Die vier Phasen von JinShin ================================================================================ Kapitel 8: In Laurins Blick --------------------------- Ich hatte immer ein mulmiges Gefühl, wenn ich das riesige Haus von Monsieur Remarque betreten musste. Das hatte nichts mit dem Gebäude selbst zu tun, als vielmehr mit dem Mann, der es bewohnte. Eigentlich war es egal, wo ich ihm begegnete. Diesen Mann umgab einfach eine furchterregende Aura. Eine Aura, die mich an Schnee denken ließ, Schnee, der blau im Vollmond schimmert. Der Blick aus seinen Augen durchdrang einen bis tief ins Mark, und ich war stets froh, dass ich ihn nicht erwidern musste. Ich blieb dicht bei Raven, meinem Herrn, und hielt den Kopf gesenkt, wie es von mir erwartet wurde, und Raven schien wie immer mein Unbehagen deutlich zu spüren und legte warm und beruhigend seine Hand auf meine Schulter. Ich wusste, er hätte mir diese Abende gern erspart. Doch Monsieur Remarque ließ keinen Zweifel daran, wie sehr er meine Anwesenheit und vor allem mein Flötenspiel nach dem Essen zu schätzen wusste. Und wenn Monsieur Remarque etwas wollte, dann bekam er es auch. „Tu es mir zuliebe“, sagte Raven dann zu mir, obwohl ich gar nicht „nein“ gesagt hatte. „Ich möchte den Monsieur nicht verärgern.“ Das hätte ich nie gewagt. Monsieur Remarque gehörte alles: das Haus, in dem wir wohnten, das Land, so weit das Auge reichte, das Labor und all die Menschen, die in den Kellern darunter lebten. Früher, als ich noch klein war, dachte ich, dass selbst Raven und die anderen Angestellten dem Monsieur gehörten. Erst später begriff ich langsam, dass es noch andere Abhängigkeitsverhältnisse gab als das zwischen Meister und Sklave. Unwillkürlich wich ich zurück, als die Männer sich freundschaftlich mit Küssen auf die Wange begrüßten. Nie vergaß ich, wen ich da vor mir hatte, egal, wie herzlich sein Umgang mit Raven war und egal, wie vornehm er sich auch verhalten mochte. Monsieur Remarque war bei allen Sklaven gefürchtet, und es kursierten schreckliche Geschichten darüber, was in seiner Privatvilla alles mit einem geschehen konnte. Es hieß, er habe eigens einen Folterkeller eingerichtet, um jedes Fehlverhalten grausam bestrafen zu können. Mir war nur zu bewusst, dass Raven mein einziger Schutz vor diesem mächtigen Mann war - allein sein Besitzanspruch auf mich bewahrte mich davor, dass Monsieur Remarque über mich bestimmen konnte. Im Speisesaal schmiegte ich mich sofort Schutz suchend an Ravens Bein, nachdem sie an dem großen, festlich gedeckten Speisetisch Platz genommen hatten. Ich kniete unter dem Tisch zu Ravens Füßen auf dem harten Steinfußboden. Raven verlangte ein Kissen für mich. Wie jedes Mal. Es war wie ein Spiel. „Du verwöhnst den Jungen zu sehr“, sagte Monsieur Remarque, aber er schickte die junge Frau, die den Wein einschenkte, nach dem Gewünschten. Sie hieß Florence. Ich mochte es nicht, wenn der Monsieur über mich sprach. Schon als Kind hatte er mir rasende Angst gemacht, einfach durch seine Anwesenheit. Und immer noch verspürte ich in seiner Gegenwart den Drang, mich an Raven festzuklammern. Oft konzentrierte ich mich nur auf den vertrauten Tenor von Ravens Stimme und auf seine Fingerspitzen, die immer wieder liebevoll mit meinem Haar spielten und mir damit Schutz und Verlässlichkeit versprachen, anstatt der Unterhaltung der Herren zu folgen. Florence brachte das Kissen, und kurz darauf kam Ivan und führte an einer langen Kette einen mir unbekannten Mann herein. Das musste der neue Sklave von Monsieur sein! Ich hielt die Luft an, als ich ihn sah, zum ersten Mal die fremdländischen Züge mit den schmalen, leicht schrägstehenden Augen musterte. Märchenhaft wirkte er, ein feingliedriger Mann, doch voller Spannkraft, und sein glattes Haar war schwarz wie die Nacht und fiel ihm in Strähnen in die Stirn. Gespannt hob sich mein Kopf, um ihn besser betrachten zu können. Er erinnerte mich an jemanden, obwohl er so fremd aussah, aber ich kam nicht gleich darauf, an wen. Ich merkte ihm an, dass er Angst hatte, obwohl er sehr aufrecht ging. Aber was Gefühle anging, konnte mich keiner so leicht täuschen. Seine Handgelenke waren mit einer glänzenden, schwarzen Kette gefesselt, und in jeder Hand hielt er eine dicke weiße Kerze. Gekleidet war er in einen schwarzen, schmal geschnittenen Samtmantel mit einem sehr tiefen Ausschnitt, dessen Saum elegant jeden Schritt umwehte. Darunter trug er lediglich eine hautenge, knielange Hose aus dem selben Material. Die nackte Brust, Hals und Gesicht waren von feinem Goldglitzer überzogen, dazu der edle Schwung der Augenbrauen, die hohen Wangenknochen, die flache, schmale Nase, die vollen, schönen Lippen, und er sah tatsächlich fast wie ein Fabelwesen aus. Wo hatte Monsieur Remarque ihn nur her? Wo lebten solche Menschen? Ich wusste, er hatte ihn aus Deutschland mitgebracht. Raven hat mir davon erzählt, denn er hatte ihn damals untersucht. Aber die Sklaven in dem Labor und in den Ställen kamen auch größtenteils aus Deutschland; ich kam aus Deutschland, und dennoch hatte ich noch nie jemanden wie ihn gesehen. Ich war nicht in der Lage, meine Augen von ihm zu lösen. Ich beobachtete, wie Ivan ihn am Halsband quer durch den Raum dirigierte und etwas entfernt von uns in der Ecke postierte, und sofort tat er mir leid, als ich sah, wie er vor den großen Händen des hünenhaften Ivan einen halben Schritt zurückwich. Ivan sah auch wirklich furchterregend aus mit seinen kurz geschorenen Haaren und den zwei wulstigen Narben, die von seinem Mundwinkeln aus in die Wangen schnitten und seiner Miene stets ein verzerrtes Grinsen verliehen. Er diente schon seit Jahrzehnten in diesem Haus, länger als jeder andere, und das hatte natürlich nicht nur Spuren an seinem Körper hinterlassen. Er zerrte die zierlichen Hände von dem Mann in die gewünschte Position und entzündete die Kerzen. Dann verschwand er lautlos. Wie immer streifte mich sein Blick wie beiläufig, und wie immer schenkte ich ihm ein kleines Lächeln. Ivan lächelte nie. Aber manchmal nickte er mir zu. Er war kein schlechter Mensch. „Na, habe ich dir zu viel versprochen? Gibt er nicht einen vorzüglichen Kerzenständer ab? Und warte erst, bis du ihn tanzen siehst!“ sagte der Monsieur mit unverkennbarem Besitzerstolz in der Stimme. Mir schien, er sprach extra laut, damit der „Kerzenständer“ ihn auch verstehen konnte. Und seine Worte hatten tatsächlich eine Wirkung, denn der Körper des exotischen Mannes versteifte sich, und er hob ein wenig den Kopf – was seinem Blick einen herablassenden Ausdruck verlieh. Noch nie hatte ich einen Sklaven mit einem solchen Blick gesehen! Fast schon hochmütig schaute er zu uns herüber, und für einen Moment fingen meine Augen die seinen und mir schlug eine solche Feindseligkeit entgegen, dass mir kalt wurde. Dennoch verlor er nichts von seiner magischen Faszination auf mich. Und plötzlich wusste ich, woher ich ihn kannte: der kleine Elfenjunge aus der Anderswelt, der in einer Muschel wohnte, und mit dem ich als Kind gespielt hatte: Natica. Raven antwortete dem Monsieur zustimmend, aber wirkte dabei ein wenig geistesabwesend. Auch seine Augen ruhten auf dem Neuen. Florence kam zurück und trug das Essen auf – dampfende, köstlich duftende und schwer beladene Teller, die sie geschickt auf der Tischplatte verteilte und dabei jedes Mal einen höflichen Knicks machte. Sie war groß und schlank, hatte die braunen Haare stets zu einem Knoten gebunden, und ich mochte ihre runden, dunklen, sanften Augen. Raven sorgte immer dafür, dass ich zu Hause gut gegessen hatte, denn es war nicht statthaft, dass ich mit den Herren speiste. Trotzdem ich also satt war, genoss ich normalerweise die kleinen leckeren Happen, die Raven mir während des Mahls nach unten reichte. Doch heute nahm ich den Geschmack kaum wahr. Unruhig beobachtete ich, wie die Kerzen in den schlanken Händen leicht zu zittern begannen – mit der Zeit wurde die unbewegte Haltung anstrengend, und die Kerzen wurden zentnerschwer, obwohl sie nicht viel wogen. Natica starrte wie gebannt auf den reich gedeckten Tisch, und ich nahm an, dass er vorher nicht so gut versorgt worden war wie ich. Ich schloss die Augen, um besser sehen zu können. Die Angst hüllte ihn ein wie ein blauer Umhang. Das hatte ich ja schon gespürt. Hass tropfte dunkel und schwarz an ihm herab, aber da war noch etwas anderes, etwas Lichtes. Ein grüner Schimmer, der ihn von innen strahlen ließ. Um seinen Fuß war eine Kette, an der ein schwerer Anker hing. In seiner Hand hielt er einen Kompass. Ich war ein wenig enttäuscht, dass da keine spitzen Elfenohren und keine Muschel waren. Meine Fußsohlen brannten, und in meinem Po begann ein dumpfer Schmerz zu klopfen. Die Muskeln in meinen Armen krampften sich zusammen. Kurz bevor ich die Augen wieder aufriss, meinte ich, eine große, schemenhafte Gestalt neben ihm zu sehen, irgendein Tier. Doch dann war es schon zu spät, und ich war wieder in der alltäglichen Wirklichkeit. Mist. Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, aber inzwischen hatte sich leichter Schweiß über Naticas Stirn gelegt. Die Anstrengung zog seine Augenbrauen zusammen. Ich konnte nicht mehr still sitzen. Vorsichtig zupfte ich an Ravens Hose. „Bitte“, wisperte ich kaum hörbar. „Darf ich zu ihm?“ Raven drückte kurz meine Schulter als Zeichen, dass er verstanden hatte. Er wartete auf eine Pause im Gespräch, dann sagte er zu dem Monsieur: „Mein Kleiner hat Mitleid mit deinem Neuen. Du weißt ja, wie sensibel er ist. Gestattest du, dass er zu ihm geht?“ „Meinetwegen“, antwortete der Monsieur gutmütig. Ich wartete Ravens Erlaubnis kaum ab, schon war ich auf den Beinen. Natica blickte mir misstrauisch entgegen und wich einen Schritt zurück. Eine Kerze neigte sich bedenklich, als er so abgelenkt wurde, und ich sah schon das Wachs auf das Parkett tropfen. „Vorsicht!“ sagte ich und streckte hilfsbereit die Hand aus, um die Kerze wieder in die Senkrechte auszurichten. Doch er zuckte zurück, und ein ganzer Schwall flüssigen Wachses schwappte auf den Fußboden. „Pass doch auf“, wurde ich leise angefaucht, und seine Augen funkelten mich zornig an. Ich spürte, wie meine Wangen rot wurden. „Entschuldigung“, murmelte ich verlegen. „Ich will dir nur helfen.“ „Tolle Hilfe“, knurrte er, und ich sah, wie seine Augen dabei ängstlich in Richtung des Hausherrn huschten. Ich hatte das Gefühl, als würde der Boden unter mir schwanken, als mir bewusst wurde, dass er dafür bestraft werden könnte – und jeder wusste, dass Monsieur Remarque Spaß daran fand, Menschen leiden zu lassen. Ich dachte an die getuschelten Gerüchte über den Folterkeller. Das hatte ich nicht gewollt! Trotz meiner eigenen Angst, drehte ich mich wie in Zeitlupe herum und ging einen tapferen Schritt auf den Monsieur zu, bevor ich mich auf die Knie sinken ließ. Dabei war mir nur allzu bewusst, dass ich jetzt seine volle Aufmerksamkeit genoss – seine blauen Augen brannten sich förmlich in meine Haut, auch wenn er eher neugierig als wütend wirkte. Jetzt bloß nicht nachdenken, sonst würde ich nie zu Ende bringen, was ich da angefangen hatte! Mein Herz pochte wie wild in meiner Brust, als ich den Oberkörper tief nach vorne neigte, bis meine Stirn den kalten, harten Boden berührte. „Verzeiht, Herr. Das war meine Schuld. Bitte bestraft mich dafür“, sagte ich, und meine Stimme klang ganz zittrig und quietschend, obwohl ich mich zwang, laut und deutlich zu sprechen. Das geschah seit einiger Zeit öfter, dass meine Stimme so merkwürdig verrutschte, und Raven hatte mir erklärt, dass das der Stimmbruch sei. Ich hoffte, dass das bald vorbei sein würde! Die Sekunden schienen sich auszudehnen, während ich hinter mir deutlich die kurzen Atemzüge des anderen Sklaven hören konnte. Vor mir, zwischen den beiden Herren, baute sich eine spannungsgeladene Atmosphäre auf, die mich an ein Gewitter denken ließ. Leider war ich sozusagen der höchste Punkt und damit der Blitzableiter. Ich wappnete mich innerlich gegen den Einschlag. Der jedoch überraschenderweise nicht kam. „Für deine Bestrafung ist einzig dein Herr zuständig, Laurin.“ Monsieur Remarque klang ruhig und gelassen, in seinen Worte schwang ein Lächeln mit. Damit löste er auf einen Schlag diese knisternde Stimmung auf, und mir war, als würde eine Last von den Schultern genommen. Doch dafür trafen mich Ravens darauf folgende Worte wie ein Eisregen, so durchdrungen waren sie von kaltem Zorn: „Das wartet, bis wir zu Hause sind. Dann wirst du dich für dein Vergehen verantworten. Jetzt kniest du dich erst mal zur Wiedergutmachung vor Toshio auf den Boden und bist ihm dabei behilflich, die Kerzen ruhig zu halten!“ „Ja, Herr“, sagte ich zerknirscht und rutschte gehorsam zurück an den Ort des Geschehens. Von Ravens Tonfall einmal abgesehen, war das streng genommen zunächst überhaupt keine Strafe – das war doch genau das, was ich vorgehabt hatte! Im Gegenteil. Dadurch, dass er mir diese Anweisung gegeben hatte, wusste nun auch Natica, von dem ich jetzt gleichzeitig seinen richtigen Namen kannte, was zu tun war. Ein warmes Gefühl erfüllte mein Herz bei diesen Gedanken. Auf Raven war einfach immer Verlass! Er tat immer alles in seiner Macht stehende, um zu helfen. Jetzt kniete ich vor dem hübschen Sklaven, doch noch immer war er unsicher und ließ seine Hände frei über meinen Schultern schweben. Ich sah, wie der Monsieur ihm zunickte, und erst danach spürte ich, wie er seine Unterarme auf mir ablegte. Er seufzte leise vor Erleichterung, und das entschädigte mich für die Schmerzen, die sich sehr schnell in meinen Knien einnisteten. Jetzt vermisste ich das Kissen, das mir Raven normalerweise zugestand. Zum Glück war das Mahl der Herren bereits beim Nachtisch angelangt, denn sehr lange würde ich diese unbequeme Haltung auf dem harten Fußboden wohl nicht aushalten, ohne die nächste Katastrophe herbei zu führen. Aus meinen Augenwinkeln sah ich das Flackern der Kerzenflammen neben meinem Gesicht, und die Kette, die sich von Handgelenk zu Handgelenk spannte, drückte kühl in meinen Nacken. Die beiden Herren ließen sich die Süßspeise schmecken, und immer wieder sahen sie dabei zu uns herüber. Monsieur Remarque hatte ein genüssliches Lächeln auf den Lippen, das mir eine Gänsehaut verursachte, Ravens Blick dagegen war ernst und nachdenklich. Immer, wenn ich die beiden nebeneinander sah, fiel mir auf, wie unterschiedlich sie doch waren. Der Monsieur hatte eine helle Haut, helle Haare, helle Augen. Dafür ein finsteres Gemüt und diese furchterregende Ausstrahlung. An Raven war alles anders, angefangen bei dem kurzgeschnittenen, dunkelbraunen Haar, den braunen Augen, die mich so warm anschauen konnten, und selbst seine Haut war um einige Nuancen dunkler. Raven war auch groß und stark, aber etwas kleiner, etwas schmaler als der mächtige Franzose. Und er lächelte häufiger und war nett zu den Sklaven, nicht so kühl und befehlend wie der Monsieur. Ich versuchte, mir vorzustellen, was für ein Bild wir beiden Sklaven wohl abgeben mochten. Wir mussten ähnlich kontrastreich aussehen – Toshios schwarze, glatte Haare und die schwarze Kleidung, und ich mit meinem goldgelben Haar, der hellbraunen Leinenhose und dem beigefarbenen Hemd. Wie mochte Toshios Gesichtsausdruck jetzt sein – etwas weniger angespannt? Und meiner? Langsam gelang es mir nicht mehr, mich von der qualvollen Haltung abzulenken, aber wieder rettete mich Raven: „Wo soll er denn tanzen? Im Salon? Dann können wir den Kaffee doch dort trinken, was meinst du?“ Der Monsieur scheuchte also Florence mit dem Kaffee wieder fort, und wir zogen um in den Salon. Dabei musste mich Raven stützen, sonst wäre ich wohl bei den ersten Schritten gestürzt, so steif und taub fühlten sich meine Beine an. „Das ist dir hoffentlich eine Lehre“, raunte er mir ins Ohr, und ich nickte reumütig. Der Salon war ein sehr großer Raum mit einer breiten Fensterfront, die auf die Terrasse führte und normalerweise, wenn es hell war, den Blick auf den Garten freigab. Jetzt waren die Fenster dunkel. Seit wir das letzte Mal hier gewesen waren, war umgeräumt worden. Alle Möbel waren entfernt bis auf die Schrankwand, hinter deren Türen ich eine Bar und eine Musikanlage inklusive Schallplatten und CDs wusste, und einige Sessel, die neben hochbeinigen Beistelltischen an der Wand aufgereiht waren. Dort erwartete die Herren schon der duftende Kaffee, und Raven ließ sich in einen der Sessel sinken und zog mich zu sich auf den Schoß. Ich kuschelte mich an seine Brust, überließ mich der Trost spendenden Umarmung und beobachtete, wie Toshio die Handfesseln und die Halskette abgenommen wurden. Vorsichtig stellte er die Kerzen an die Seite, während sich der Monsieur zu uns setzte, und dann begab er sich in die Mitte des Raumes, wobei er mit jedem sorgsam auf den Boden gesetzten Schritt ein Stück Angst und Unbehagen abstreifte und dafür an Selbstsicherheit gewann. Atemlos beobachtete ich diese Verwandlung. Wie eine Raupe, die zum Schmetterling wird, dachte ich, und dieser Eindruck verstärkte sich noch, als er anfing, seine Glieder zu lockern und in äußerst eleganten Bewegungen zu strecken. Als würde er seine Flügel ausbreiten. Ab und an streifte sein Blick über uns, und einen Moment verharrte er auf mir. Wenn ich aber gehofft hatte, dass er mir jetzt mit etwas mehr Freundlichkeit oder mit Dankbarkeit begegnen würde, hatte ich mich getäuscht. Die Verachtung, mit der er mich betrachtete, ließ mich frösteln. Ich war froh, als er sich in Pose stellte, seitlich zu uns, einen Arm nach oben gereckt, den anderen locker herunter hängend, den Kopf leicht geneigt und die Augen geschlossen. Bildschön sah er aus. Monsieur Remarque sagte: „Such dir etwas aus, wozu er tanzen soll.“ Raven überlegte kurz und sagte dann: „Die Moldau. Von Smetana.“ „Oh. Okay.“ Der Monsieur wirkte überrascht und stand noch einmal auf, öffnete die Schranktür und legte eine CD ein. Dann kam er zurück und startete die Musik mit der Fernbedienung. Und was dann kam, werde ich nie vergessen. „Die Moldau“ kannte ich natürlich. Sehr gut sogar. Raven hatte mir früher, als ich noch klein war, eine CD geschenkt, wo das Stück drauf war mit Erklärungen für Kinder, wovon die Musik handelte. „Die Moldau ist ein Fluss. In einem Fluss fließt Wasser...“ Ich hatte sie so oft gehört, dass ich sogar den Text noch auswendig konnte. Aber das, was Toshio daraus machte, hatte ich noch nie gesehen. Sein Körper wurde zu Wasser – er war wie ein Gefäß, das die Musik aufnahm und dann Bewegung daraus machte. Erst bewegten sich nur seine Finger zu der leisen Flötenmelodie, die das Quellwasser, das feine Plätschern des Wassers darstellte. Mit dem Einsetzen der Streicher weitete sich die Bewegung auf die Arme aus, und schließlich setzte er die Füße vorwärts, seitwärts, im Kreis, und sein ganzer Körper bog und streckte sich wie Wellen, und als die Musik an Kraft zunahm mit den Bläsern, sprang und drehte er sich, und ich war so gebannt von seiner Darstellung, das ich alles um mich herum vergaß. Ich wusste nicht, dass Menschen sich so bewegen konnten. Sein Körper sah aus, als seien keine Knochen in ihm, und er war von einer Anmut erfüllt, dass er den Boden kaum mehr zu berühren schien. Erst als die Musik endete, erkannte ich am deutlichen Heben und Senken seines Brustkorbes, wie Kraft zehrend diese Bewegungen voll scheinbarer Leichtigkeit gewesen sein mussten. „Hat es dir gefallen?“ fragte der Monsieur. „Großartig.“ Ich hörte an Ravens Stimme, dass er ehrlich beeindruckt war. „Wähle noch ein Musikstück. Er kann zu allem tanzen!“ Raven probierte noch ein paar Stilrichtungen, sogar ein Heavy Metal-Lied war dabei, und Toshio zeigte uns tatsächlich zu jedem einzelnen wundervoll ausdrucksstarke und genau zu der unterschiedlichen Musik passende Darbietungen. Und obwohl ihm bald der Schweiß hinab lief vor Anstrengung, hatte sein Gesicht dabei einen friedlichen, ja fast glücklichen Ausdruck. Ich hatte den Eindruck, die Musik trug ihn weit, weit fort von uns. Dann hörte ich meinen Namen. Raven beugte sich an mein Ohr: „Spiel etwas!“ Ich nickte und rutschte von seinem Schoß. Meine Flöte steckte in einer eigens für sie eingenähten Innentasche meines Hemdes, so dass sie stets schon vorgewärmt und einsatzbereit war. Ich hatte mich für die Chalumeau entschieden, weil ich ihren tiefen, satten Klang so gern mochte. Ich griff das Thema der Moldau noch einmal auf – seltsam war es, dass Raven sich gerade dafür entschieden hatte. Natica aus der Muschel, der Anker, den ich an Toshios Fuß gesehen hatte, dann die Moldau als erstes Musikstück... Wasser schien ein Thema zu sein bei ihm, genau wie bei mir, und Raven hatte mich schon früh gelehrt, dass solche Wiederholungen keine Zufälle waren. Synchronizitäten nannte er das, und ich war sehr stolz, als ich mir das Wort endlich merken konnte! Toshios Augen blitzten einmal kurz in meine Richtung, dann ließ er sich wieder vollkommen in die Musik hinein gleiten. Über Smetanas Grundmelodie ließ ich wieder ein Wasserszenario entstehen, und genoss es, wie Toshios Arme sich anmutig bewegten wie Wellen. Dann sank die Musik tiefer, auf den Grund des Flusses, auf den Grund des Meeres, hier war es dunkler, ruhiger. Ich versuchte, eine Muschel zu spielen. Tatsächlich zog sich Toshios Körper zu seiner Mitte zurück, bis er fast reglos als kleines Bündel auf dem Boden kauerte. Nur sachte noch wiegte er hin und her, wie von der Meeresströmung bewegt. Und dann stellte ich mir Natica vor, ließ ich den Dunkelelf aus der Muschel hervor kommen, und fasziniert beobachtete ich, wie Toshios schlanker Körper sich stolz aufrichtete und sich bezaubernd langsam um sich selbst drehte, selbstgenügsam, elegant, elfenhaft. Mir wurde das unheimlich. Mir schien, als würde ich ihn lenken mit meinem Spiel, wie ein Puppenspieler, der eine Marionette an ihren Fäden hielt. Zum ersten Mal in meinem Leben bekam ich ein Gefühl, wie es war, Macht auszuüben. Aber ich wollte das nicht. Ich wechselte zu einem leichten, fröhlichen Tanz aus dem späten Mittelalter, von dem ich wusste, dass Monsieur Remarque ihn gerne mochte. Fröhlichkeit konnten wir alle gut gebrauchen. Der Abend dauerte nicht mehr sehr lange. Ich hatte keine Gelegenheit mehr, mich dem neuen Sklaven zu nähern, nach dem Tanz blieb er wie eine lebende Statue mitten im Raum stehen. Ich war froh, dass wir bald aufbrachen. Obwohl ich ihn gern noch länger angesehen hätte. Aber ich hoffte, der Monsieur würde ihn jetzt ausruhen lassen nach seiner beeindruckenden und bestimmt sehr anstrengenden Vorführung. Die Rückfahrt verlief schweigend. Ich spürte, dass Raven noch immer wütend war und fühlte mich unbehaglich. Solange wir beim Monsieur gewesen waren, hatte er mich das nicht mehr so spüren lassen, aber kaum waren wir zu Hause, ging es auch schon los. „Was, zum Teufel, hast du dir dabei eigentlich gedacht?“ Sein scharfer Ton trieb mir sofort die Tränen in die Augen. Ich konnte mich nicht erinnern, wann er mich schon einmal so heftig ausgeschimpft hatte. „Hast du komplett den Verstand verloren?? Dafür hättest du dir wirklich mal eine harte Strafe verdient!“ „Bitte nicht...“ Meine Beine gaben wie von selbst unter mir nach, und schon kniete ich vor ihm auf dem Boden. Ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte. Ich konnte es nicht ertragen, wenn er so böse auf mich war. Meine Unterlippe bebte. „Es tut mir so leid! Ich wollte das Wachs nicht verschütten, ehrlich!“ Einen langen Augenblick schwieg Raven. Ich wagte nicht, den Blick zu heben. „Laurin, steh wieder auf. Du weißt, ich mag das nicht.“ Seine Stimme klang jetzt nicht mehr zornig. Das war wieder mein Raven. Zögernd stand ich auf. Ich fühlte seine warme Hand an meinem Kinn, wie er mein Gesicht anhob. Er strich mir die Tränen von den Wangen. Er sah sehr ernst aus. „Um das Wachs geht es mir gar nicht. Laurin, hör mir zu: Du darfst nie wieder, hörst du, nie, nie wieder darfst du dich so in Gefahr bringen. Niemals darfst du Monsieur Remarque darum bitten, dich zu bestrafen! Hast du mich verstanden?“ „Ja. Ich wollte dich nicht verärgern.“ „Ich weiß. Du hast mich nicht verärgert. Du hast mir einen Heidenschreck eingejagt! Ich hatte Angst um dich.“ „Ich wollte Toshio helfen.“ „Ja. Ich weiß.“ Raven seufzte leise und zog mich an sich. Nur zu gern schmiegte ich mich gegen ihn. Ich war ganz schön gewachsen in den letzten Monaten und reichte ihm schon bis an die Brust. Ich drückte mein Ohr gegen den weichen Stoff seines Hemdes und lauschte dem gleichmäßigen, dumpfen Klopfen seines Herzens. „Er ist so schön“, sagte ich, als würde das alles erklären. „Wo kommt er her? Hat der Monsieur ihn...“ Mir stockte fast der Atem bei dem Gedanken, der mir gerade kam. „...aus der Anderswelt?“ „Wie kommst du denn darauf?“ Ich konnte in seiner Stimme hören, wie Raven die Augenbrauen zusammenzog. „Weil... weil ich ihn dort schon gesehen habe. Er ist Natica. Der Elf aus der Muschel. Erinnerst du dich nicht?“ „Natica?“ Er schien sich wirklich nicht zu erinnern. „Das ist Unsinn, Laurin. Toshio kommt aus Japan, das ist zwar am anderen Ende der Welt, aber durchaus noch in der realen Wirklichkeit. Ich kann es dir auf der Landkarte zeigen. Dort sehen alle Menschen so ähnlich aus wie er.“ Er seufzte erneut. „In Geographie habe ich gründlich versagt, scheint mir.“ „Japan...“, wiederholte ich und versuchte mir ein Land vorzustellen, in dem alle Menschen wie Elfen aussahen. „Ist das im Meer?“ Raven lachte leise und schüttelte den Kopf. Er schüttelte öfters über mich den Kopf. Ich kann ziemlich dumme Fragen stellen, fürchte ich. „Am Meer. Aber nicht im Meer. Kein Mensch lebt im Meer. Du kennst dich in der Anderswelt bald besser aus als hier auf der Erde. Das ist meine Schuld. Ich werde dir ein paar Bücher über Asien besorgen, wenn du magst.“ „Au ja!“ Begeistert nickte ich. Ich wollte alles über Toshio erfahren. „Aber jetzt gehst du schlafen. Ich muss noch arbeiten.“ Sanft schob er mich von sich und drückte mir einen Kuss auf die Stirn. Bevor ich ins Bett ging, wühlte ich allerdings noch in meinem Zimmer nach meinen alten Lichtbüchern. Sie waren eine Art Tagebuch; jeder, der schamanisch oder in irgendeiner Art magisch arbeitete, sollte so ein „Buch der Schatten“ führen, das hatte Raven mir von Anfang an beigebracht, obwohl ich da noch gar nicht schreiben konnte. „Buch der Schatten“ gefiel mir aber überhaupt nicht, darum waren das für mich eben die „Lichtbücher“. Ich nahm die beiden ältesten mit in unser Schlafzimmer. Eigentlich war das Ravens Schlafzimmer, und ich hatte ein eigenes Bett in meinem Zimmer. Aber früher hatte ich jede Nacht schreckliche Alpträume, und darum durfte ich bei Raven schlafen. Irgendwann, als ich älter wurde, wollte er das nicht mehr, aber ich schlief einfach schlecht allein in meinem Zimmer. Die Alpträume kamen wieder, und so kroch ich doch fast jede Nacht zu ihm unter die Decke. Schließlich gab er auf, und es war wieder alles beim Alten. Das ersparte mir das nächtliche Aufstehen, und durchschlafen konnte ich seitdem auch wieder. Ich fand das erste Bild von Natica sofort, ziemlich am Anfang meiner Aufzeichnungen. Obwohl die allerersten Seiten nur irgendwelche undefinierbaren Formen und Farben zeigten, konnte ich mich erinnern, dass Raven mich mit einer Leichtigkeit in die geistigen Welten geführt hatte, wie andere Kinder mit ihren Vätern zum Spielplatz gingen. Und Natica war nach meinem Krafttierbegleiter mein erster Freund dort gewesen. Wenn ich jetzt darüber nachsann, hatte unser Kontakt in dem Maße abgenommen wie meine Alpträume besser wurden. Ich hatte ihn nicht einmal groß vermisst. Unsere gemeinsame Zeit war einfach zu Ende gegangen. Ich hatte seine Existenz fast vergessen, bis ich heute wieder an ihn erinnert wurde. Ich starrte auf die kindliche Zeichnung von ihm. Die Muschel neben ihm war hausgroß. Er war kaum mehr als ein besseres Strichmännchen (ich konnte noch nie besonders gut malen), aber dennoch fand ich die Ähnlichkeit mit Toshio schon wieder verblüffend: die schmalen Augen, das glatte, schwarze Haar, der schlanke Körper, selbst der etwas finstere Gesichtsausdruck (schließlich war er ein Dunkelelf, und es war unsere erste Begegnung). Auf den späteren Bildern blickte er etwas freundlicher. Aber woran ich mich noch deutlich erinnerte, war die Anmut seiner Bewegungen – und wie grobschlächtig und tollpatschig ich mich neben ihm immer gefühlt hatte – er schwebte dahin, und ich trampelte nebenher. Selbst dieses Gefühl war identisch! Ich dachte daran, wie ungeschickt ich nach Toshios Hand gegriffen hatte, so dass er das Wachs verschüttete. Ich schloss die Augen und stellte mir Toshio vor. Seinen ganzen Tanz ließ ich noch einmal Revue passieren, die Eleganz seiner Erscheinung. Als Raven kam, war ich noch wach. Stolz zeigte ich ihm ein Bild von Natica, wo die Ähnlichkeit besonders groß war, eins von den besseren, älteren Bildern. „Siehst du? Er sieht genauso aus!“ Ein zweifelndes „Naja“ war alles, was Raven dazu meinte, nachdem er meine Kinderzeichnung aufmerksam gemustert hatte. Ich konnte nicht verstehen, dass er das Offensichtliche nicht erkennen konnte. „Aber... der Anker und die Moldau!“ holte ich meine anderen Trümpfe hervor. „Er hat eine Verbindung zum Element Wasser, genau wie ich! Das hat bestimmt etwas zu bedeuten.“ Immerhin hatte ich jetzt Ravens volle Aufmerksamkeit, auch wenn er mich mit diesem stirngerunzelten Blick ansah, den er immer dann bekam, wenn er zu unterscheiden versuchte, ob ich nur wieder herumspann oder ob ich recht hatte. „Was für ein Anker?“ fragte er. „Ich habe an seinem Fuß einen Anker gesehen – an einer Kette.“ „Das muss nichts mit dir zu tun haben.“ Muss nicht. Aber könnte. „Es ist schon nach zwölf, du solltest längst schlafen. Hast du schon Zähne geputzt?“ Resigniert schüttelte ich den Kopf. Damit war das Thema Toshio wohl fürs erste beendet, und ich tappte ins Bad, um das Versäumte nachzuholen. Am nächsten Morgen wachte ich auf, als Raven die Haustür hinter sich zuzog. Er ging immer in aller Frühe eine Runde joggen. Gewöhnlich blieb ich noch liegen und schlief wieder ein, bis er zurück war und mich wecken kam. Oder ich blieb wach im Bett liegen, denn ich mochte es, wie er sich über mich beugte, mir über den Kopf strich, mir einen Kuss auf die Stirn hauchte und leise sagte: „Es ist Zeit, aufzustehen, mein Kleiner.“ Dann war der Frühstückstisch schon gedeckt. Doch heute hielt mich nichts im Bett, ich war noch viel zu aufgewühlt von dem gestrigen Abend, denn sobald ich wach war, waren meine Gedanken schon wieder bei dem ungewöhnlichen Fremden aus dem fernen Japan. Ich füllte die Kaffeemaschine für Raven und kochte Wasser für meinen Kamillentee. Ich stellte Teller und Tassen an unsere Plätze und leerte fast den kompletten Inhalt des Kühlschranks auf den Esstisch. Ich liebte die gluckernden Geräusche der Kaffeemaschine und wenn der erste Kaffeeduft mir in die Nase stieg, auch wenn ich das bittere Getränk selbst nicht mochte. Aber das Aroma war unwiederbringlich mit Ravens Person verknüpft. Für Raven schien es eine Art Lebenselixier zu sein. Einen Moment stand ich ganz reglos barfuß im Schlafanzug auf den kühlen Kacheln und lauschte auf das Zischen und Fauchen, mit dem die Maschine die letzten Reste des heißen Wassers in den Filter spie. Das ließ mich immer an Drachen denken. Als Kind stellte ich mir vor, wie ein kleiner Feuerdrache in der Kaffeemaschine saß und das Wasser zum Kochen brachte. Inzwischen wusste ich natürlich, dass es nicht so war, aber ich hörte ihr trotzdem immer noch gerne zu (das war auch so eine meiner Eigenarten, über die Raven den Kopf schütteln konnte). Als er nach Hause kam, mit frischen Brötchen in der Hand und dem Geruch nach Wind im Haar, war er überrascht und erfreut, dass ich schon auf und der Kaffee schon fertig war. Er hatte wohl damit gerechnet, dass er mich nach der kurzen Nacht schlecht wach kriegen würde! Er ging duschen, und ich konnte es kaum erwarten, bis er endlich neben mir am Küchentisch saß. „Wann sind wir wieder beim Monsieur?“ platzte es sofort aus mir heraus. Ich konnte richtig sehen, wie sich seine gute Laune bei dieser Frage verflüchtigte. „Der Japaner lässt dir keine Ruhe, was?“ „Er hat so schön getanzt... Hat es dir nicht gefallen?“ „Doch. Das war großartig. Ich hatte nicht gedacht, dass er so gut tanzen würde.“ „Hat der Monsieur ihn deswegen gekauft?“ „Bestimmt auch deswegen. Aber er hat ihn nicht gekauft. Er hat ihn... sich genommen.“ „Oh“, machte ich. Das erklärte immerhin den Hass, den ich an ihm gesehen hatte. Ich konnte mir gar nicht richtig vorstellen, wie es wohl sein mochte, frei zu sein. Und schon gar nicht, frei zu sein und dann gefangen zu werden. Aber es musste schlimm sein. Manchmal kamen neue Sklaven ins Labor, um die Gene aufzubessern, und nicht alle waren schon vorher unfrei gewesen. Und die hatten alle Probleme, sich einzugewöhnen. Ich war selbst irgendwann frei gewesen. Aber an die Zeit konnte ich mich so gut wie gar nicht erinnern. Und ich hatte Glück gehabt, dass ich bei Raven bleiben durfte. Die anderen hatten nicht so viel Glück. „Er ist etwas Besonderes“, stellte ich nach einem kurzen Schweigen fest. „Und ich glaube, er hat eine Verbindung zu mir.“ „Vielleicht“, sagte Raven unbestimmt und fügte dann umso bestimmter hinzu: „Aber er ist Monsieur Remarques Lu... Haussklave, vergiss das nicht. Wir können nichts für ihn tun.“ Fast hätte er sich verplappert, aber ich wusste, was er sagen wollte. Auch wenn Raven das Wort noch nie benutzt hatte, ich war nicht blöd, und ich bekam so einiges mit, was die Sklaven sich erzählten. „Was ist eigentlich der Unterschied zwischen einem Haussklaven und einem Lustsklaven?“ nutzte ich die Gelegenheit, um zu fragen, was mich schon länger interessierte. Die Laborsklaven und die aus der Zucht redeten zwar viel, aber ich hatte schon manchmal mitbekommen, dass sie oft auch nicht mehr wussten als ich. Raven war ein zuverlässigerer Auskunftgeber. Er verschluckte sich an seinem Brötchen und hustete und wurde ganz rot im Gesicht. „Naja... wie der Name schon sagt... Die Haussklaven sind für die Hausarbeit, und die... die anderen für die Bedürfnisse des Hausherren. Sie dienen einzig seinem Vergnügen. Zum Beispiel durch Tanzen.“ „Aber die anderen vor Toshio konnten nicht tanzen.“ Ich ließ nicht locker. Ich war jung und naiv. Aber nicht dumm. Raven seufzte. Ich merkte ihm an, dass das zu den Themen gehörte, über die er mit mir nicht sprechen wollte. Davon gab es einige. Deswegen war ich erleichtert, als er weiter sprach. „Es gibt viele Arten, seinem Herrn Vergnügen zu bereiten. Meist teilen sie das Bett mit ihm.“ „So wie wir?“ Auf einmal wurden Ravens Augen ganz traurig, was nicht so oft passierte, und er legte eine Hand auf meine Wange. „Nein, Laurin. Nicht so wie wir. Und das ist auch kein Thema fürs Frühstück.“ Er schwieg, und ich fragte nicht weiter. Ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, wann er nichts mehr sagen würde. Und vielleicht wollte ich es auch gar nicht so genau wissen. Die Wochen gingen dahin, und ich fieberte ganz im Gegensatz zu früher jeder Einladung des Monsieurs entgegen. Gleichzeitig verschlang ich in jeder freien Minute die Bücher über Japan, die Raven mir wie versprochen besorgt hatte. Am meisten beeindruckten mich die heißen Quellen und der Shintoismus. Und natürlich die zahlreichen bunten Bilder von Drachen! Gute Drachen, die den Menschen Glück verhießen, nicht solche feuerspeienden Scheusale wie hier in Europa. Sogar Wasserdrachen gab es! Ein besonders schönes Bild von einem schnitt ich sorgfältig aus dem Buch und legte es auf meinen Krafttieraltar. Er sah Pan sogar ein wenig ähnlich, fand ich. Ich wunderte mich, dass Raven mir Japan nicht früher gezeigt hatte, er wusste doch, wer mein Krafttierfreund war. Aber vielleicht war ihm nicht bewusst gewesen, dass Drachensymbolik in der japanischen Kultur so eine große Rolle spielte. Vielleicht tat sie das auch gar nicht, und mir kam es nur so vor. Vielleicht waren in den Büchern, die er mitbrachte, besonders viele Drachenbilder, weil die Bücher für mich waren. Oder ich sah Drachen, wo andere keine sahen. Immerhin war ich ja auch der einzige, der die doch so offensichtliche Verbindung zwischen Toshio und mir erkannte. Selbst Toshio selbst merkte anscheinend nichts davon. Unsere Freundschaft blieb einseitig. Ein typisches Gespräch zwischen uns sah so ungefähr so aus: Ich: „Hallo, schön, dich wiederzusehen.“ Er: „...“ Ich: „Dein Tanz letztes Mal war toll. Wo hast du das gelernt?“ Er: „Halt endlich die Klappe!“ Oder: Ich: „Hallo Toshio, ich habe ein Buch über deine Heimat gelesen. Warst du schon mal in einer heißen Quelle?“ Er: „Lass mich in Ruhe!“ Aber immerhin ließ er sich von mir helfen, wenn er wieder Kerzen, Weingläser oder sonstiges halten musste. Da wurden wir ein richtig gutes Team, fand ich. Genau wie bei der Musik. Nur dann, wenn er nach meiner Flötenmusik tanzen durfte, wurde sein Gesichtsausdruck sanfter. Ansonsten behielt er seine Feindseligkeit mir gegenüber bei. Raven erklärte es mir schließlich, nachdem ich eines Abends unglücklich von meinen misslungenen Kontaktversuchen berichtete. Er vermutete, dass Toshio nicht mit mir reden durfte. Für Lustsklaven galten manchmal besondere Regeln. Ich fand das zwar unlogisch, aber es passte zu Monsieur Remarque, dass es ihm Vergnügen bereiten konnte, solche gemeinen Regeln aufzustellen. Da ich keinesfalls wollte, dass Toshio wegen mir bestraft wurde, sprach ich also nicht mehr mit ihm. Ich beschränkte mich von nun an darauf, mein freundliches Lächeln durch einen verächtlichen Blick erwidern zu lassen. Ich versuchte, in der Anderswelt unterstützend für Toshio zu wirken und sprach Pan, meinen Krafttierfreund, darauf an. Mehrmals. Falls man Drachen auf die Nerven gehen konnte, ließ er sich jedenfalls nichts anmerken. Aber ich bekam immer wieder dieselbe, unverständliche Antwort: Ich sollte Geduld haben. Es sei noch nicht die rechte Zeit dafür. Im Übrigen sei schon für ihn gesorgt. Das war nicht das, was ich hören wollte. Aber ich erinnerte mich an die merkwürdige Tiergestalt, die ich am ersten Tag neben Toshio gesehen hatte, und gab mich wohl oder übel damit zufrieden. Und dann kam jener Abend, der die Wende bringen sollte. Es begann an dem Tag davor, als Raven verkündete, er sei abends mit dem Monsieur verabredet. „Nein, nein“, beeilte er sich hinzuzufügen, als er meine Miene aufhellen sah. „Wir gehen außer Haus. Du bleibst hier.“ Er zog sich festlich an, einen seiner guten Anzüge, ganz in schwarz. Gleichzeitig packte er seine Arzttasche, ein großes, beuliges schwarzes Ding. Ich brannte vor Neugierde, was sie vorhatten. Es musste etwas mit Sklaven zu tun haben, denn wenn sie sich nur so vergnügen gingen, nahm Raven seine Arztsachen nicht mit. Und wenn es was Dienstliches wäre, würde er sich anders kleiden. „Nehmt ihr Toshio mit?“ wagte ich schließlich schüchtern zu fragen, während ich Raven beobachtete, wie er in seinen Jackentaschen nach dem Autoschlüssel suchte. Er hielt in der Bewegung inne und lachte leise. „Kannst du auch noch an was anderes denken? Ja, wir nehmen deinen Toshio mit – und nein, keine Sorge, er wird bestimmt nicht verkauft werden. Es ist nur eine Party, keine Auktion. Monsieur Remarque möchte nur ein wenig mit ihm angeben vor den anderen Meistern.“ „Nimmst du mich auch mit? Bitte?“ flehte ich. Ich wollte zu gern auch einmal auf so einer Sklaven-Party dabei sein und andere Meister mit ihren Sklaven ansehen . Und dann auch noch mit Toshio... Ich wollte einfach dabei sein! Ich wollte sehen, wie der Monsieur mit ihm angab! Allen Grund dazu hatte er schließlich. Toshio war ein ganz besonderer Sklave. Hoffentlich ließ der Monsieur sich nicht doch überreden, ihn zu verkaufen! Aber Raven bekam wieder diesen super ernsten Gesichtsausdruck. „Nein, Laurin. Dorthin nehme ich dich ganz gewiss nicht mit.“ Er sagte das mit solchem Nachdruck, dass ich nicht weiter bettelte. Und ihn nicht weiter suchen ließ. „Der Autoschlüssel liegt übrigens in der Küche auf dem Kühlschrank.“ „Oh, okay. Danke.“ Er wuschelte mir durch das Haar, drückte mir einen Kuss auf die Stirn. Ich schloss kurz die Augen, um diesen Moment der Nähe, die warmen Berührungen auszukosten. „Warte nicht auf mich, ja? Es wird spät werden.“ Früh meinte er wohl. Diese Partys pflegten bis in den Morgen hinein zu dauern. Am nächsten Tag war Wochenende, und Raven konnte sich leisten, erst mittags aufzustehen. Ich blieb einfach neben ihm liegen, eng an ihn gekuschelt. Ich hatte lange gelesen und unruhig geschlafen, aber auch sonst hätte ich keinerlei Probleme damit, zwölf Stunden am Stück zu schlafen. Ich bewunderte Raven dafür, dass er mit so wenig Schlaf auskommen konnte. Am frühen Abend rief dann der Monsieur an. Ich spitzte die Ohren, als ich Raven sagen hörte: „Ah, bonsoir, Pascal, was kann ich für dich tun?“ Leider konnte ich beim besten Willen nicht verstehen, was am anderen Ende der Leitung gesprochen wurde, ich konnte nur Raven beobachten, dessen Miene sich verfinsterte. „Ich habe dir gleich gesagt, das ist zu viel für das erste Mal“, sagte er, mit leichtem Ärger in der Stimme. Ich kannte keinen, der es wagte, so mit dem Monsieur zu sprechen. Außer Raven. Ich war dann immer besonders stolz auf ihn. „Ich bin gleich da.“ Er legte auf. Ich musste gar nichts sagen. „Du kommst mit“, wandte er sich an mich. Mehr sagte er nicht. Ich hatte plötzlich einen Kloß im Hals und nickte nur stumm. Ich wusste sofort, dass etwas mit Toshio nicht in Ordnung war. Beklommen beobachtete ich, wie er ein paar Fläschchen in seine Arzttasche packte, aber ich achtete nicht darauf, was er da mitnehmen wollte. Was hatte der Monsieur mit Toshio gemacht? Warum durfte ich nie mit auf diese Partys? Und warum erzählte Raven auch nie etwas über diese Nächte? Warum nahm er immer seine schwarze Tasche mit dorthin? Und warum hatte ich das Gefühl, dass er nie wirklich gern hinging, obwohl er doch sonst Monsieur Remarques Gesellschaft stets zu genießen schien. Die Begrüßungsküsschen fielen dieses Mal etwas unterkühlt aus. „Wo ist er?“ fragte Raven sofort. „Oben. In meinem Zimmer. Ich weiß nicht genau, was mit ihm ist. Er hat plötzlich hohes Fieber bekommen.“ War da ein Hauch Besorgnis in der Stimme des Monsieur? Ich wagte nicht, ihm ins Gesicht zu sehen. Wie immer in diesem Haus hielt ich mich dicht bei Raven. Wie ein Schatten folgte ich ihm die breite Treppe hinauf ins obere Stockwerk. Hier war ich noch nie gewesen. Aber soweit ich sehen konnte, war es mit den gleichen antiken, dunklen Möbeln eingerichtet wie der Rest der weitläufigen Villa. Unglaublich, dass hier nur ein einziger Mann lebte. Ich dachte an Ravens kleines Haus, das modern und hell eingerichtet war. Um nichts hätte ich tauschen wollen. Wir betraten den Raum, in dem nur eine kleine Nachttischlampe leuchtete – das Schlafzimmer des Monsieur! Mir stockte fast der Atem, als würden wir ein Heiligtum betreten. Das Heiligtum des Hauses... Meist teilen sie das Bett mit ihm, kamen mir Ravens Worte wieder in den Sinn. Und das Bett war riesig! Das könnten drei Sklaven mit ihm teilen! Vor dem Bett stand ein großer Hundekorb aus Weidenzweigen, in dem ein dickes, schwarzes Halsband lag, welches mit einer Kette am Bettpfosten befestigt war. Das war wohl Toshios Platz. Jetzt aber lag er im Bett seines Herrn. Ich fühlte den weichen, flauschigen Teppich unter meinen Füßen und blieb an der Tür stehen, während Raven sofort auf das Bett zuging und sich vorsichtig an der Seite neben die flache Wölbung unter der Bettdecke setzte. Von Toshio war nur ein schwarzes Haarbüschel zu sehen, aber ich spürte augenblicklich, dass es ihm sehr schlecht ging, noch bevor Raven langsam die Decke zur Seite schob und den Blick auf das schöne Elfengesicht freigab. Er war sehr blass, nur seine Wangen waren fiebrig gerötet. Mit einem kläglichen Wimmern hob er abwehrend die Hände, und ich hörte eine Kette klirren. Sie führte vom Kopfende des Bettes zu Toshios Hals. „Schhh, es ist gut, Toshio, ich bin's nur, ich tue dir nichts, hab keine Angst, ganz ruhig.“ Ravens beruhigender Tonfall verfehlte seine Wirkung nicht; Toshio ließ zu, dass er eine Hand auf seine Stirn legen konnte. Ich wusste, wie gut sich diese simple Geste anfühlte, wenn man krank war, auch wenn Raven damit wahrscheinlich nur seine Temperatur abschätzte. Aber ich konnte deutlich erkennen, wie sich Toshios Körper entspannte, und er die Augen wieder schloss. „Hast du Schmerzen?“ Toshios Antwort war so leise, dass ich sie nicht verstehen konnte, aber Raven nickte. „Ich fühle jetzt deinen Puls“, kündigte er seine nächste Handlung an und griff nach Toshios Handgelenken. Ich starrte auf die roten, bandförmigen Male an seinen Unterarmen, die auf eine zu straffe Fesselung hindeuteten. Oder auf ein zu heftiges Zerren an den Fesseln. Was war mit ihm geschehen in dieser Nacht? Warum erzählte mir Raven nie Details von diesen Partys? Sachte legte er die Arme wieder ab. „Mach deinen Mund auf, sag 'ah' – so ist brav.“ Gehorsam befolgte Toshio die Anweisungen. „Jetzt höre ich dich noch ab, nicht erschrecken, das fühlt sich kalt an.“ Raven zog die Decke noch ein wenig zur Seite, legte das Stethoskop an verschiedene Stellen und hieß Toshio, tief ein und aus zu atmen. Dann hielt er ihm das Fieberthermometer ans Ohr. Danach griff er nochmal in seine Tasche und zog eine Spritze auf. „Du bekommst eine Spritze. Ein kleiner Pieks nur, dann geht es dir gleich besser, halt schön still, ja, so ist brav.“ Toshio zuckte nicht mal mit der Wimper. Dabei kannte ich Sklaven, die bei jeder Injektion jedes Mal so ausflippten, dass zwei Männer sie halten mussten. Aber im Labor war das sicherlich auch etwas anderes als hier. Und außerdem konnte Raven auch wirklich gut spritzen, da merkte man kaum was. Er deckte ihn wieder zu, strich ihm noch einmal über das Haar, dann stellte er sich zu dem Monsieur und sprach mit gedämpfter Stimme. Ich weiß nicht, ob er sich darüber bewusst war, dass ich mithören konnte, da ich ja noch neben der Zimmertür stand. Toshio jedenfalls bekam bestimmt nichts von dem Gespräch mit. „Das Fieber müsste gleich runter gehen. Und nimm ihm bitte das Halsband ab, das ist im Moment Gift für ihn.“ „Er muss sich erkältet haben heute Nacht“, sagte der Monsieur, ohne richtig die Augen von seinem kranken Sklaven zu nehmen. Jetzt war ich aber sicher, dass das Sorge in seinem Gesicht war. Das war eine Seite an ihm, die ich noch nicht kannte. Raven schüttelte kaum merklich den Kopf. „Das ist nicht das Problem. Ich habe dir gleich gesagt, das war zu viel gestern. Seine Seele hat Schaden genommen. Es wird nicht reichen, ihm ein fiebersenkendes Mittel zu spritzen.“ Jetzt blickte der Monsieur doch zu Raven, eine steile Falte zwischen seinen Augenbrauen. So ähnlich sah Raven aus, wenn er versuchte zu entscheiden, ob ich gerade wieder zu viel Phantasie hatte oder ob ich nur von etwas sprach, womit er sich nicht so gut auskannte. „Was soll das, Ben?“ Auch der Monsieur sprach jetzt leise. „Meinst du, mir ist nicht klar, dass seine 'Seele Schaden nimmt' bei dem, was ich mit ihm mache?“ Raven erwiderte furchtlos seinen Blick und zuckte nur mit den Schultern. „Die Frage ist, wie lange du noch deinen Spaß mit ihm haben willst.“ Der Monsieur musterte Raven, und seine Augen verschmälerten sich gefährlich. Aber dann war der Moment vorbei, und er seufzte unhörbar. „Also gut. Was schlägst du vor?“ „Nimm ihm vorerst die Fesseln ab. Er kann doch sowieso nicht fort. Und ich möchte, dass Laurin noch ein wenig mit ihm arbeitet – der Kleine hat gute Fortschritte gemacht. Erlaube ihm, sich mit Laurin zu unterhalten. Nicht nur sein Körper braucht Regeneration.“ „Na schön, wenn du meinst.“ Ich war froh, dass er so schnell nachgab und nicht wütend auf Raven wurde. Während er Toshio das Halsband abnahm, beugte sich Raven zu mir. „Ist das okay für dich?“ Ich nickte zögernd. „Ja... schon. Aber ich weiß nicht...“ „Pst“, unterbrach er mich. „Lass dich von deiner Intuition leiten, wie wir das geübt haben. Du kannst nichts falsch machen. Ich bleibe in der Nähe. Wenn was ist, ruf mich.“ „Ja.“ Ich wartete, bis beide Herren das Zimmer verlassen hatten, dann erst näherte ich mich langsam dem Bett. Es war so still, dass ich mein Herz klopfen hörte – neben unseren leisen Atemzügen war das das einzige Geräusch im Raum. Ich konnte nichts falsch machen? Das fühlte sich aber ganz anders an! Wenn ich an meine bisherigen Annäherungsversuche zurück dachte, konnte ich eine ganze Menge falsch machen! Ich hatte keine Ahnung, wie ich es richtig machen sollte. Und was überhaupt? Mit ihm reden – gut. Aber selbst das war in der Vergangenheit mehrfach schief gegangen. „Hallo, ich...“, quietschte ich los und brach gleich wieder ab, um mich zu räuspern. „Ich bin's, Laurin“, beendete ich schließlich ziemlich lahm meinen Satz und kniete mich neben das Bett auf den weichen Teppich. Was für ein dämlicher Anfang! Toshio hob nicht einmal richtig die Lider und warf mir nur durch die Wimpern einen kurzen Blick zu. „Du schon wieder“, sagte er müde. Das klang nicht sehr freundlich. Eher so, wie man einen Pickel begrüßen würde, den man doch gestern erst ausgedrückt hatte, und der heute schon wieder prall gefüllt im Gesicht blühte. „Ja“, machte ich hilflos. „Der Monsieur hat erlaubt, dass wir uns unterhalten.“ „Der 'Monsieur'...“, wiederholte er tonlos. Dann entstand eine Pause, in der ich fieberhaft überlegte, was ich als nächstes sagen sollte. Aber mir fiel absolut nichts ein! Schließlich brach Toshio als erster das Schweigen: „Ich möchte mich aber nicht mit dir unterhalten.“ „Oh... gut.“ Ich versuchte, mir meine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen, was mir nicht gut gelang. Er ist krank, sagte ich mir, aber ich wusste natürlich, dass seine Ablehnung andere Gründe hatte, auch wenn ich nicht wusste, welche. In all der Zeit hatte er nicht einen einzigen freundlichen Blick für mich gehabt. „Du musst nichts sagen, das ist schon in Ordnung“, beeilte ich mich zu versichern, obwohl ich es schade fand, keinen Zugang zu ihm zu finden – noch nicht einmal, wenn es ihm so schlecht ging. Meiner Sympathie ihm gegenüber machte sein abweisendes Verhalten wie immer gar nichts aus. „Ich hoffe, es stört dich nicht, wenn ich hier bei dir bleibe? Ich bin auch ganz still.“ „Wenn's dich glücklich macht“, murmelte er undeutlich. Lieber wäre es mir, wenn es dich glücklich machen würde, dachte ich, aber ich sprach es nicht aus. Besser nicht. Lieber überlegte ich, was ich für ihn tun könnte. 'Lass dich von deiner Intuition leiten', hatte Raven mich angewiesen. Das hörte sich gut an, aber ich hatte keine Idee. Reden wollte er nicht, ihn anzufassen wagte ich nicht – was blieb da noch übrig? Also schloss ich einfach die Augen und wartete auf Intuition. Stattdessen kam Pan. Ich sah ihn nicht, aber ich konnte seine Gegenwart spüren wie so oft. Ich brauchte schon lange kein schamanisches Trommelritual mehr, um Andersweltkontakt zu haben. „Was kann ich nur tun?“ fragte ich stumm. Genauso stumm antwortete Pan, und ich folgte ihm. Mit Leichtigkeit überschritt ich die Schwelle, jetzt sah ich den hübschen Drachen klar vor meinem inneren Auge, seine langgestreckte, blau schimmernde Gestalt, und wie immer, wenn Pan bei mir war, fühlte ich mich stark und voller Selbstvertrauen, nicht so klein und schwach und tolpatschig wie in der alltäglichen Wirklichkeit. Wenn das ginge, würde ich auf der Stelle umziehen! Aber sowohl Pan als auch Raven sagten immer wieder, dass das nicht möglich war. Und tatsächlich blieb auch immer ein Teil meines Bewusstseins in der Wirklichkeit zurück, keinen Augenblick verlor ich den Kontakt zu meinem Körper und war mir in jeder Sekunde, in der die Anderswelt vor meinem geistigen Auge Gestalt annahm, bewusst, dass ich vor Toshios Bett kniete. Ich spürte den Druck in meinen Knien, hörte seine ruhigen Atemzüge, das Rascheln des Bettbezuges, als er ein wenig die Lage veränderte und sein leises Stöhnen dabei. Nur das Zeitgefühl ging mir jedes Mal währenddessen komplett verloren. Mein Drache führte mich an eine düstere Lichtung inmitten eines toten Waldes. Die dunklen, abgestorbenen Bäume umstanden uns drohend. In der Mitte der Lichtung war eine Art Geröllhaufen, auf dem eine bleiche, nackte Gestalt zusammengekauert lag. Toshio! Doch genau wie im wirklichen Leben konnte ich nicht zu ihm gelangen, denn rings um das Gestein war ein breiter, mit schwarzem Wasser gefüllter Graben. Da herum tänzelte ein majestätischer Hirsch mit einem beeindruckenden Geweih auf dem zierlichen Kopf. Ich hatte ihn schon einmal gesehen, schemenhaft neben Toshio am ersten Abend, als er die Kerzen halten musste. Ich verstand, dass es sein Krafttier oder Totem sein musste. Höflich trat ich an ihn heran, und seine weiche Nase schnaubte in meine Handfläche. Sein Atem roch nach frisch gemähtem Gras. Ich bewunderte seine kraftvolle und gleichzeitig Anmutige Erscheinung. Seine Augen blickten unglaublich sanft. Er war genau richtig für Toshio. Mir war sogleich klar, wo das Problem lag – der Hirsch konnte den Graben nicht überwinden. Und natürlich würde ich ihm behilflich sein. Ich blickte mich auf der Suche nach einer Lösung um, und dann begann ich Stöcke und Reisig vom Waldboden aufzulesen, alles was ich finden konnte. Ich legte das Holz auf die dunkle Wasseroberfläche und baute auf die Art eine schwimmende Brücke. Es war mühsam und langwierig, schließlich musste sie stabil genug sein, um den Hirsch zu tragen. Ich fühlte mich erschöpft, als ich endlich fertig war und der Hirsch über den Damm balancierte und sich endlich Toshio nähern konnte. Er senkte den Kopf und beschnupperte den leblosen Körper. Dann sah er wieder auf und zu mir herüber. „Er hat den Anker verloren.“ Er hatte eine angenehm weiche, tiefe Stimme. Ich erinnerte mich – der war an der Kette gewesen, die ich an Toshios Fuß gesehen hatte. Ich nickte. Und dann bat ich Pan, mir zu helfen. Alleine hätte ich das nicht mehr geschafft. Es war nicht so, dass diese Reisen körperlich anstrengend waren, aber es war geistig ermüdend, denn ich brauchte meine volle Konzentration, um nicht mit den Gedanken abzudriften oder in die Wirklichkeit zurückzukehren. Pan führte mich zu einem klaren Gebirgssee und tauchte mit mir unter die Oberfläche. Selbst unter Wasser war die Gegend schön, aber ich hatte keine Muße, mich in Ruhe umzusehen. Eine gefühlte Ewigkeit suchten wir den Grund ab, bis ich zwischen Schlamm und Schlingpflanzen endlich fündig wurde. Der Anker war schwer, und Pan nahm ihn mir ab, indem er die Kette zwischen seine spitzen Zähne nahm und den Anker mit allen vier Klauen packte. Zum Glück herrschen in der Anderswelt andere physikalische Gesetze, sodass er einfach zurück fliegen konnte. Und ich auch. Ich war wirklich müde, als ich schließlich die Kette um Toshios schmale Fessel legte, und ich verabschiedete mich nicht einmal richtig von den Krafttieren, denn fast augenblicklich verschwand das Szenario, und ich fand mich in Monsieur Remarques Schlafzimmer wieder. Ich lehnte den Kopf gegen die Matratze und hätte mich am liebsten auf dem flauschigen Teppich zusammengerollt. Ich hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen sein mochte. Es konnten Minuten, es konnten genauso gut Stunden sein. Ich glaube, ich bin dann eingeschlafen, denn ich schrak hoch, als Toshio plötzlich sagte: „Du bist ja immer noch hier.“ Sein Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass er nicht sehr viel Wert auf meine Anwesenheit legte. „Ja... ich... ehm. Geht es dir besser?“ „Was kümmert's dich?“ knurrte er. Es ging ihm besser, eindeutig. Er sah auch nicht mehr so fiebrig aus. Er hatte sich auf die Seite gedreht, und seine dunklen, schmalen Augen fixierten mich. „Es kümmert mich eben. Ich mag dich.“ „Aber ich mag dich nicht.“ So deutlich musste er es ja nun auch nicht unbedingt sagen, fand ich. Mit Toshio zu sprechen war so angenehm wie eine kalte Dusche. Ich war müde, und mir fiel keine Antwort darauf ein. Also schwieg ich. Er redete trotzdem weiter: „Du bist doch nur hier, weil dein 'Herr' es dir befohlen hat.“ So wie er „Herr“ sagte, klang das sehr abwertend. Mich konnte er ja meinetwegen nicht mögen, aber auf Raven ließ ich so schnell nichts kommen! „Das stimmt nicht“, verteidigte ich mich. „Er hat mich gefragt, und ich habe 'ja' gesagt. Er würde mich nie zu etwas zwingen.“ „Ach ja!“ Es war mehr als deutlich, dass er mir nicht glaubte. „Sag bloß, du machst das alles freiwillig!“ „Was genau meinst du mit 'alles'?“ „Na, dein bescheuertes devotes Getue, dein kriecherisches Verhalten – hast du gar keinen Stolz?“ „Ich... weiß nicht“, entgegnete ich unsicher. Ich hatte mein Verhalten nie in Frage gestellt. Ich wusste nicht einmal, was devot war, aber so wie er das sagte, schien das etwas Schlimmes zu sein. „Ich benehme mich, wie Raven es mich gelehrt hat. Und ich bin stolz darauf, einen so starken und gütigen Herrn zu haben. Ja, ich mache 'das alles' freiwillig, denn ich liebe Raven, und ich möchte, dass auch er stolz auf mich ist, und dass er sich auf mich verlassen kann. So wie ich auf ihn.“ „Wie alt bist du eigentlich?“ „Vierzehn.“ Toshio schnaufte abfällig. „Wie pervers. Und wie lange bist du schon bei ihm?“ „Schon lange. Seit dem...“ Ich stockte kurz. „Seit dem Tod meiner Eltern.“ Ganz übles Thema. Ich spürte meine Handflächen feucht werden, und meine Narben begannen zu schmerzen. Toshio hatte sich auf den Unterarm hochgestützt und betrachtete mich eingehend. Noch nie hatte ich einen Sklaven erlebt, der sich so benahm – so eindringlich befragt wurde man sonst nur von den Herren. Ich senkte den Blick. „Ich weiß nicht genau, wie alt ich da war. Ich kann mich kaum an sie erinnern. Ich weiß noch, dass ich Flötespielen von meiner Mutter gelernt habe. Alles andere hat mir Raven beigebracht, auch Lesen und Schreiben und Rechnen.“ Wir schwiegen eine Weile. Toshio setzte sich jetzt ganz auf. „Schlägt er dich? Tut er dir weh?“ fragte er schließlich. „Nein. Überhaupt nicht.“ Ich blickte wieder zu ihm hoch. Sein Ausdruck hatte sich verändert, auch im Gesicht. „Er hat mich noch nie geschlagen. Zu Hause muss ich auch nicht knien – und ihn auch nicht 'Herr' nennen. Er ist nicht so streng wie Monsieur Remarque...“ Wir schwiegen wieder, doch zum ersten Mal war es ein einvernehmliches Schweigen. Ich mochte mir gar nicht ausmalen, wie es sein musste, Monsieur Remarque zu gehören. Toshios Fragen waren deutlich genug. Und ich hatte natürlich auch früher schon immer wieder Spuren von Züchtigungen auf seinem sonst so makellosen Körper gesehen. Wieder brach Toshio die Stille. „Dann scheinst du ja noch Glück gehabt zu haben“, stellte er neidlos fest. „Und warum kümmerst du dich um mich? Komm doch hoch hier aufs Bett, du musst nicht da unten hocken.“ Er rutschte ein Stück zur Seite. Ich setzte mich auf die Bettkante. „Ich möchte dir einfach ein wenig helfen. Ich kenne Monsieur Remarque... es ist bestimmt schwierig, ihm zu dienen.“ Seine Augen verdüsterten sich wieder. Aber diesmal nicht meinetwegen. „Wenn du mir helfen willst, dann hilf mir zu fliehen“, sagte er. „Das... das geht nicht!“ Erschrocken sah ich ihn an. „Das kann ich nicht. Und das... das darfst du nie versuchen, Toshio! Es ist unmöglich, sie kommen alle wieder... Bitte, du weiß nicht, was mit Sklaven passiert, die weg laufen!“ „Viel schlimmer kann es ja nicht werden“, entgegnete er tonlos. „Doch, Toshio. Glaub mir. Es kann schlimmer werden. Bitte, sprich nie wieder davon! Du musst das vergessen!“ „Das ist mir egal“, sagte er trotzig. „Ich werde weglaufen, auch ohne deine Hilfe. Dann bin ich eben der erste, dem die Flucht gelingt.“ „Das ist Wahnsinn!“ „Hierbleiben auch.“ „Du verstehst nicht...“ „Ich verstehe sehr gut“, fiel er mir ins Wort. „Danke für deine Warnung. Ich will jetzt schlafen. Ich bin müde.“ Er ließ sich wieder auf das Kissen sinken. „Ja, natürlich. Soll ich gehen?“ „Nein, bitte... Ich weiß nicht warum, aber es fühlt sich ganz gut an, wenn du da bist.“ Ich lächelte glücklich. „Ich kann hierbleiben, bis du eingeschlafen bist.“ „Danke.“ Er schloss die Augen. Von da an war es nie mehr so wie vorher. Jedes Mal, wenn wir uns trafen, durften wir miteinander sprechen. Und bald schon hatte ich das Gefühl, dass sich Toshio genauso wie ich auf unsere Treffen zu freuen begann. Manchmal hatte er sogar den Hauch eines Lächelns für mich. Wie viel hübscher er dann noch aussah! Früher hatte ich nur äußerst ungern Monsieur Remarques Haus betreten, doch jetzt bedrängte ich Raven regelrecht, wann er das nächste Mal den Monsieur besuchen wolle, und ob ich mit dürfe, um Toshio zu besuchen. Manchmal hatten wir dann richtig Zeit, uns in Ruhe zu unterhalten. Toshio bat mich nie mehr, ihm zur Flucht zu verhelfen. Aber je länger und besser wir uns kannten, umso häufiger versuchte er mich zu überreden, mit ihm zu fliehen! Für mich kam das natürlich nicht in Frage. Wo hätte ich auch hin gehen können? Ich kannte niemanden da draußen in der Welt, nicht so wie Toshio. Mein Platz war bei Raven. Es machte mir Angst, dass er diesen Gedanken trotz meiner Warnungen nicht fallen lassen wollte und sprach auch mit Raven darüber. Der meinte nur, dass der Monsieur schon aufpassen würde, dass Toshio keine Dummheit begehen könnte. Ich wusste nicht, was ich mir wünschen sollte – ich hatte ja trotz meiner Sorge den Eindruck, dass Toshio erst wieder glücklich werden konnte, wenn er wieder frei war. Und ich würde es ihm von Herzen gönnen, wenn er das Unmögliche schaffen könnte! Vielleicht würde der Monsieur ihn ja auch irgendwann wieder gehen lassen. Raven gab mir keine richtigen Antworten darauf, was mit Toshios Vorgängern geschehen war. Es gab natürlich Gerüchte... aber konnte es wirklich sein, dass kein einziger Sklave jemals wieder frei wurde, selbst dann nicht, wenn er aus Freiheit kam? Konnte es wirklich sein, dass Monsieur Remarques Lustsklaven nicht einmal mehr fürs Labor taugten, wenn er ihrer überdrüssig wurde? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es stimmte. Ich wollte es mir nicht vorstellen! Es raubte mir den Schlaf, wenn ich darüber nachdachte. Die Laborsklaven erlebten viel Schlimmes, und sie hatten eine blühende Phantasie. Man konnte ihnen nicht alles glauben. Toshio fragte mich oft aus. Dann war ich eigentlich ganz froh, dass ich ihm zu dem Thema sagen konnte, was ich wusste – nämlich nichts. Und dann kam der Tag, als der Monsieur Toshio mitnehmen wollte auf Geschäftsreise. Nach Japan. Raven packte seine Arzttasche und wollte, dass ich zu Hause blieb. „Aber ich muss mich verabschieden!“ protestierte ich. „Sie sind doch nur zwei Wochen fort. Ich gehe allein.“ „Bitte, Raven, bitte“, verlegte ich mich aufs Flehen. Ich hatte Angst, dass sich auf der Reise eine Fluchtgelegenheit bieten würde und ich Toshio nicht wiedersah, ganz egal, ob ihm die Flucht gelingen würde oder nicht. „Nein, du bleibst hier. Ich möchte nicht, dass du das siehst.“ „Was soll ich nicht sehen? Bitte, ich bin doch kein kleines Kind mehr. Und ich bitte dich so selten um etwas!“ Raven sah mich ernst an. „Das stimmt.“ Er verdrehte die Augen. „Ich weiß nicht, wem von euch beiden der Japaner mehr den Kopf verdreht hat. Aber ich warne dich: Es wird dir nicht gefallen.“ Toshio saß in einem Rollstuhl – so einer mit dicken Armlehnen, hohem Rückenteil und Kopfstütze. Ich hatte ihn noch nie zuvor in normaler Hose und Pulli gesehen. Er sah ganz anders aus. Und aus seinen Augen sprach die blanke Angst. Arme, Beine und Brustkorb waren mit breiten Gurten an dem Rollstuhl fixiert. Selbst mein Anblick hellte seine Miene nicht auf. Warum auch? Ich war ihm keine große Hilfe. Ich durfte zu ihm, aber mein Hals war wie zugeschnürt. Ich legte nur meine Hand auf seine. Ich hatte ihm so viel sagen wollen – dass er mir fehlen wird, dass ich ihm Glück wünsche, dass ich in Gedanken bei ihm wäre und für ihn beten würde. Aber kein Wort brachte ich heraus. Toshios Finger zuckten, als wolle er nach meiner Hand greifen, aber er bekam den Arm nicht gedreht. Er sah mich nicht an. Ich schob meine Finger in seine, und er drückte sie kurz. „Mach's gut, kleiner Laurin“, flüsterte er heiser. Ich konnte nur hilflos die Schultern heben. Raven zog mich schließlich sanft zur Seite. Toshios Augen hefteten sich auf ihn, vor Furcht geweitet. Schockiert beobachtete ich, wie Raven ihm mehrere Spritzen gab – in die Nackenmuskulatur, in die Lippen, in die Zunge. Der Monsieur sorgte mit festem Griff dafür, dass der Mund offen blieb dabei. Ich hatte Raven schon öfter ähnliche Dinge tun sehen. Aber im Labor war das irgendwie etwas anderes, die Sklaven dort waren schließlich extra dafür gezüchtet worden. Toshio nicht. Und hier ging es auch nicht um wichtige, medizinische Erkenntnisse, sondern nur um das private Vergnügen des Monsieur. Zum ersten Mal sah ich Ravens Tun aus Sicht eines anderen. Ich sah nicht, wie vorsichtig er die Spritzen setzte, wie beruhigend er dabei mit Toshio sprach. Ich sah nur, dass er gegen Toshios Willen und trotz seiner Angst in seinem Handeln fortfuhr. Während Raven schon mit Monsieur Remarque über die Dauer der Wirkung, die Nachmedikamentation und über den Rückflug sprach, konnte ich meine Augen nicht von Toshio nehmen, der rasch die Kontrolle über seine Muskeln verlor. Der Kopf wankte gefährlich von rechts nach links und kippte immer wieder ruckartig nach vorne. Nur mühsam konnte er ihn wieder heben. Seine Unterlippe hing schlaff herunter, und Speichel tropfte ihm aus dem Mund. Ich senkte betroffen den Blick. Ich hätte nicht kommen dürfen, ich hätte auf Raven hören sollen! Es musste schrecklich beschämend für Toshio sein, dass ich ihn so sah. Das Bild, wie er da verängstigt und gelähmt in dem Rollstuhl saß, verfolgte mich noch, als ich im Bett lag und nicht schlafen konnte. Wieder und wieder musste ich daran denken, und dann kamen mir die Tränen. Was, wenn er fortlief und erwischt wurde? Japan war schließlich seine Heimat, da kannte er sich aus, würde er nicht dort am ehesten fliehen können? Und was, wenn der Monsieur ihn verkaufen würde an einen japanischen Master? Aber am schlimmsten war das Bild in dem Rollstuhl... wie furchtbar musste das für ihn sein, gerade für ihn, wo er sich doch gerne so stolz gab! Zum ersten Mal drückte ich mich nicht Trost suchend an Ravens warmen, starken Körper, der abends im Bett immer so schön nach Seife duftete. Zum ersten Mal weinte ich vollkommen lautlos und ließ die Tränen in mein Kissen rinnen, das Gesicht von Raven abgewandt. Etwas hatte begonnen, sich zu verändern. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)