Ausgeprinzt von mystique (∼ Das etwas andere Märchen ∼ SetoxJoey) ================================================================================ Kapitel 3: ... um gegen einen Drachen zu kämpfen ... ---------------------------------------------------- Sie waren getrennt worden. Der Prinz und seine Gefährten hatten ihre Reise fortgesetzt, nachdem Joey seine Wahl getroffen und sie den rechten Weg genommen hatten. Bereits nach wenigen Stunden wurde ihnen die Waghalsigkeit dieses Unterfanges bewusst. Der Weg auf dem sie gegangen waren wurde zunehmend schmaler und während neben ihnen eine Felswand in die Höhe ragte, führte auf der anderen Seite der einzige Weg nach unten – in einen Fluss, der gemächlich zwischen den Bergen hindurchschlängelte. Es traf sie überraschend und unvorbereitet: Ein Steinschlag. Ein Felsen hatte sich weit über ihnen gelöst, hatte andere Gesteinsbrocken mit sich gerissen und wurde zu einer regelrechten Gerölllawine, die ihre Gruppe trennte. Yugi und Marik waren damit beschäftigt gewesen, die Pferde davon zu überzeugen, weiter zu gehen und waren etwas zurückgefallen. Als die Steine begannen, auf sie niederzuprasseln, versuchten die anderen, zurückzulaufen, doch es war zu spät. Bakura und Joey wurden von der Lawine mitgerissen und stürzten in die Tiefe, während Tristan und Duke von Marik, Yugi und den Pferden abgeschnitten wurden. Der Wolf und der Prinz landeten unsanft im Wasser und Joey verloren bei dem Aufprall das Bewusstsein. Joey kam zu sich, als er ein wütendes Grollen neben sich vernahm. Er blinzelte gegen das grelle Sonnenlicht, das ihn blendete und richtete sich desorientiert auf. „Was ist passiert?“ „Wir sind in den Fluss gefallen.“ Bakura stand neben ihm, das Fell durchnässt, die Haltung angespannt. „Und du wärst beinahe ertrunken, wenn ich dich nicht aus dem Wasser gefischt hätte wie einen nutzlosen Frosch.“ Der Vergleich hinkte, doch Joey verkniff es sich angesichts Bakuras Stimmung, den Wolf darauf aufmerksam zu machen. „Wo sind wir?“, fragte er stattdessen und bereute die Frage beinahe, da Bakuras Ausdruck sich noch weiter verfinsterte. „Irgendwo.“ Er schüttelte sich und Wassertropfen prasselten auf Joey, der sich fluchend abwandte. Bakura schien das zu amüsieren und etwas weniger schlecht gelaunt fuhr er fort: „Wir müssen die anderen finden.“ Joey rappelte sich auf und bedauerte, dass Yugi nicht bei ihnen war. So musste er wohl oder übel mit nasser Kleidung weitergehen und hoffen, dass die Sonne ihn weitgehend trocknete. Er sah sich um. Sie waren noch immer in der schluchtähnlichen Schneise, die sich der Fluss mit den vergangenen Jahrtausenden geschaffen hatte, nur war an der Stelle, wo sie sich befanden der Fluss nicht so breit „Weiter flussaufwärts ist eine Höhle“, bemerkte Bakura und streckte seinen Nacken, als versuche er, Witterung aufzunehmen. „Ich weiß nicht, wo sie hinführt, aber einen anderen Weg nach oben habe ich bis jetzt nicht gefunden. Ich kann zwar höher und weiter springen als jedes gewöhnliche Tier, aber mit Ballast wie dir kann ich unmöglich diese Distanz überwinden.“ Joey überging den Seitenhieb, denn er erkannte den wahren Grund in dieser Aussage: „Danke“, sagte er darum und lächelte den Wolf an. „Ich weiß zu schätzen, dass du bei mir bleibst.“ „Bilde dir nichts ein, Mensch“, knurrte Bakura und wandte sich ab. „Ich tue das nur, weil Marik mir sonst den Kopf abreißen würde.“ „Ich verstehe.“ Joey grinste. Wenn es um Marik ging, war Bakura trotz seiner bissigen Kommentare zahm wie ein Hund. Der Prinz folgte Bakura und sie betraten die Höhle. Rasch wurde Joey bewusst, dass er sich nur auf Bakuras scharfe Augen, die im Gegensatz zu seinen auch im Dunkeln noch Konturen wahrnehmen konnten, verlassen musste. Joey empfand es als schrecklich unfair und entwürdigend, sich an Bakura festhalten zu müssen, um nicht gegen die Wände der Höhle zu laufen oder den Wolf zu verlieren. „Wir bewegen uns nach oben und es gibt noch einen anderen Ausgang“, sagte Bakura schließlich nach, wie es Joey vorkam, einer Ewigkeit. „Ich wittere frische Luft, außerdem wird es langsam wärmer.“ Nichts davon war Joey aufgefallen. Eine Weile gingen sie weiter und Joey kämpfte damit, nicht über Steine auf seinem Weg zu stolpern und das Gefühl der Hilflosigkeit zurückzudrängen, das in ihm aufkam, je länger sie in der Höhle waren. Hinter ihnen schabte etwas über Gestein. Unvermittelt blieb der Wolf stehen und sein Körper spannte sich an. „Jemand ist hier“, sagte er leise und Joey erstarrte. Dann sprang ihn etwas von hinten an und er schrie auf. In seiner Panik schlug er nach dem Unbekannten und registrierte erst nach einigen Sekunden, dass Bakura lachte. Der Wolf hatte die Nerven, zu lachen! „Hilf mir gefälligst!“, befahr der Prinz und versuchte, das Wesen zu packen, dass über seine Beine sprang und schließlich auf seiner Brust landete. „Tu etwas!“ „Du kämpfst gegen ein verirrtes Wiesel, oh furchtloser Prinz“, spöttelte der Wolf und Joey wäre ihm am liebsten an die Kehle gegangen. Ein bedrohliches Knurren des Wolfes schlug das Wiesel (wenn es denn tatsächlich eins war) in die Flucht und ließ einen schwer atmenden und nach Luft ringenden Prinzen zurück. „Idiot“, schimpfte er und strafte den Wolf für den Rest ihres Weges durch die Höhle mit Schweigen. Als sie schließlich wieder das Tageslicht erreichten, hatten Joeys Augen sich so an die Dunkelheit gewöhnt, dass er im ersten Moment nichts sah. Dann verschärfte sich seine Sicht und es verschlug den Prinzen förmlich die Sprache. Vor ihnen ragte ein in den Berg geschlagenes Schloss in die Höhe. Das einzige, was sie von dem Schloss trennte war eine alte und höchstwahrscheinlich morsche Hängebrücke. Nie im Leben würde Joey auch nur einen Fuß auf das Gestell setzen. Er warf Bakura einen vielsagenden Blick zu. Der Wolf sträubte sich, doch Joey ließ so lange nicht locker, bis Bakura knurrend einwilligte und den Menschen auf seinen Rücken steigen ließ. Dann nahm er Anlauf, spannte die Muskeln und sprang über den Abgrund. Joey stufte dieses Erlebnis als mindestens so traumatisierend ein, wie das Überqueren der Brücke gewesen wäre. Nie hatte er mehr um sein Leben gebangt als in dem Moment, in dem er auf dem Rücken eines zwielichtigen Wolfes über einen schwarzen Abgrund flog. Mit zitternden Beinen stieg er von Bakuras Rücken und ignorierte den hämischen Kommentar, konzentrierte sich stattdessen auf das Schloss. Es musste das Schloss sein, das er gesucht hatte. Es konnte kein anderes sein. Er war an seinem Ziel. Er warf einen Blick über die Schulter. „Vielleicht sind die anderen ja auch schon hier.“ Bakura wirkte skeptisch und auch Joey wollte seinen Worten nicht ganz glauben, doch er hegte die Hoffnung, die anderen hätten es vor ihnen geschafft und würden hinter dem Portal auf sie warten. Gemeinsam schoben sie die Portaltür auf, die ins Schloss führte und dicht gefolgt von Bakura betrat Joey das Schloss. Er fand sich in einer steinernen Eingangshalle wieder, die der seines Zuhause sehr nahe kam, mit dem einzigen Unterschied, dass alles in dem Schloss von einem dunklen Grau war – der gleichen Farbe wie der Berg, dem das Schloss entsprungen war. Sonnenlicht schien durch die Fester, erhellte das Gestein jedoch nur wenig und spendete lediglich gedämmtes Licht. Das Schloss war heruntergekommen, die roten Teppiche auf dem Boden verstaubt, die Kerzenleuchter und Fackelhalter matt und voller Spinnenweben. Joey durchschritt die Halle und folgte den Treppen mit den Augen in die erste Etage, wo er die weitere Aufteilung aus den Augen verlor. Der Prinz ließ die Halle hinter sich und betrat den Raum, der dem Portal gegenüber lag. Es war ein Festsaal mit einem langen Tisch für Bankette in der Mitte. Die Portraits an der Wand waren mit der Zeit blasser geworden und ließen nur noch mühsam auf die Personen schließen, welche sie abbildeten. Joey sah sich aufmerksam um und kam zu einem logischen Schluss: „Hier lebt niemand.“ Er drehte sich zu Bakura um, nur um festzustellen, dass er alleine war. „Bakura?“ Er erhielt keine Antwort. Auch als er in die erste Halle zurückkehrte fehlte jede Spur von dem Wolf. „Bakura?“, wiederholte er und erklomm die Treppe, auf der Suche nach dem Wolf. In der ersten Etage waren Privatgemächer an langen Korridoren eines Flügels nebeneinander aufgereiht. Joey entschied sich für den Westflügel. „Bakura, das ist nicht witzig.“ Der Prinz wurde zunehmend ungeduldiger. Schließlich erreichte er das Ende des Korridors und stand vor einer weiteren verschlossenen Tür. Er öffnete sie und fand sich in einer alten Bibliothek wieder. „Wow“, entfuhr es ihm, während er eintrat und er sah sich fasziniert um. Meterhohe Regale säumten die Wände und es gab nicht nur eine, sondern gleich drei Ebenen innerhalb der Bibliothek, sodass der Raum mindestens so hoch war wie die Eingangshalle. Am Ende des Raumes führten große Flügeltüren auf einen weiten Balkon. Joey trat an eines der Bücherregale und zog wahllos ein Buch aus der Reihe. Es war so alt, dass er die Schrift nicht verstand, denn sie stammte aus einer anderen Ära. Voller Ehrfurcht blätterte er durch den Band und zuckte zusammen, als sich ein kleineres Blatt aus dem Buch löste und zu Boden segelte. Rasch bückte er sich danach. Noch bevor er sich aufrichtete, merkte er, dass sich etwas geändert hatte. Viel langsamer als er es unter gewöhnlichen Umständen getan hätte, richtete er sich wieder auf. Ein Schauer lief über seinen Rücken. „Was tust du hier?“, fragte eine unbekannte und zweifellos männliche Stimme. Joey spürte die Präsenz der anderen Person dicht hinter such und seine freie Hand wanderte langsam zu dem Schwert an seinem Gürtel. „Versuch es gar nicht erst.“ Der Tonfall war eine spur dunkler geworden, was der Stimme einen drohenden Unterton verlieh. „Eine falsche Bewegung und es wird deine Letzte sein.“ Joey hatte in den vergangenen Wochen so viele Dinge erlebt und hatte so viele gefährliche Situationen durchgestanden, dass er nicht mehr mit der anfänglichen Panik auf derartige Worte reagierte. Mit scheinbarer Gelassenheit straffte er seine Haltung und ließ die Hand, die nach dem Schwert hatte greifen wollen, sinken. Als jedoch kalter Atem von oben seinen Nacken streifte, geriet seine Ruhe ins Wanken. Er drehte sich langsam um. Das Buch entglitt seinen kraftlosen Fingern und landete mit den Seiten voran auf dem Boden. Joey fand sich Angesicht zu Angesicht mit einem schneeweißen Drachen wieder. Einem mindestens sechs Meter hohen Drachen. Er war im richtigen Schloss. Es bestand kein Zweifel daran, dass er das richtige Schloss gefunden hatte. Nur wusste er in diesem Moment absolut nicht mehr, warum er überhaupt hierher gekommen war. Alle Gedanken schienen wie ausgelöscht, alles, was er tun konnte, war starren. Der Drache hatte sich zu ihm heruntergebeugt, sodass sein Kopf auf Joeys Augenhöhe war. Der Blick des Wesens war durchdringend, Joey fühlte sich, als würde man ihm bis ins tiefste Innere seiner Seele blicken, was an dem klaren Saphirblau der Augen liegen konnte. Der Drache betrachtete ihn argwöhnisch. „Es scheint, als wäre ich einem langsamen Exemplar von einem Menschen begegnet.“ Joey öffnete den Mund, doch kein Laut entwich seiner Kehle. Der Blick des Drachens verfinsterte sich. „Ich habe dich gefragt, was du hier tust, Mensch“, wiederholte er seine Frage und obwohl Joey den gefährlichen Klang der Stimme genau hörte, konnte er nicht antworten. Seine Stimme versagte ihm den Dienst. „Ich stelle dir die Frage zum letzten Mal“, knurrte der Drache und spreizte leicht die Flügel, was ihn nur noch bedrohlicher wirken ließ. „Was tust –“ „Du sprichst!“, stieß Joey hervor, als seine Stimme ihm endlich – endlich! – wieder gehorchte. Der Drache verstummte und Joey hatte den Eindruck, die Mimik des Wesen veränderte sich auf die gleiche Art, wie bei einem Menschen, der die Augenbrauen hob. „Ein besonders langsames Exemplar, in der Tat“, sagte er schließlich mehr zu sich selbst als zu Joey. Diese Worte weckten den Prinzen aus seiner Paralyse. „Du bist ein Drache!“ „Du bewegst dich in deinen Erkenntnissen rückwärts, Mensch“, klärte ihn der Drache mit deutlicher Ungeduld auf. „Ich bin ein Drache. Ich spreche. Ich kann fliegen. Und ich frage dich, was du hier tust.“ In diesem Moment erinnerte sich Joey an seine Mission. Seine Hand schloss sich um den Griff des Schwertes und er zog es aus der Scheide, umgriff es mit beiden Händen und stellte sich in Kampfposition. „Ich bin hier, um dich zu erlegen.“ Der Drache grinste ihn tatsächlich höhnisch an, zeigte dabei eine Reihe scharfer Zähne. „Mich erlegen?“, wiederholte er und ein befremdlicher Laut, der beinahe wie ein Lachen klang, drang aus den Tiefen seiner Kehle, ließ Joeys erzittern. Das war das grausame Lachen eines Wesens, das bereits Menschen getötet hatte. „Du willst mich erlegen?“ Das amüsierte Funkeln in den Augen des Drachen wich kalter Berechnung. „Versuch es, Mensch.“ Und der junge Prinz, der sich in den letzten Tagen immer wieder die Worte seines Vaters, die Erwartungen, die an ihn gestellt wurden und die Geschichten über tapfere Helden aus seiner Kindheit in Erinnerung gerufen hatte, griff den Drachen an. Obwohl er wusste, dass er keine Chance hatte. Sein Angriff war der größte Vorteil, den er sich in dieser Situation sichern konnte. Der Drache, zu sehr von der offensichtlichen Waghalsigkeit des Menschen überrascht war, reagierte einen Moment später als gewöhnlich und dieser Moment reichte Joey, um mit dem Schwert auszuholen und es - mit dem Drachen als sein Ziel - niederfahren zu lassen. Die Klinge des Schwertes zerbrach bei dem Aufprall von Metall auf Schuppen. Joey hatte keine Möglichkeit, schockiert auf sein zerstörtes Schwert zu starren, da musste er bereits der Klaue des Drachen ausweichen, die nach ihm schlug. Er erkannte schnell, dass seine einzige Möglichkeit, von dem Drachen nicht auf der Stelle zertreten oder erschlagen zu werden, im direkten Nahkampf lag. So griff er, nachdem er sich unter einem weiteren Hieb mit der Klaue weggeduckt hatte, nach dem Arm des Drachen und hielt sich mit aller Kraft daran fest. Die Bewegung des Schlages half ihm, sich auf den Arm zu schwingen und mit einem Satz den Hals des Drachen zu erreichen. Jedoch war der Hals des Tieres so lang, dass der Drache trotz allem nach ihm schnappen konnte und Joey nur mit viel Glück seinen rechten Arm behalten konnte. Der Drache knurrte und fauchte und Joey wäre von einem Hieb, der seine Schulter streifte, beinahe auf den Boden geschleudert worden, hätten die Flügel des Drachen nicht seine Bewegung gestoppt. Seine Schulter schrie vor Schmerzen und Joey hatte kaum Zeit zu reagieren, da schnellte der Kopf des Drachen zu ihm herum und die blauen Augen fixierten ihn tödlich. Der Prinz reagierte geistesgegenwärtig und tat das einzige, was ihm in seiner Lage noch geblieben war: Er trat zu. Der Zufall wollte es, dass er den Drachen dicht unterhalb seines linken Auges und damit an einem der wenigen ungeschützten Bereiche des Drachenkörpers traf. Ein Ruck ging durch den Körper des Drachen und mit einem wütenden Grollen stolperte das Wesen zurück. Joey verlor den Halt und landete auf einem Tisch, der trotz ihres Kampfes noch ganz geblieben war. Bei seinem Aufprall gab der Tisch nach und Joey brach sich nur deshalb nicht das Rückgrad, weil der Tisch den Großteil der Wucht abgefangen hatte. Trotz allem schossen Schmerzwellen durch seinen Körper, während er stöhnend zur Seite blickte. Mit einem Poltern, begleitet von dem Bersten von Holz und einem Regen von Büchern begrub der Drache eines der Bücherregale unter sich und wirbelte Staubwolken auf. Hustend und nach Luft schnappend rappelte Joey sich auf. Der Drache rührte sich, auch er löste sich langsam aus den Trümmern und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Menschen. Joey wich zurück. „Äh ... Waffenstillstand?“, fragte er hoffnungsvoll. Der Drache knurrte. „Du hast mich zuerst angegriffen, Mensch.“ Ein animalisches Funkeln trat in seine Augen. „Für diese Dummheit wirst du dein Leben lassen.“ Joey erschauderte und folgte dem ersten Reflex. Er sprang auf – ignorierte die Schmerzen – und rannte um sein Leben. Der Drache war direkt hinter ihm, gleich würde er ihn haben, er spürte seinen Atem ... nicht. Der Prinz blieb stehen und drehte sich um. Der Drache war ihm nicht gefolgt. Er hatte sich aus den Trümmern, die einst ein Bücherregal gewesen waren, erhoben, doch machte er keine Anstalten, Joey zu verfolgen. Etwas stimmte nicht. Joey machte einen Schritt auf das Wesen zu. Der Drache hatte seine vordere Klaue angehoben und betrachtete ihre Innenfläche. Als Joey einen weiteren Schritt auf den Drachen zumachte und die Augen konzentriert verengte, sah er den Grund: Ein Splitter. Genauer gesagt ein Stück Holz von der Größe einer menschlichen Hand. Der Drache führte die Klaue zu seinem Maul und versuchte, den Splitter mit den Zähnen zu entfernen, nachdem seine andere Klaue sich als zu groß für den Splitter erwiesen hatte. Erfolglos. Der Drache gab einen wütenden Laut von sich und versuchte es erneut. Je länger der Prinz den Drachen betrachtete, desto mehr bereute er sein unbedachtes Handeln. Die Schuppen des Drachen waren einerseits von einem unnatürlichen Weiß, doch unter den wenigen Strahlen der Sonne, die durch die hohen Fenster fielen, schimmerten sie gleichsam eisblau. Joey trat unbewusst einen weiteren Schritt näher, von der Erscheinung des Drachen mehr und mehr in seinen Bann gezogen. Er hatte versucht, den Drachen zu töten. Wie hatte er so dumm sein können? Ein so .... außergewöhnliches Geschöpf einfach töten zu wollen. Der Drache hatte ihn nicht von sich aus angegriffen, er hatte lediglich auf Joeys Gewalt mit der entsprechenden Menge reagiert. Joey hatte den Drachen provoziert und wenn er ihm auf seine eigentliche Frage geantwortet hätte, hätte der Drache auch nicht versucht ihn zu töten. Zumindest nicht sofort. Joey stellte wieder einmal fest, dass Tristan Recht behalten hatte: Er handelte viel zu unüberlegt, viel zu sehr aus dem Bauch heraus und vor allen Dingen viel zu überstürzt. Das führte zu Situationen wie dieser. Er räusperte sich. „Ich kann dir helfen.“ Der Blick des Drachen richtete sich auf ihn. Joey fragte sich, ob er für einen Moment vergessen hatte, dass er noch im Raum war oder ob er beschlossen hatte, Joey später zu holen. Der Drache verengte die Augen. „Was tust du noch hier?“ „Ich kann dir helfen“, wiederholte Joey seine Worte und hob zur Demonstration des gemeinten seine Hände. „Ich kann den Splitter entfernen.“ „Ich brauche deine Hilfe nicht, Mensch“, fauchte der Drache und ignorierte Joey, nahm stattdessen wieder den Versuch auf, den Splitter mit den Zähnen zu entfernen. Mit wenigen Schritten stand Joey unmittelbar vor dem Drachen. Alle Warnungen seines Verstandes ignorierend legte er eine Hand auf den beschuppten Arm vor sich Der Schwanz des Drachen Schlug krachend neben Joey auf dem Boden. Der Prinz zuckte nicht einmal. „Lass mich dir helfen.“ Es war einer dieser Momente, in denen man trotz der Gefahr, in der man sich befand, mit einem Mal vollkommen klar denken konnte und instinktiv wusste, was man tun musste. „Warum sollte ich dich lassen?“, zischte der Drache, den Kopf nur wenige Zentimeter von Joey entfernt. Joey stand Auge um Auge dem Wesen gegenüber, das vor wenigen Minuten noch mit tödlichen Hieben nach ihm geschlagen hatte. „Du hast mich angegriffen.“ Joey erwiderte den Blick des Drachen fest. „Dafür entschuldige ich mich. Es war in keinster Weise gerechtfertigt, deine Verhandlungsversuche so respektlos zunichte zu machen.“ Der Drache wirkte tatsächlich überrascht. „Aus diesem Grund möchte ich dir helfen. Als Wiedergutmachung.“ Joey versuchte zu lächeln, obwohl er wusste, dass es ihm misslang. Misstrauen lag im Blick des Drachen. „Nenne mir einen Grund, warum ich dir trauen sollte“, fragte er feindselig. „Den gibt es nicht.“ Joey verstärkte den Druck seiner Hand auf den Arm des Drachen und wusste aus irgendeinem Grund, dass dieser es trotz der Schuppen spüren konnte. „Du sollst mich nur lassen. Ich habe keine Waffen und ich bin kein Magier, wie du sicher bemerkt hast. Ich kann dir nicht gefährlich werden.“ Der Drache schien seine Aussage abzuwägen und schließlich beruhigte sich sein peitschender Schwanz und er legte die Flügel an. „Nun gut, Mensch, ich stimme dir zu.“ Joey entspannte sich merklich. „Aber sei gewarnt: Eine falsche Bewegung und du bist Geschichte.“ „Das ist mir klar.“ Der Drache streckte seine Klaue mit nach oben zeigender Innenfläche aus und Joey betrachtete die Wunde. Der Splitter saß tief, doch als er ihn prüfend umfasste stellte er zu seiner Zufriedenheit fest, dass er nicht zu tief saß und Joey noch gut mit einer Hand nach dem Stück Holz greifen konnte. Er hob den Blick und sah den Drachen an, der ihn keinen Moment aus den Augen ließ. „Das wird jetzt etwas wehtun.“ Das Wesen schnaubte abfällig und erwiderte Joeys Blick provozierend. „Wohl eher nicht.“ Joey zuckte die Schultern, umschloss den Splitter und zog ihn in einer schnellen Bewegung aus der Klaue. Auch Drachenblut war rot ... oOo „Mein Name ist Joey.“ Er erhielt keine Antwort. „Ich komme aus dem Königreich des Ostens.“ Nicht einmal ein Blick, der ihn streifte. „Ich bin ein Prinz.“ Nichts. „Sind alle Drachen so stur?“ Ein kurzes Zucken über dem Auge. Treffer. „Sie mich an, wenn ich mit dir rede!“ Der Kopf des Tieres fuhr zu ihm herum. „Hab ich dich gebeten, mich mit deiner Anwesenheit zu strafen?“ Joey verschränkte die Arme. „Du hast mich ignoriert. Ich habe dir mit dem Splitter geholfen, da kann ich doch erwarten, dass du mir Beachtung schenkst.“ Die Miene des Drachen blieb versteinert. „Du hast mich mit deinem Schwert angegriffen und auch wenn von vornherein klar war, dass dieser Versuch ohne sichtbaren Erfolg bleiben würde, so hast du doch vorgehabt, mich zu töten. Erwarte also keine übermäßige Gastfreundschaft von mir.“ „Ich habe mich doch schon dafür entschuldigt.“ „Aber natürlich.“ Der Drache verdrehte die Augen. „Wie unhöflich von mir. Ich verzeihe dir vollauf.“ „Wirklich?“ „Nein.“ „Ach komm schon.“ Der Schwanz des Drachen verfehlte ihn nur um Haaresbreite. Der Prinz zuckte zusammen. „Du bist hier eingedrungen, hast mich angegriffen und strapazierst meine Geduld“, sagte der Drache und breitete die Flügel aus. Im Angesicht der beeindruckenden Spannweite musste Joey schwer schlucken. „Du bist hier nicht willkommen, Mensch. Verlasse umgehend dieses Schloss oder ich werde nicht so nachsichtig sein und dich eigenhändig entfernen.“ Er senkte angriffslustig den Kopf. „Wenn es sein muss, auch in Stücken.“ „Nein.“ „Wie war das?“ Joey wusste nicht genau, woher er den plötzlichen Mut nahm, aber er hatte keine Angst vor dem Drachen. „Nein“, wiederholte er und verschränkte die Arme. „Ich verlasse das Schloss nicht.“ Der Drache schnaubte. „Du missverstehst etwas. Ich habe dir nicht die Wahl gelassen. Du wirst das Schloss so oder so verlassen. Nur etwas weniger lebendig, wenn du nicht von dir aus umdrehst und gehst.“ Die Krallen des Drachen kratzten über den Boden, als er auf Joey zukam. Der Prinz wich keinen Meter zurück, blickte dem Drachen voller Sturheit entgegen. „Wir sind quitt. Ich habe dir geholfen und meine Schuld beglichen. Du hast keinen Grund, mir etwas anzutun.“ „Du wolltest mich töten, Mensch. Als Gegenleistung hast du mir einen Splitter entfernt. Wenn du das als angemessene Gegenleistung siehst, dann hinkt deine Urteilskraft.“ „Du wirst mir nichts antun.“ Der Drache bleckte die Zähne. „Lass es ruhig drauf ankommen.“ Er stand nun unmittelbar vor Joey. Der Prinz spürte den kalten Atem des Drachen auf seinem Gesicht. „Das werde ich.“ Der Drache verlor merklich die Geduld. Er gab einen gereizten Laut von sich. „Fehlt dir jeglicher Überlebenswillen? Ich bin viermal so groß wie du, meine Klauen können dich mühelos zerdrücken.“ Er beugte sich vor, sein Kopf war nun auf einer Höhe mit Joeys. „Was stimmt mit dir nicht?“ „Mit mir ist alles in bester Ordnung.“ Joey spürte ein unwohles Gefühl, als er Auge um Auge dem Drachen gegenüberstand. Er hatte vor dem heutigen Tag noch nie einen echten Drachen gesehen, geschweige denn vor ihm gestanden. Das war erschreckend. Und ebenso faszinierend. „Dann geh.“ „Nein.“ Schneller, als er hätte reagieren können, hatte der Schwanz des Drachen sich um ihn geschlungen. Joey wollte die Arme hochreißen, doch der Druck des Griffs machte ihn bewegungsunfähig. „Dann werde ich dafür sorgen, dass du gehst.“ Joey spürte mit wachsender Beklemmung, wie er den Boden unter den Füßen verlor, angehoben wurde, und sich gemeinsam mit dem Drachen den Flügeltüren näherte. Sie waren breit genug für den Drachen und nun erkannte der Prinz, wie das Wesen überhaupt in die Bibliothek hatte kommen können. Dann standen sie im Tageslicht – vielmehr hing Joey im Tageslicht, nicht in der Lage, sich zu bewegen. Und nicht nur im Tageslicht. Über der Brüstung des Balkons. „Was soll das?!“, fuhr er den Drachen an und musste seinen Kopf so sehr verrenken, um den Drachen entsetzt anstarren zu können, dass er sich sicher war, sein Blick würde die gewünschte Wirkung verfehlen. Was er auch tat. Der Drache feixte. „Wonach sieht es aus?“ „Was immer es werden soll, lass es!“ „Du befindest dich in keiner Position“, zur Verdeutlichung seiner Worte ließ der Drache Joey hin und herschaukeln, ohne dass der Prinz etwas dagegen tun konnte, „um Forderungen zu stellen.“ „Las mich los!“ „Ganz wie du willst.“ Und mit einem entsetzten Aufschrei spürte Joey, wie der Drache den Griff lockerte und ihn fallen ließ. „So habe ich das nicht gemeint!“, schrie Joey den Drachen an, während der Wind ihm in den Ohren rauschte und das Wesen über der Brüstung mit zunehmender Geschwindigkeit immer kleiner wurde. Wenn der Prinz es nicht besser gewusst hätte, hätte er geschworen, den Drachen winken zu sehen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)