Fortissimo von halfJack ================================================================================ Kapitel 1: 1. Satz: Recitando ----------------------------- Fortissimo 1. Satz: Recitando (frei vortragend, ohne strikte Einhaltung des Taktes, rezitierend) Ryuichi starrte durch den Spiegel auf das Bild dahinter. An den Seiten war das Glas leicht schmutzig. Er betrachtete sein verkehrtes Ich. Unter den Augen, die halb von seinem Haar verdeckt waren, lagen dunkle Ringe. „Please help me...“, flüsterte er zu seinem Spiegelbild. Etwas rann feucht seine Wangen hinab und brannte auf der überreizten Haut. Seine Augenbrauen zogen sich schmerzlich zusammen, als seine kalte Hand gegen das Glas schlug, genauso wie sein heißer Atem. Schwach glitt seine Faust an der glatten Fläche hinab. Er lehnte die erhitzte Stirn gegen den Spiegel. „Please help me“, sang Ryuichi leise, während jeder Atemzug einen schnell schwindenden Schleier hinterließ, „if you consider me to be your burden...“ Das spärliche Licht im Raum schien von der durch das Fenster eindringenden Dunkelheit verschluckt zu werden. „I will say so long anytime...” Der leise Gesang verlor sich im Raum, bis Ryuichi verstummte, seine Tränen versiegten. Er sah sich ins Gesicht. Schließlich rang er dem Anderen ein Lächeln ab, sodass sein Spiegelbild ihm zuzwinkerte. Einen langen Augenblick stand er nur reglos da und nahm das freundliche Grinsen der Person ihm gegenüber in sich auf. Dann wandte er sich ab. Mit unsicheren Schritten ging er auf das Bett zu und ließ sich auf den unangenehm weichen Stoff des Bettbezugs sinken. Ryuichi griff nach dem Stoffhasen, der auf dem Kopfkissen lag, und drückte ihn an seinen Körper. Er roch den alten Geruch von zerfledderter Vergangenheit. Es beruhigte ihn. Noch immer lag das Lächeln auf seinen Lippen. Er fiel zurück. Mit dem Gesicht zur Decke gewandt lag er auf dem Bett. Im Zimmer war es völlig still, als er flüsternd sang: „Please help me...” Kumagoro sagte: „Du musst keine Angst haben. Ich bin schließlich bei dir. Das werde ich immer sein.“ „Nein, wie kann ich mir sicher sein, dass du mich nicht allein lässt? Ich will nicht allein sein.“ Kumagoro versicherte: „Das wirst du auch nicht. Schließlich bin ich da. Und Sakuma ist auch bei dir, kleiner Ryuichi.“ „Aber er ist viel stärker als ich.“ Kumagoro fragte: „Du meinst Sakuma?“ „Ja.“ Kumagoro meinte: „Er muss auch stärker sein, damit er dich beschützen kann. Schließlich kannst du dich nicht selbst beschützen. Du brauchst uns.“ „Ich will ich bleiben.“ Kumagoro tröstete: „Wozu? Wenn du dich uns überlässt, dann bist du immer in Sicherheit. Dann kann dir niemand wehtun, kleiner Ryuichi.“ „Ich will stark sein...“ Kumagoro lachte: „Das bist du aber nicht.“ Tatsuha lag mit dem Bauch auf den Tatami am Boden, den Kopf zur Seite gewandt. Er starrte auf die Schachfigur, die einen halben Meter entfernt vor seinem Gesicht lag. Ein Bauer. Er griff danach und stellte die Figur auf. Während er sie fixierte, verschwammen in seinem Blick die Gegenstände im Hintergrund. Erneut hob er die Hand und stieß mit seinem Finger leicht gegen den Kopf des Bauern. Ein Grinsen huschte über sein Gesicht, als die Schachfigur umfiel. „Letztens hat Shindo-san zusammen mit Nakano-san sein erstes Konzert gegeben“, meinte Ayaka traurig und nach einer längeren Pause: „Ich war dort, mit Eiri-san. Hat er dir davon erzählt?“ „Interessiert mich nicht“, antwortete Tatsuha nur. „Du warst nicht da, oder?“, fragte sie zurückhaltend. „Ich dachte, du magst Shindo-san.“ „Doch nur, weil er meinem Ryuichi so ähnlich ist.“ Ayaka schwieg eine Weile. Dann sagte sie mit ein wenig Wut in der Stimme: „Warum müsst ihr alle auf Männer stehen? Dafür sind wir Frauen da. Das ist doch abnormal. Auch Shindo-san hat es einfach gesagt, dass er Eiri-san liebt. Und ihm wird mehr Gefühl entgegengebracht... als mir.“ Nun war es an Tatsuha, zu schweigen. Ayaka seufzte. Schließlich fuhr sie fort: „Auch wenn dir Shindo-san egal ist, Sakuma-san war ebenfalls dort. Er hat...“ „Was!?“, unterbrach Tatsuha sie. „Ja“, sagte Ayaka und schaute verwundert zu ihm auf. „Er hat mit ihm im Duett gesungen.“ „Verdammt.“ Warum hatte ihm das niemand gesagt? Tatsuha beschloss, Shuichi dies selbst zu fragen. Die Nacht war kalt. „Er hat euch rausgeschmissen?“, fragte Noriko, als sie Tatsuha mit Shuichi und Mika auf der Straße traf. Mika begann sich lautstark darüber aufzuregen, dass Eiri sie vor die Tür gesetzt hatte, nur weil Tatsuha es für nötig gehalten hatte, bei ihm nach Shuichi zu suchen und dabei seine Arbeit zu vernachlässigen. Doch das spielte keine Rolle. Tatsuhas Herz raste, als Noriko die drei mitnahm. Mitnahm, um die anderen Mitglieder von Nettle Grasper zu treffen. „Guten Abend, allerseits!“ Noriko setzte sich erfreut zu Toma und Ryuichi, während Shuichi neben ihr Platz nahm. „Hi“, war das erste Wort, das Tatsuha persönlich von Ryuichi hörte. Der erste Blickkontakt war für beide ein Schlag ins Gesicht. Nimm dich in Acht, sagte Sakuma in Ryuichis Innerem. Der gehört mir, hallte es in Tatsuha wider. „Guten Abend, Sakuma-san. Ich bin ein großer Fan von...“ Der erste Schritt, um einen anderen Menschen seiner Kontrolle zu unterwerfen, dachte Tatsuha, ist, ihn zu belügen. Verhalte dich nicht so, wie du bist, sonst wirst du angreifbar. „Stimmt ja“, meinte Noriko jetzt, „du musst wieder zurück nach L.A., nicht wahr, Ryu-chan?“ „Genau“, antwortete dieser, „aus irgendeinem Grund kann ich da am besten arbeiten.“ Tatsuha biss die Zähne aufeinander. Er musste die Aufmerksamkeit wieder auf sich lenken. „Bevor Sie zurückfliegen“, wandte er sich an Ryuichi, „müssen Sie unbedingt mal zu mir kommen.“ „Klar! Mach ich glatt!“ Angebissen. Ryuichi war leichte Beute. „Sie wohnen also in L.A.?“, fuhr Tatsuha fort. „Das passt zu Ihnen, Sakuma-san.“ Für einen Augenblick flackerte etwas in Ryuichis Augen auf, das Tatsuha nicht definieren konnte. Es kam ihm jedoch so vor, als hätte der andere Mann ihn durchschaut. Ein eiskalter Schauer lief Tatsuha den Rücken hinab. Er musste den Sänger von den anderen Anwesenden weglocken. Ryuichi sollte ihm vollkommen ausgeliefert sein. „Ist dir noch schlecht?“, fragte Ryuichi, legte seine kühlende Hand auf Tatsuhas Stirn und fuhr dann dessen Wange hinab. Durch das Nachtlokal wehte das Lachen der benachbarten Tische, die von der Ecke abgetrennt waren, in die sich die beiden Männer zurückgezogen hatten. „Nein, es geht schon“, antwortete Tatsuha und nahm Ryuichis Hand in seine eigene. Alles schien still um sie herum zu werden, ganz leise. Die Stimmen im Inneren der beiden blieben für sie allein hörbar. Sei vorsichtig, grollte Sakuma im Ohr des Sängers, er ist gefährlich. Doch Ryuichi hörte nicht darauf. Es war nicht viel nötig gewesen, um den förmlichen Ton abzulegen. Rasch hatte Tatsuha es geschafft, ihren Umgang miteinander auf eine freundschaftliche Basis zu heben. Vom Aufenthalt in Amerika war Ryuichi körperliche Nähe gewohnt und nahm sie bedenkenlos hin. Zeit für den nächsten Schritt. „Hast du heute Abend schon etwas getrunken?“, fragte Tatsuha und rückte ein Stück näher an ihn heran. Das war die perfekte Gelegenheit, vertraulicher mit seinem Opfer umzugehen. „Ein wenig“, antwortete Ryuichi grinsend. „Kommt drauf an, was du meinst.“ „Alkohol natürlich.“ Ryuichis Grinsen wurde breiter. Er entzog Tatsuha seine Hand und sagte: „Das ist wohl kaum etwas für kleine Jungen wie dich.“ „Ach?“ Tatsuhas Stimme klang verstohlen und er legte den Arm auf die Lehne hinter Ryuichi. „Woher willst du wissen, wie alt ich bin?“ „Kaum achtzehn Jahre, schätze ich. Obwohl deine Augen manchmal etwas anderes verraten. Man sieht es dir trotzdem an.“ Tatsuha antwortete nicht. Aufgrund dieser Aussage zerfraßen ihn Wut und Überheblichkeit, die man jedoch nicht in seinem Gesicht sehen konnte. Er näherte sich Ryuichi weiter und legte ihm eine Hand auf den Schoß. Sofort drückte dieser Kumagoro zwischen sie. „Na na, wer wird denn...“, sagte Ryuichi und lachte dabei verlegen. „Was soll eigentlich dieser Stoffhase?“, fragte Tatsuha und erwiderte das Lächeln, wobei er keinen Zentimeter zurückwich. „Er sagt mir, dass ich auf mein zweites Ich hören soll.“ „Und was sagt dein zweites Ich?“ Tatsuha griff nach Kumagoro, nahm ihn unsanft aus Ryuichis Händen und warf ihn hinter sich auf die Polster der Sitzecke. „Ich kann ihn dir gern geben, wenn du möchtest.“ „Wovon sprichst du?“, fragte Tatsuha, doch im nächsten Moment hatte sich Ryuichis Gesichtsausdruck schlagartig verändert, wurde ernst und unnahbar. „Davon, dass du um einiges zu grün hinter den Ohren bist, um mich anzumachen.“ Damit stieß er Tatsuha von sich und stand auf. Die Geräusche in ihrer Umgebung schienen plötzlich wieder zu ihnen durchzudringen. Ryuichi langte nach Kumagoro. „Schönen Abend noch, Tatsuha-kun“, verabschiedete er sich mit einem breiten Lächeln. Dieser lächelte kühl zurück. Jetzt wusste er, was sein Idol für ihn so anziehend gemacht hatte. Dieses Spiel konnte lustig werden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)