht nach oben und unten, sondern nach rechts und links öffnet?“ „Du lenkst ab“, reagierte Tatsuha gleichgültig. Er war froh, dass er wegen dieser neuerlichen Absurdität keine entgeisterte Miene aufsetzte. „Fällt es dir so schwer, zu erzählen, warum deine Band vor die Hunde ging?“ „Wir sind nicht vor die Hunde gegangen!“ Das Essen war fertig und wurde ihnen schwungvoll serviert. Sofort wühlte Ryuichi missmutig mit seinen Holzstäbchen auf Tatsuhas Teller nach einem Bissen, mit dem er diesem den Mund stopfen konnte. „Nettle Grasper waren auf dem Höhepunkt allen musikalischen Schaffens. Wir waren ganz oben, Tatsuha-kun. Ganz oben!“ „Und?“ Tatsuha hatte sich zurückgelehnt und verschränkte lächelnd die Arme am Hinterkopf. „Soll mich das beeindrucken?“ Um ihn zum Schweigen zu bringen, schob Ryuichi etwas von dem Okonomiyaki zwischen seine Zähne. Der Spott verflog. Tatsuha konnte sich nur undeutlich beschweren. Mimte Ryuichi den Unschuldigen oder verschloss sich ihm tatsächlich die Wahrheit seiner eigenen Realität, die ihn einer Schachfigur gleich über das Brett schickte? Seit jeher hatte Tatsuha Spaß daran gefunden, einen Bauern nach dem anderen aus dem Weg zu räumen, um an den König zu gelangen. Bisher war dieser jedoch all seinen Spielzügen, die ihn in die Ecke treiben sollten, entronnen. Wollte Ryuichi weiterhin ausweichen? Sein Verstand schweifte ab, Tatsuha starrte wieder die Raupe auf dem Stirnband des Kochs an und dachte über die Sache mit dem Mund nach. Wie sich das wohl anfühlte? Fragen, die keinen Sinn ergaben. Fragen, die sich wiederholten und ohne Ziel ins Leere liefen. Fragen, auf die er andere Antworten erhalten wollte als jene, die er bereits kannte. Tatsuha wusste, dass er eine einzige Antwort niemals hören würde. „Es gab keine Herausforderung mehr“, antwortete Ryuichi in diesem Moment. Tatsuha horchte auf, die Worte vernehmend, überprüfend, nur Stück für Stück begreifend. Keine Herausforderung mehr. Der Grund, warum Nettle Grasper vor drei Jahren aufgehört hatten. Derselbe Grund, weshalb sich Tatsuha von Beginn an für den charismatischen Sänger interessierte. So dachte er jedenfalls. „Ohne Herausforderung ist es doch langweilig, der Beste zu sein“, fügte Ryuichi seiner Aussage hinzu und machte Tatsuha damit schlagartig etwas bewusst. Ihr Motiv war nicht dasselbe. Tatsuha hatte sich begnügt, unzählige Bauernopfer vom Feld zu fegen. Ryuichi hingegen duellierte sich mit Läufern und Springern und Türmen. Die Erkenntnis rauschte wie ein Sturm durch seine Eingeweide. Zuerst wollte Tatsuha seine Selbstsicherheit aufgeben. Doch dann kam die Kälte und mit ihr die altbekannte, willkommene Gelassenheit. „Grasper wiederauferstehen zu lassen war deine Idee, richtig? Warum?“, fragte er kühl und schaufelte sich scheinbar gelangweilt sein Essen in den Mund. Er schaute nicht einmal auf, um Ryuichi anzusehen, als würde ihn das alles gar nicht kümmern und seine Frage wäre bloß Höflichkeit. „Hat es etwas mit Bad Luck zu tun? War das die Herausforderung, die du gesucht hast?“ „Das wüsstest du wohl gern.“ „Wenn du es nicht erzählen willst, dann lass es.“ „Du kannst noch so sehr nachbohren, ich werde auf keinen Fall...“ Ryuichi hielt inne, seine Augen weiteten sich. „Willst du es gar nicht wissen, Tatsuha-kun?“ „Ist doch deine Sache. Niemand zwingt dich.“ „So funktioniert das aber nicht. Du kannst nicht fragen und dann sagen, es interessiere dich nicht.“ „Ich habe nicht gesagt, dass es mich nicht interessiert.“ „Wie sehr du auch bettelst, von mir erfährst du nichts.“ „Meinetwegen.“ „Was soll das heißen? Es ist unhöflich und egozentrisch, sich nicht nach den Belangen seines Gesprächspartners zu erkundigen.“ „Meinetwegen“, nuschelte Tatsuha erneut, gleichgültig und mit vollem Mund, bevor er eine gewünschte Antwort herunterleierte. „Ich wüsste es gern, lieber Ryuichi, aber wenn du es nicht sagen willst...“ „Nein, das ist ein Geheimnis, das ich mit ins Grab nehme.“ Tatsuha rollte mit den Augen und zog es vor, zu schweigen. Er hatte bereits die Hälfte seines Okonomiyakis getilgt, als Ryuichi verschwörerisch den Zeigefinger hob und sagte: „Okay, schon gut, ich sag es dir.“ Die Fingerkuppe schwirrte bedrohlich nah vor Tatsuhas Nase herum, sodass dieser sich Mühe gab, sie nicht anzuschielen. „Also, hör zu. Bad Luck wurde als Nachfolger von Nettle Grasper gehandelt. Das geht so nicht, darum muss ich Shuichi Shindo fertig machen.“ Ryuichi verschränkte die Arme ineinander, schloss die Augen und nickte bestimmt, während Tatsuha nicht auf die Lüge einging und stattdessen anmerkte: „Ich dachte, du liebst ihn.“ „Ich werde ihn liebevoll fertig machen“, erklärte Ryuichi präziser. Tatsuha ignorierte das Bedürfnis, ihm einen Teller Essen ins Gesicht zu drücken, und meinte unwirsch: „Du bist viel besser als Shuichi.“ „Ich weiß.“ Feierlich nahm Ryuichi wieder die Essstäbchen zur Hand und hielt sie übereinandergelegt vor sich, als wären es zwei Schwerter. „Aber er hat etwas, das mir fehlt, das mir fast abhanden gekommen wäre. Ich meine etwas, das ihm zum Verhängnis werden kann.“ „Was denn?“ Über den spitzen Winkel seiner gekreuzten Holzstäbchen hinweg starrte Ryuichi ihn an und wartete einige Sekunden, bevor er antwortete: „Du weißt, wovon ich rede.“ Tatsuha nickte verstehend. In Wirklichkeit hatte er keine Ahnung, worauf Ryuichi hinauswollte, aber das musste er ja nicht unbedingt zugeben. „Ja“, sinnierte er schwermütig und senkte nachdenklich seinen Blick. „Ich weiß leider zu genau, was du meinst.“ Im nächsten Moment klebte ein gebratenes Weißkohlblatt an seiner Wange. Ryuichi hatte es ihm ins Gesicht geschnippt. Verwirrt suchte Tatsuha nach einer angemessenen Reaktion. „Guck nicht so ernst“, sagte Ryuichi streng. „Du bist viel zu jung, um so ernst zu gucken.“ Tatsuha lächelte und schmierte ihm einen kleinen Batzen Essen ans Kinn. Hierauf griff Ryuichi gemächlich nach der Okonomiyakisauce und quetschte die Tube in aller Ruhe über Tatsuhas Kopf aus. Als die braune Flüssigkeit bereits von dessen Stirn tropfte, hob Tatsuha geduldig seufzend einen gefüllten Teller an und balancierte ihn auf der flachen Hand. „Wie du willst“, sagte er aggressiv höflich. „Klären wir das auf deine Art.“ Nachdem beide Männer, zugegeben etwas unfreundlich, aus dem Lokal hinauskomplimentiert wurden, schlenderten sie ziellos durch die Straßen. Leider wollte der Küchenchef nicht tolerieren, dass sich seine Kundschaft gegenseitig mit Essen bewarf, aber Tatsuha musste deswegen noch immer lachen. Er hatte lange nicht mehr so unbeschwert gelacht. Nur seine Haare fühlten sich jetzt eklig an. „Produce Some Panic“, verkündete er nach einiger Überlegung. Ryuichi hatte ihn eben gefragt, welches Lied von Nettle Grasper er derzeit am meisten mochte. „Warum?“ „Dein Bühnenoutfit im Video ist extrem heiß.“ „Ja, nicht wahr?“, stimmte Ryuichi ihm breit grinsend zu. Mit seiner hässlichen Sportmütze und den weiten, vom Essen verdreckten Klamotten sah er aus wie ein Penner. Tatsuha störte das nicht. Er würde Ryuichi selbst dann noch attraktiv finden, wenn er sich als Konzertlautsprecher verkleidete. Außerdem konnte ihn so garantiert niemand in der Öffentlichkeit erkennen. „Du singst manchmal“, erklärte Tatsuha mit überlegenem Kennerblick, „als hättest du Schluckauf.“ „Wirklich? Wie toll!“ „Ich weiß, warum du das tust. Warum eure Musik häufig so enorm schnell ist. Es ist, weil...“ Den Zeigefinger nach vorn gestreckt blieb Tatsuha an einer Fußgängerampel stehen und sprach enthusiastisch weiter, als gleichzeitig eine Nobelkarosserie an ihnen vorbeirauschte, abrupt eine unerlaubte Kehrtwende vollführte und reifenquietschend neben ihnen am Straßenrand zum Halten kam. „...du versuchst, alle anderen abzuhängen“, beendete Tatsuha seinen Satz und schaute dann irritiert auf. In das Gesicht von Mika, die wütend aus dem Wagen stieg und in ihren hochhackigen Schuhen beachtlich stampfend zu ihnen hinüber marschierte. „Was glaubst du, was du hier tust, Tatsuha?! Seit Tagen versuche ich dich zu erreichen. Dein blödes Handy vergammelt wahrscheinlich in einer Ecke deiner zugemüllten Wohnung, ohne dass du auch nur merkst, wenn dich jemand anzurufen versucht!“ Das stimmte nicht ganz. Tatsuha hatte sehr wohl mitbekommen, wie sein Handy vibrierend nach Aufmerksamkeit verlangte, bis irgendwann der Akku kapitulierte. Am Heizkörper festgekettet besaß er allerdings relativ wenig Bewegungsfreiheit. Nicht genug jedenfalls, um sein Handy zu erreichen, und das war zumindest für den gestrigen Abend eine hervorragende Ausrede. „Was ist mit dem Totenfest im Sommer?“, keifte Mika weiter. „Jeder im Tempel hat alle Hände voll zu tun und wo bleibt Tatsuha mal wieder? Vernachlässigt sträflich seine Arbeit, wie immer.“ Zeternd packte sie ihren Bruder am Kragen und zerrte ihn hinter sich her ins Auto. „Ich weiß schon, warum ich auf dein Gejammer nie eingegangen bin. Bitte arrangiere ein Treffen, liebe Mika-chan, ich will Sakuma-san unbedingt kennen lernen und so weiter. Als hätte ich nicht geahnt, wo das endet. Du hast dich schon immer vor deinen Verpflichtungen gedrückt.“ Sie verriegelte hinter Tatsuha die Autotür, stieg auf der Fahrerseite ein und schwang ihre langen Beine auf den Vordersitz. Durch die heruntergelassene Scheibe wandte sie sich noch kurz an Ryuichi, der perplex auf dem Gehweg stand. „Toma lässt ausrichten, dass du zurück ins Studio kommen sollst. Ohne dein Anhängsel dürfte das nicht mehr allzu schwer sein.“ Damit trat sie das Gaspedal durch und ließ den Motor aufheule, bevor sie sich in der ihr eigenen Manier in den Straßenverkehr einfädelte. „Das ist...“ Langsam erlangte Ryuichi seine Fassung wieder. Seine geballten Fäuste flogen energisch in die Luft. „Hey, das könnt ihr nicht machen! Kommt zurück, verdammt noch mal! Das ist Diebstahl! Enteignung! Mundraub!“ Kapitel 12: 12. Satz: Misurato ------------------------------ 12. Satz: Misurato (Wiedereintritt strenger Taktordnung, gemessen) „Weißt du, warum ich dich niemals zu einem Treffen mitgenommen habe?“ Mika wechselte nach rechts auf die Überholspur. Die Verkehrsschilder der Schnellstraße sausten an ihnen vorbei und wiesen Richtung Westen, hinaus aus Japans Hauptstadt. Tatsuha achtete nicht auf seine Schwester, starrte nur weiterhin aus dem Fenster, auf endlose Reihen von Hochhäusern, stellenweise unterbrochen von alten Tempeln, die sich völlig unpassend in das moderne Bild der Metropole einfügten. Im nächsten Moment hätte er über die Ironie des Zufalls lachen können, denn im Radio kündigte der Moderator künstlich begeistert den aktuellen Hit von Nettle Grasper an. „Make love, make war“, drang der Gesang von Ryuichi Sakuma aus dem Lautsprecher, „make sex, make more...“ „Er liebt dich sowieso nicht, Brüderchen.“ Mika bedachte ihren Beifahrer mit einem flüchtigen Blick. Er sah es im Augenwinkel, doch er reagierte nicht darauf. Sie schaute wieder nach vorn und ließ einige Sekunden vergehen, in denen die Musik gegen den Lärm von Wind und Geschwindigkeit ankämpfte, um den Leerraum zwischen ihnen zu vereinnahmen. „Whatever you do, produce some panic!“ Nach einer Weile sagte Mika: „Du bist für ihn ein Spielzeug.“ Schweigend streckte Tatsuha daraufhin die Hand aus und stellte das Radio lauter. „Morgens wirst du mit den anderen Lehrlingen in aller Frühe aufstehen, dich in deinen Meditationen üben, fasten und deinen dir übertragenen Aufgaben nachkommen! Verstanden?“ Der betagte Priester hielt Tatsuha am Kragen fest und schüttelte ihn heftig, während er ihm ins Gesicht brüllte. „Ich habe verstanden, Alter“, antwortete Tatsuha genervt. „Du brauchst mich nicht anzuspucken.“ „Du!“ Uesugi packte seinen Sohn noch ein wenig unsanfter an der Robe. „Ich verlange außerdem, dass du dir eine Glatze scheren lässt, wie es sich für einen Mönch gehört.“ „Wie?! Das kannst du vergessen!“ Was fiel dem Alten überhaupt ein? Er hurte sich durch die Gegend, trank und rauchte, hatte sogar eine heimliche Affinität zum Glücksspiel und verlangte dann eine asketische Haltung von seinem Nachfolger? Unwirsch machte sich Tatsuha von seinem Vater los. „Kein Wunder, dass Eiri null Bock auf den Scheiß hier hatte.“ „Deinem Bruder hast du doch selbst geholfen, mit diesem lächerlichen Individuum anzubandeln!“ „Dieses lächerliche Individuum kann ihn wenigstens glücklich machen. Immerhin habt ihr ihm das jahrelang verwehrt.“ Natürlich hatte Tatsuha dafür Sorge getragen, Shuichi mit Eiri auf dem Anwesen der Familie zusammenzubringen, um ihr Verhältnis zu kitten. Sein Bruder musste bereits genug durchmachen. Es war längst nötig, dass sich jemand um Eiri kümmerte, der ihn nicht wie Mika oder Toma mit Samthandschuhen anfasste. Jemand, der von ihm nicht erwartete, perfekt zu sein. Der ihn so liebte, wie er war. Andererseits gab es da noch ein zweites, keineswegs unerhebliches Motiv. Ryuichi Sakuma interessierte sich für diese schrille, durchgeknallte Heulsuse. Sobald Shuichi wegen seiner Beziehungskiste am Boden zerstört war, ging es gleichzeitig mit Bad Luck bergab. Den meisten Leuten fiel das vermutlich nicht auf, doch selbst wenn Shuichi nicht in Depressionen ertrank und weiterhin seine Musik machte, verschwand zusammen mit seinem Antrieb der Zauber aus seinem Gesang. Ryuichi hörte das genauso deutlich, wie Tatsuha es hören konnte. Das wiederum frustrierte den Sänger und ließ ihn für gewöhnlich total am Rad drehen, mehr als sonst zumindest. Ohne Bad Luck war auch Nettle Grasper bald wieder Geschichte. „Verlass dich drauf“, unterbrach Tatsuha die inzwischen fortgesetzte Litanei seines Vaters, die er geflissentlich ignoriert hatte. „Ich werde das Ding schon schaukeln. Also reg dich ab.“ Im Grunde hatte Tatsuha einen hilfsbereiten Charakter. Zugegeben, er besaß eine Vorliebe dafür, Personen wehzutun, die er mochte, aber das zählte nicht. Wenn es nach ihm ging, sollten sie alle glücklich werden, Eiri genauso wie Shuichi und Ryuichi. Die letzten beiden nach Möglichkeit nur nicht unbedingt miteinander. Indem Tatsuha dafür sorgte, dass es zwischen seinem Bruder und Shuichi gut lief, bekam Ryuichi keine Chance, sich einzuklinken. Zwei Fliegen mit einer Klappe. Rücken, Arme, Beine, jeder einzelne Muskel tat ihm mittlerweile weh. Unermüdlich hetzte Tatsuha auf und ab und wischte die endlosen Holzdielen. Er fand nicht einmal Gelegenheit, mit den Tempeldienerinnen zu flirten. Auf einen Lappen gestützt rannte er in gebeugter Haltung die Veranda auf und ab, auf und ab. Gestern, nach seiner Ankunft und der Standpauke seines Vaters, musste er den halben Tag damit verbringen, von allen Pflaumenbäumen im Garten die kleinen Zweige abzubrechen, die an der Unterseite der Äste wuchsen. Das Abendessen war kläglich ausgefallen, seine Schlafstätte miserabel und geweckt wurde er, noch bevor der erste Hahn krähte. Als Tatsuha gegen Mittag endlich alle Gänge geputzt und die Alkoven entstaubt hatte, trat auch schon ein weiterer Priesterlehrling an ihn heran. „Uesugi-sama wünscht, dass du als nächstes den Saisenbako leerst und danach soll der Hof gefegt werden.“ Dieser Sklaventreiber! Missmutig stapfte Tatsuha zum Haupteingang und hockte sich neben den großen, mit Opfergaben gefüllten Holzkasten, dessen Material durch die hohe Luftfeuchtigkeit leicht verbogen war und widerspenstig knarrte. Tatsuha fluchte leise vor sich hin, bis ihn eine Sekunde später das Klirren einer Münze aufmerken ließ. Jemand hatte ein paar Yen zwischen die schmalen Holzsparren des Saisenbako geworfen und klatschte nun laut in die Hände. Im Herumdrehen machte Tatsuhas Herz einen Sprung. Ryuichi stand am Treppenabsatz und klatschte wie zum Applaus. Mit aneinandergelegten Handflächen verbeugte er sich, griff anschließend nach der langen Kordel der Tempelglocke und läutete sie dreimal, bevor er sich erneut verbeugte, in die Hände klatschte und am Ende noch einmal an der Glockenkordel zog. „War das so richtig?“, fragte er breit lächelnd. „Das...“, begann Tatsuha perplex, „war vollkommen falsch.“ „Ups.“ „Was machst du hier? Wie bist du hergekommen? Warum bist du in Kyoto?“ „Beten“, antwortete Ryuichi. „Mit dem Shinkansen. Weil ich dich besuchen wollte.“ „Du fährst... Zug?“ Tatsuha hatte das Gefühl, seine Mimik würde ihm aus dem Gesicht fallen, dabei wusste er gar nicht, was für ein Gesicht er gerade machte. Wahrscheinlich kein sonderlich intelligentes. „Toma wollte mir seinen Düsenjet nicht leihen“, erklärte Ryuichi schmollend. „Deswegen musste ich gezwungenermaßen mit dem Zug fahren. Es war ein bisschen schwierig, mich aus dem Staub zu machen, aber nun bin ich da.“ „Ich muss den Hof fegen“, sagte Tatsuha, denn etwas Schlaueres fiel ihm dazu gerade nicht ein. Aus seiner Erstarrung hatte er sich nach wie vor nicht gelöst, stattdessen war er damit beschäftigt, seine Gedanken und Gesichtszüge zu ordnen. Konnte er sich etwas darauf einbilden, dass Ryuichi Sakuma, Idol, Genie und wandelndes Kostümmodel von allerlei Skurrilitäten, den weiten Weg auf sich genommen hatte, nur um ihn zu sehen? Seit ihrem ersten Zusammentreffen hatten sie sporadisch mal mehr, mal weniger Zeit miteinander verbracht. Tatsuha hatte sich daran gewöhnt, dass der berühmte Sänger ab und zu seinen Namen vergaß oder sich in manchen Fällen sogar verhielt, als wären sie einander nie zuvor begegnet. Vielleicht verbarg sich dahinter reine Schikane, andererseits konnte sich Tatsuha schwer vorstellen, dass er für Ryuichi etwas anderes war als irgendein Fan unter vielen. „Das ist ja ganz einfach.“ „Was?“, fragte Tatsuha und bemerkte erst jetzt, dass sich Ryuichi neben ihm positioniert hatte und mit zu Schlitzen verengten Augen das Pflaster vor der Treppe fixierte. „Na, wovon hast du denn eben gesprochen, Tatsuha-kun? Du meinst, du musst den Hof fegen, und starrst ihn danach minutenlang an, also gehe ich davon aus, dass du das unter Fegen verstehst. Ich helfe dir, dann sind wir schneller fertig und du kannst im Gegenzug später mir helfen.“ Ryuichi musterte den Hof daraufhin noch angestrengter. „Zum Fegen braucht man einen Feger“, stellte Tatsuha schmunzelnd fest. „Dann nimm doch mich!“, rief Ryuichi begeistert mit erhobenem Arm. „Ich bin ein ganz heißer Feger.“ „Das stimmt. Ich spreche aber eigentlich von einem Besen.“ „Ach so?“ Den Kopf zur Seite wendend schenkte Ryuichi ihm ein Lächeln, das lediglich einen seiner Mundwinkel umspielte, ironisch und wissend und plötzlich machte ihn dieses Lächeln unheimlich erwachsen. Tatsuha kam sich wie ein Idiot vor. Oft genug agierte Ryuichi einem kleinen Kind ähnlich, sodass man sein wahres Alter fast vergessen konnte. Selten ließ er durchsickern, dass er mit übertriebener Naivität seine Mitmenschen entwaffnete, um sie aufzumuntern. Dagegen war der Widerpart seiner Persönlichkeit alles andere als zartbesaitet, sondern launisch, resolut und verletzend. „Da bist du ja, Sakuma-san“, raunte Tatsuha gebannt und griff unvermittelt nach Ryuichis Arm, woraufhin dieser leise wimmerte. „Auu, Tatsu-kun, du bist manchmal echt grob, weißt du das?“ Alles auf Anfang, der Kindergartenhäuptling war zurück. Tatsuha seufzte schwer und fühlte sich, als steckte er im Rad von Samsara fest. Ständig machte er einen ungünstigen Schritt und gelangte wieder auf Los, natürlich ohne Taschengeld. Er mochte den Teil von Ryuichi, der unschuldig und niedlich war, keine Frage, und eigentlich wollte er ihm auch gar nicht wehtun, im Prinzip jedenfalls, obwohl dessen Hilflosigkeit durchaus verlockend war. Aber seine selbstbewusste Seite würde nicht gleich zu wimmern anfangen. Sie würde ihm Paroli bieten. Den Griff lockernd nahm Tatsuha Abstand von Ryuichi und murmelte etwas, das vermutlich mit seiner nächsten Aufgabe zu tun hatte, während er mit der Münzkassette hinüber zu einem Nebengebäude ging. Ohne Umschweife folgte ihm Ryuichi. Endlich, als die beiden Männer zwischen diversen Gartengerätschaften standen und sich Tatsuha gerade einen Besen schnappen wollte, in jenem schweigsamen Moment aus Zweisamkeit und Zwielicht stellte Ryuichi ganz unbedarft die Frage: „Stimmt es eigentlich, dass ihr unter eurer Mönchsrobe nichts anhabt?“ Tatsuha blickte auf, seinem Begleiter direkt ins Gesicht, wo im Halbschatten ein verschmitztes Lächeln aufblitzte. „Soll ich es dir zeigen?“, hörte er sich sagen. Das Lächeln wurde breiter. „Ja“, antwortete Ryuichi. Seine Stimme klang ruhiger und dunkler als sonst. Mit gemessenen Bewegungen löste Tatsuha den Riemen über seiner Schulter, den gerafften Stoff der Priesterkluft und den Gürtel seines darunter befindlichen Kimonos. Hierbei schaute er Ryuichi unverwandt in die Augen. Dessen Blick glitt schließlich zwanglos am Körper des Jüngeren hinab. „Du würdest für mich wohl alles tun, Tatsuha-kun?“ „Ja“, antwortete dieser nun seinerseits, ohne eine Sekunde zu zögern. Kapitel 13: 13. Satz: Colla Parte --------------------------------- 13. Satz: Colla Parte (einer freien Stimme folgend) „Sie bereisen also derzeit Kyoto und wollen nun unsere Pilgerklause beziehen?“ „So ist es!“, gab Ryuichi mit überschwänglicher Freude dem glatzköpfigen Priester zur Antwort. Dieser beäugte ihn skeptisch, als würde er ihm kein Wort glauben. Tatsuhas Vater war eine harte Nuss und nicht so einfach zu knacken. Allein bis zu dieser ersten Frage war eine gefühlte Ewigkeit vergangen. Nachdem Tatsuha seinen Besuch beim Hausherrn vorgestellt hatte, waren sie gemeinsam in ein kleines Zimmer geführt worden. Durch die schmalen Fenstersparren erahnte man einen winzigen Ausschnitt des gepflegten Gartens. Ihnen wurden Süßigkeiten serviert, was an der ganzen Zeremonie, wie Tatsuha es nannte, jener Teil war, den Ryuichi am besten fand. Dazu allerdings wurde ihnen eine ekelhafte grüne Brühe gereicht, die Vater und Sohn aus unerfindlichem Grund andächtig im Kreis drehten und die wortwörtlich schmeckte, als würde man ins Gras beißen. „Mir ist aufgefallen“, meinte Tatsuha, „dass die Dekoration geändert wurde.“ „In der Tat“, stimmte ihm sein Vater zu, „sie wurde an die Pflanzen angepasst, die jetzt im Garten zu blühen beginnen.“ Ryuichi folgte dem Blick der beiden Männer, die feierlich auf ein paar Blätter glotzten, die auf einem sinnlosen Regalbrett drapiert lagen. Er verstand nicht, was das alles sollte. Ihm war langweilig und seine Füße schliefen ein. „Wir bieten während der Askese eine streng vegetarische Küche an“, fuhr Uesugi derweil an Ryuichi gewandt fort. „Außerdem gehe ich davon aus, dass sie dem Gongyo beiwohnen möchten.“ „Genau, dem Ginko beiwohnen“, pflichtete Ryuichi bei, obwohl er sich fragte, was ein Baum mit der ganzen Angelegenheit zu tun hatte. „Dem Gongyo!“, flüsterte Tatsuha ihm von der Seite hektisch zu. „Das Rezitieren von Sutren, bei uns die morgendliche Andacht.“ „Eben, am Morgen wollte ich schon immer mal nachdenken.“ Ryuichi nickte ernst und war stolz, dass er solch eine überzeugende Vorstellung ablieferte. Uesugis Augenbraue zuckte leicht, wahrscheinlich vor Anerkennung, bevor er weitersprach: „Verzeihen Sie mir, wenn ich das sage, aber Sie... sehen nicht unbedingt wie ein Pilger aus.“ „Doch, doch, ich bin Belgier.“ „Pilger!“, zischte Tatsuha neben ihm. „Pilger“, wiederholte Ryuichi eifrig. Uesugi schloss für einen langen Moment die Augen und gab einen merkwürdig tiefen Seufzer von sich. Es war nicht recht ersichtlich, ob er gerade voller Hochachtung schwieg oder ob es ihm einfach nur die Sprache verschlug. Ryuichi lächelte ihn erwartungsvoll an. Er merkte, wie Tatsuha neben ihm unruhig auf seinem Sitzkissen herumrutschte. „Nun gut“, beendete Uesugi schließlich die Unterhaltung. „Mir kommt diese Begebenheit zwar auf unangenehme Weise vertraut vor, aber ein wenig erwachsene Leitung wird Tatsuha hoffentlich nicht schaden. Da Sie ein guter Freund von meinem Schwiegersohn Toma sind, werde ich eine Ausnahme machen. Fühlen Sie sich bitte wie zu Hause. Ich empfehle mich.“ Es dauerte noch ein paar Sekunden, in denen Ryuichi und Tatsuha in angestrengt erstarrter Haltung verfolgten, wie der oberste Priester sich aus dem Teezimmer zurückzog. Erst dann erlaubten sie sich, erleichtert in sich zusammenzusacken. Grinsend hob Ryuichi eine Hand und Tatsuha schlug freudestrahlend ein. Es war nicht nur jene nervige Teezeremonie, der sich Tatsuha gehorsam unterzogen hatte, um seinen Vater gnädig zu stimmen. Vom Seiza, dem korrekten Sitzen auf Fußrist und Knien, das dieser ihn stundenlang zur Disziplinierung aufnötigte, taten ihm immer noch die Beine weh. Ryuichis Anwesenheit jedoch war wie die Erfüllung eines lang gehegten Wunschtraums. Zugegeben war in diesem wiederkehrenden Traum normalerweise der Tempel relativ menschenleer und Ryuichi relativ unbekleidet, aber Tatsuha wollte sich nicht beschweren. Ganz im Gegenteil, er konnte sein Glück kaum fassen und wäre auf der Stelle mit ihm durchgebrannt. In seliger Belustigung beobachtete er, wie Ryuichi am Zipfel eines gestapelten Futons zerrte und diesen aus dem Wandschrank zu bugsieren versuchte. „Die Dinger sind viel schwerer als erwartet“, ächzte er und schien dabei so viel Spaß zu haben, dass Tatsuha sich sparte, ihn darauf hinzuweisen, dass das eigentlich Aufgabe der Dienerschaft war. Mit einem Ruck landete Ryuichi mitsamt Futon auf dem Boden und wälzte sich lachend darauf herum, bis er außer Atem von unten herauf fragte: „Wie kommt es überhaupt, dass dein Vater Priester ist und trotzdem mehrere Kinder hat? Ich dachte, Mönche müssten insolvent leben.“ „Abstinent meinst du. Das ist schon seit über hundert Jahren nicht mehr der Fall.“ Tatsuha schüttelte das Bettzeug aus und schlug es in ein Laken. „Nach dem Niedergang der Tokugawa wurde doch in Besinnung auf die japanische Volksseele strikt zwischen Shintoismus und Buddhismus getrennt. Einhergehend gab es im fünften Jahr der Meiji-Ära ein Gesetzesdekret des Kabinetts, das jedem Mönch den Fleischverzehr, die Haartracht sowie das Führen einer Ehe freistellt. Auslegung und Strenge der Vorschriften differieren je nach Orden, genauso wie es individuelle Unterschiede bei der Messe und anderen Ritualen gibt. Bei uns beispielsweise... Ryuichi? Hörst du noch zu?“ „Was?“ Ryuichi schreckte vom Futon hoch und wischte sich den Speichel vom Kinn. „Oh, ich bin weggedöst, als du irgendetwas Langweiliges erzählt hast, Tatsuha-kun.“ „Warum bist du eigentlich hier?“ Tatsuha glitt ebenfalls hinab auf den Futon, stützte sich auf einen Ellenbogen und grinste Ryuichi schelmisch von der Seite an. „Warum bist du mir gefolgt?“ „Ich brauche meinen Gehilfen“, entgegnete dieser verschwörerisch. „Ich bin in geheimer Mission unterwegs, vielmehr auf einem Feldzug, bei dem ich einen Vasallen benötige, der mir absolute Treue gelobt und alles tut, was ich verlange.“ „Was bekomme ich dafür?“ „Ich habe heute mit dir den Hof gefegt“, erinnerte ihn Ryuichi in einer Mischung aus Überraschung und Empörung. „Wäre jetzt nicht eine Gegenleistung fällig?“ „Dafür, dass du durch meine zusammengekehrten Blätterhaufen gerobbt bist und gerufen hast, du wärst Dagobert Duck, während du mit Laub um dich warfst, als wären es Geldscheine? Ein bisschen wenig Entschädigung, wenn ich im Gegenzug alles für dich tun soll, findest du nicht?“ „Eigentlich sollte ein Sklave überhaupt nichts für seine Dienste verlangen. Du bist ein schwieriger Knecht, Tatsuha-kun. In Ordnung, du kannst von mir einen Knopf haben.“ Ryuichi drehte sich auf den Rücken und nestelte am zweiten Knopf seines Rüschenhemdes. „Aber nicht irgendeinen Knopf, nein, du bekommst meinen wertvollen Herzknopf. Die Schulmädchen sind ganz verrückt danach.“ Er hatte sein Hemd in der Mitte geöffnet, zwirbelte das kleine Stück Plastik zwischen den Fingern hin und her und schabte mit dem Nagel über das Fadenkreuz zwischen den Knopflöchern, um den Knoten aufzudröseln. Wie hypnotisiert schaute Tatsuha zu. Als der Knopf bald nur noch locker am Zwirn hing, sich aber nicht vollständig lösen ließ, streckte Tatsuha die Hand aus und schob sie durch die schmale Lücke im Stoff des Hemdes. Überrascht unterbrach Ryuichi seine Tätigkeit, schwieg jedoch. Derweil strich Tatsuha über die erreichbaren Partien des nackten Oberköpers, fühlte samtige Haut und die Bewegung von Atemzügen, die dem Herzschlag folgend zuerst stockend und dumpf, dann eindeutig beschleunigt den Brustkorb unter seiner Handfläche hoben. Er beugte sich vor, um Ryuichi in die Augen blicken zu können. Augen, die ihn abschätzig musterten, ohne eine Spur von Unsicherheit. „Gäbe es nicht eine angemessenere Gegenleistung?“, hauchte er auf Ryuichis Lippen. Eine ruckartige Erschütterung, ein leises, zerreißendes Geräusch und Tatsuha spürte eine Berührung an seinem Mund, warm und fordernd, darunter kühl und glatt. Er brauchte eine Sekunde, um zu begreifen, dass es Ryuichis Finger waren, die sich zwischen seine Zähne schoben. Augenblicklich durchströmte ihn Hitze, heißer Atem streifte seinen Hals, die Finger waren sanft, ein wenig salzig, sie legten das kühle, glatte Etwas auf seiner Zunge ab, bevor sie sich zurückzogen. Das fremde Etwas war klein, hart und schmeckte nach nichts. Tatsuha wusste sofort, dass es der Knopf war, den Ryuichi letztlich von seinem Hemd abgerissen und ihm in den Mund geschoben hatte. Jetzt verschloss eine noch feuchte Fingerkuppe seine Lippen, während ihm mit einem Kuss zugeraunt wurde: „Für dich ist das Belohnung genug.“ Ihm schwindelte. Er konnte sich nicht von den Augen abwenden, mit denen Ryuichi ihn fixierte, von denen er befürchtete, vielmehr mit Gewissheit zu erwarten meinte, dass sie im nächsten Moment bereits ihr Feuer verlieren, die kindliche Naivität zurückgewinnen würden, dass gar eine alberne Bemerkung oder ein Plüschtier den Bann zerbrechen würde, der ihn derzeit gefangen hielt. Doch nichts dergleichen geschah. „Wir müssen hier verschwinden“, sprach Ryuichi umgarnend weiter und streichelte Tatsuha wie zufällig im Nacken. „Zur Umsetzung meines Plans kann ich es nicht gebrauchen, wenn du unter Aufsicht stehst. Lass uns von hier abhauen.“ Tatsuha gab sich Mühe, in seinem trockenen Hals nicht den Knopf herunterzuschlucken, der noch immer auf seiner Zunge lag. Obwohl er nicht antwortete, verstand Ryuichi seine fügsame Einwilligung sofort. Bei Nacht und Nebel waren sie ausgebrochen. Keine Laternen beleuchteten den Tempel zur frühen Stunde, daher blieb ihre Flucht, obwohl die Sterne schon verblassten, in der noch dunklen Umgebung völlig unbehelligt und unbemerkt. Die öffentlichen Verkehrsmittel hatten ihren Dienst bereits aufgenommen, doch Ryuichi wollte laufen, quer durch die halbe Stadt. Weder Bus, Bahn noch Taxi waren, wie er sagte, besser als die frische Luft des anbrechenden Morgens, die er in Freiheit atmen konnte, solange die Stadt nicht vollständig erwacht war. In übermüdetem Zustand fanden sie bald ein Internetcafé, quetschten sich zu zweit in eine enge Kabine und schliefen bis zum Mittag. Tatsuha kam das alles vor wie ein Traum. Seit er Ryuichi kannte, wurde seine Welt permanent auf den Kopf gestellt, er brach Regeln, Konventionen, brach sogar von daheim aus und mietete stattdessen ein Zimmer in einem zweitklassigen, altmodisch japanischen Hotel, nur weil Ryuichi es so wollte. Nun war es später Nachmittag, der Himmel bewölkt, das Licht drinnen ausgeschaltet, sodass die Dämmerung langsam das Hotelzimmer verdunkelte, während Tatsuha in sein Mobiltelefon sagte: „Shuichi Shindo steigt mit jedem in die Kiste.“ Zurückgelehnt auf dem niedrigen Stuhl zog er an seiner Kiseru und beobachtete den Rauch, der vor dem Schein seines aufgeklappten Laptops gespenstische Bahnen zog. Die schlanke japanische Pfeife hatte er sich auf Ryuichis Flehen hin vom Personal bringen lassen, um dessen Vorstellung von einem konspirativen Bühnenstück perfekt zu machen. „Das ist keineswegs ein Scherz“, sprach Tatsuha selbstsicher in den Hörer. „Überprüfen Sie Ihre E-Mails, insbesondere das Bild, das ich Ihnen im Anhang geschickt habe. Ich weiß, Sie sind eine bekannte Musikzeitschrift und wollen Ihren guten Ruf nicht durch dubiose Gerüchte gefährden, aber dann schauen Sie sich das mal an. Was meinen Sie, woher ich das Foto habe? Einer von vielen Schnappschüssen, die man von Shuichi Shindo erhalten kann, wenn man ihn beim Feiern trifft und seinem Typ entspricht.“ Tatsächlich war es nur ein Handyfoto, das Tatsuha zufällig in der Wohnung seines Bruders geschossen hatte. Shuichi, geringfügig bekleidet, schlief unter einer halb heruntergerutschten Decke, während neben ihm auf dem Wohnzimmertisch einige leere Bierdosen und ein übervoller Aschenbecher standen. Eigentlich nichts Verfängliches. Tatsuha hatte das Foto bloß gemacht, weil Shuichi süß und sexy aussah und das Bild vielleicht als Erpressungsgrundlage für Eiri dienen konnte. Dass es am Ende einem perfiden Spiel von Ryuichi behilflich war, dessen Beweggründe sich nicht gänzlich erschlossen, hatte Tatsuha nicht einmal in Erwägung gezogen. „Außerdem gingen vor einiger Zeit Gerüchte um, er hätte was mit Taki von Ask am Laufen“, fuhr Tatsuha fort und hörte anschließend den Worten am anderen Ende der Leitung zu. „Klar“, bestätigte er dann, „falls er einen Vorteil daraus zieht. Glauben Sie mir, Shuichi Shindo hat ein zweites Gesicht.“ Die Presse war in der Lage, mit einem pikanten Foto und einer dazu erfundenen Geschichte eine Schmutzkampagne ohnegleichen zu starten, wenn man ihr die passenden Ideen dafür lieferte. Für fälschliche Anklagen konnte man sich nachträglich immer noch entschuldigen, irgendwo ganz hinten auf der letzten Seite, wenn die Story genügend Geld in die Kassen gespült hatte und ihre Richtigstellung sowieso niemanden mehr interessierte. Tatsuha legte auf und wählte umgehend die nächste Nummer auf seiner Liste. Vorher hatte er einem Redakteur aufgetischt, Shuichi würde seine Texte klauen, einem anderen hatte er erzählt, die Melodien von Bad Luck wären häufig nachgeahmt, hierfür summte er am Telefon sogar die Akkordfolge von einem Grasper-Song, um seine Unterstellung zu stützen, eine Theorie, die bei jedem anderen Künstler genauso anwendbar gewesen wäre. Ihre Wirkung verfehlten seine Lügen dennoch nicht. Ein paar Märchen hatte er noch parat. Irgendwann zwischendrin schaute Tatsuha zu dem gespannt lauschenden Ryuichi hinüber und fragte ihn, noch immer mit dem Handy am Ohr, mehr rhetorisch als ernst: „Zufrieden?“ Kapitel 14: 14. Satz: Rivolgimento ---------------------------------- 14. Satz: Rivolgimento (Umkehrung der Stimmen im doppelten Kontrapunkt) „Verrecke, du Gehörgestörter!“, zischte Ryuichi mit verstellter Stimme in den Hörer und unterbrach gleich wieder die Verbindung. Kichernd barg er sein Gesicht im rosa Plüschstoff seines Hasen. Tatsuha musste lächeln. Es war absurd, doch er konnte nichts dagegen tun. Darum wandte er den Blick ab und ließ ihn nach draußen schweifen. Häuser standen als finstere Silhouetten den leicht ansteigenden Hang hinauf und erwiderten seinen Blick aus manch erleuchtetem Fenster. Im schwachen Luftzug bewegten sich flackernd kleine Gusslaternen und rote Lampions. Das Holzfenster war aufgeschoben, der Abend wehte einzelnes Stimmengewirr, Geräusche plaudernder Passanten und fernen Straßenlärm herein. Auch Küchenklänge und gedämpft die Ausgelassenheit einer geschäftlichen Feier, die in einem Speiseraum des Hotels veranstaltet wurde, waren durch die dünnen Wände zu vernehmen. Tatsuha meinte sogar, Wasserrauschen zu hören, ein Badehaus mit Außenbereich vielleicht, eine heiße Quelle oder die Brunnenanlage eines Hotels, das sich irgendwo in der Nähe befand und das wesentlich teurer sein musste als jenes, in welches sie auf Ryuichis Wunsch eingekehrt waren und das beinahe einer billigen Absteige glich. „Ich wollte schon immer mal in einem Ryokan übernachten“, verkündete Ryuichi jetzt munter. Er hatte sich Kumagoro vom Gesicht genommen und hielt ihn stattdessen, mit dem Handy zwischen den Plüschtatzen, Tatsuha entgegen. „Du wolltest in ein klassisches Gasthaus?“, fragte dieser irritiert. Er hatte seinen Platz auf dem niedrigen Stuhl im Erker des Raumes seit einer Weile nicht verlassen, eingelullt vom sanften Wind, den abendlichen Klängen und den in geringen Abständen unternommenen Telefonstreichen seines Zimmergenossen. „Warst du noch nie in einem Ryokan? Im Vergleich zum Komfort in unserem Tempel hätte ich nicht gedacht, dass du dir so eine Bruchbude aussuchst. Das hättest du besser haben können.“ Mit seiner Aussage spielte Tatsuha auf die Kratzer in den Schiebetüren an, auf die durchgelegenen Futons, die von Kinderfingern gebohrten Löcher in den Papierwänden oder die Flecken auf den ausgeblichenen, wahrscheinlich mit Schaumstoff gefüllten Tatami. Zwar wirkte dies alles auf ihn heruntergekommen, nichtsdestotrotz fühlte er sich auf unerklärliche Weise wohl. Unter Ryuichis Schirmherrschaft zu stehen war ihm wesentlich lieber als unter der Fuchtel seines Vaters, auch wenn er damit im Grunde nichts an seinem untergeordneten Rang änderte. Wenigstens, wessen Befehl er befolgte, wollte Tatsuha selbst entscheiden. Entspannt wog er die kleine Pfeife in der Hand und teilte ihren Rauch zwischen seinen gespreizten Fingern, während er hinzufügte: „Traditionelles passt irgendwie nicht zu dir. Wozu sonst bevorzugst du Amerika?“ „Stimmt, im Ausland ist es einfacher“, bestätigte Kumagoro mit erhobenem Ärmchen. „Die Sprache ist unkompliziert, die Sitten sind unkompliziert, die Menschen sind unkompliziert, nicht so verstellt freundlich und trotzdem nur auf den eigenen Vorteil bedacht wie Japaner mit ihren zwei Gesichtern. Ich bitte nun um Entschuldigung, ich habe einen Anruf zu tätigen.“ Damit hielt Kumagoro das Mobiltelefon an Ryuichis Ohr und dieser rief nach wenigen Sekunden, als das Gespräch angenommen wurde, dunkel und unheilvoll: „Rhythmusraudi.“ Schnell legte er wieder auf und freute sich wie ein Kind über seine kreative Beleidigung. Verstellt. Auf den eigenen Vorteil bedacht. Zwei Gesichter. Ryuichi machte nicht den Eindruck, als wäre er überhaupt dazu fähig, dennoch klang das eben Gesagte verdächtig nach Ironie. Die Formulierungen hallten in Tatsuha nach wie ein Echo seiner selbst. Sie zwangen ihn unweigerlich zu einer Assoziation mit den eigenen Lügenmärchen, die er vorhin den Musikzeitschriften und Klatschmagazinen über Shuichi vorgetragen hatte. All das, was er Shuichi anzuhängen versuchte, waren in Wirklichkeit Eigenschaften, die besser auf dessen Vorbild, auf Ryuichi, zutrafen. Zweifelsfrei hatte Ryuichi zwei Gesichter. Ob er sich verstellte oder tatsächlich von einer anderen Persönlichkeit übernommen wurde, war unmöglich zu erraten. Auf den eigenen Vorteil war er mit Sicherheit aus, als er Tatsuha bezirzte, um ihn für seine Sache zu gewinnen, so glaubte dieser jedenfalls. Vermutlich hatten auch die Anspielungen und damit verbundenen Rückschlüsse, die Tatsuha nun unwillkürlich zog, in Ryuichis Absicht gelegen. Was er allerdings mit der ganzen Aktion bezweckte, warum er Shuichi per Telefon terrorisierte und falsche Gerüchte in Umlauf brachte, das ergab nach wie vor keinen Sinn. Fast wirkte es, als würde sich Ryuichi Sorgen machen, auf andere Weise nicht gegen seinen Rivalen anzukommen, obwohl es dazu überhaupt keinen Grund gab. Als Sänger von Bad Luck gehörte Shuichi derzeit zu den vielversprechendsten aufstrebenden Sternchen am Pophimmel. Er war nicht nur der Liebhaber von Tatsuhas Bruder, nicht nur jemand, der eine anziehende Ähnlichkeit mit einer gewissen Person aufwies, sondern gleichermaßen ein Verbündeter und Freund für Tatsuha, zumindest wenn es nach ihrer gemeinsamen Leidenschaft ging. Natürlich war es dreist, geradezu unverschämt, dass Shuichi sich auf einen Wettstreit eingelassen hatte, der ihn quasi auf eine Stufe mit jenem Genie stellte, von dem er einst lediglich eine Nachahmung war. Tatsuha konnte die Entrüstung der Grasper-Fans durchaus nachvollziehen, doch sah er keinerlei Notwendigkeit darin, Shuichi zusätzlich anzugreifen, ihn gar öffentlich zu diffamieren. Zum jetzigen Zeitpunkt würde Bad Luck nicht einmal in hundert Jahren an Nettle Grasper heranreichen, geschweige denn sie besiegen. Ihr Absatz war für einen Newcomer phänomenal, keine Frage. Nüchtern betrachtet verkauften sie bislang dennoch bloß knapp die Hälfte der Platten, die Grasper in derselben Zeit an den Mann gebracht hatte. Diesen Vorsprung aufzuholen war praktisch unmöglich. Da half auch kein Wunder. Tatsuha musste trotzdem zugeben, dass Shuichi kein billiger Abklatsch mehr war. Etwas hatte längst begonnen und nahm unmerklich seinen Lauf. Shuichi hatte sich verändert. „Melodiemalträtierer“, krächzte Ryuichis Stimme durch seinen Gedankengang und holte ihn in die Realität zurück, obwohl sie gar nicht ihm, sondern der Person am anderen Ende der Leitung galt. Es hatte keinen Zweck, Tatsuha musste seinen sich im Kreis drehenden Überlegungen Einhalt gebieten. „Solltest du nicht deiner Arbeit nachgehen?“, fragte er in gespielter Teilnahmslosigkeit. „Und du?“, setzte Ryuichi dagegen, ohne die Augen von seinem Handy abzuwenden. Für ein paar Sekunden schimmerte blauweißes Licht auf seinem Gesicht, bevor das Display des Mobiltelefons erlosch und seine Mimik in schwarze Schatten tränkte. Seufzend klopfte Tatsuha die Asche aus der Kiseru und meinte: „Du bist wie ein kleiner Schuljunge, der die Mädchen ärgert, die er mag, weißt du das?“ „Skandale sind eine gute Werbung“, antwortete es aus der Dunkelheit. „Es gibt keine schlechte Presse.“ Er träumte. Ryuichi träumte wieder von der Tür. Statisches Rauschen. Ein Radio stand auf einem kleinen Podest. „Bei keinem Vorgang kann Energie neu entstehen oder verschwinden“, sagte das Radio. Danach sirrte es hell, als würde jemand am Regler drehen und den richtigen Sender suchen. „Energie kann... austausch... und sich von... in eine andere umwandeln...“ Mal deutlicher, mal unverständlich sprach das Radio zwischen dem Rauschen. „...auf jede Kraft wirkt eine gleichwertige Gegenkraft...“ Unter die Worte mischte sich Musik. Zur Hälfte Gesang und Melodie, zur Hälfte klare, kalte Artikulation. „...die Wirkung größer als... beim Aufprall nicht ausreichend... immense Ambivalenz führt zur totalen Zerstörung...“ Die Musik überwog. Der Regler wanderte weiter, hing nicht mehr zwischen zwei Frequenzen, fand die nächste Stimme und das nächste Wort. „...ist das Individuum in der Lage, durch Selbsthypnose einen Teil seines Ichs abzuspalten...“ Ryuichi ging an dem Podest vorbei zur Reaktion. Es war der Name jener Tür. Im Labyrinth war die Reaktion ein alter Bekannter, der ihm bis heute fremd geblieben war. Weit entfernt, in seinem Rücken, lag das Gegenstück zu dieser Tür. Ein Eingang, den er lange zurückgelassen hatte. Hinter sich gelassen hatte. Ein Eingang. Oder Ausgang? Die vergangene Tür war sein eigener Weg, seine eigene Aktion, die ihn hier einschloss. Ihn jedes Mal unentwegt im Innern einschloss, bevor ihm ein neuer Weg nach außen ermöglicht wurde. Ohne Ursache keine Wirkung. Alle waren verschwunden. Sie warteten nicht mehr auf den Hindernissen. Sie liefen ihm nicht mehr nach. Sie hielten ihn nicht auf. Wenn er durch die Tür, durch die Schwärze, durch die Reaktion nach außen trat, war er vielleicht ein Anderer. War er vielleicht ein Fremder. „Komm zurück.“ Die Aufforderung klang forsch. „Komm zu dir.“ Kein Licht drang auf die Netzhaut hinter seinen zuckenden Lidern. „Komm zu mir.“ Ein dünner Schweißfilm bedeckte seinen Körper und ließ ihn frösteln, obwohl es warm war. „Wach auf.“ Orientierungslos schaute er in liegender Position an eine dunkle Zimmerdecke. Er wusste nicht, wo er war. Die graue Finsternis verriet ihm, dass es noch Nacht sein musste, doch fühlte er sich nicht aus dem Schlaf gerissen, sondern relativ ausgeruht, als wäre er zeitig zu Bett gegangen und früh eingeschlafen. Er hörte leises Murmeln, Schritte hinter Wänden und Türen, ein Rumpeln wie von kleinen Wagenrädern, die über Teppichboden gezogen wurden, Schränke, die geschlossen, Handtücher, die ausgeschüttelt wurden. Und das Atmen eines Menschen in direkter Nähe. An seinem Futon kniete eine Person und beugte sich über ihn. „Ich wollte dich nicht wecken.“ Das Gesicht konnte er nicht sehen, aber die Stimme kam ihm vertraut vor. Ein merkwürdiger Unterton, weder sanftmütig noch kühl. Irgendwie bedrohlich. Auf seiner Kehle verstärkte sich der Druck einer Hand. „Lieber wäre mir, du würdest auf ewig schlafen.“ Mit Entsetzen erkannte er das kaltblütige Lächeln auf Sakumas Lippen, als der Griff um seinen Hals ihm die Luft abschnürte. „Hey, wach endlich auf!“ Verwirrt schaute Ryuichi in das besorgte Gesicht von Tatsuha, der ihn energisch rüttelte. Am Kopfende des Futons war die Papierlampe eingeschaltet und erhellte schwach den Raum. „Ist alles in Ordnung?“ Tatsuha musterte ihn eingehend. „Was hast du eben gesagt?“, wollte Ryuichi zerstreut wissen. „Was ich...? Ich meinte, ich wollte dich lieber schlafen lassen, aber du hast offenbar schlecht geträumt. Du warst unruhig, bist ganz verschwitzt, außerdem...“ Fürsorglich strich Tatsuha ihm über Stirn und Wangen, ohne seine Aussage fortzusetzen. „Meine Augen sind schmutzig“, erklärte Ryuichi geistesabwesend, als ihm auffiel, dass er geweint hatte. Sie befanden sich in einem Hotelzimmer irgendwo in Kyoto. Ryuichi erinnerte sich wieder, an die Flucht aus dem Tempel, an das Ryokan und seinen Lärm. Draußen war es gar nicht mehr so dunkel, wie er anfangs gedacht hatte. Das Personal schien schon auf den Beinen zu sein, um diverse Vorbereitungen für den Morgen zu treffen. In der Luft verging langsam die Stille der Nacht. „Lag es an deinem Traum?“, erkundigte sich Tatsuha sanft. Ryuichi konnte sich nicht erinnern. Es kam ihm vor, als hätte er einen Traum gehabt, in welchem seine Freunde sich gegenseitig umbringen mussten. „Nein, es war nur der Schmutz“, versicherte er und wischte sich über die Augen. „Dafür sind Tränen schließlich da, um sich von allem zu befreien und reinzuwaschen.“ „Reinwaschen?“, wiederholte Tatsuha leise. „Wovon?“ „Von allem, was den Menschen belastet. Angst, Schmerz, Trauer, dem ganzen Unrat eben.“ Ryuichi sprach fröhlich und fremd. „Ich versuche, mir das Spiegellicht vom Gesicht zu waschen.“ Zum Glück hatte Sakuma es diesmal nicht geschafft. Lärm und Stille waren nicht genug, um ihn ausbrechen zu lassen. Seine wahre Hypnose war die Musik. Ryuichi ignorierte den stechenden Blick von Tatsuha, der anscheinend etwas dazu sagen wollte, sich dann aber dagegen entschied und stattdessen meinte: „Es ist nach fünf Uhr, das Onsen hat bereits offen. Lass uns ein richtiges Bad nehmen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)