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Muscheleffekt

Die Perle liegt im Innern
von

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Kastanien

Die Blätter sind kunterbunt und rascheln unter meinen Füßen, während ich hindurch spaziere. Ich bin auf dem Weg in den Park, weil ich mich mit Hanna zu einem Spaziergang verabredet habe. Wir haben gestern telefoniert, nachdem ich Alice im Wunderland ausgelesen hatte. Sie hat das Buch schon mit zwölf gelesen und ich brauchte unbedingt jemanden, mit dem ich darüber reden kann. Melli eignet sich dafür leider nicht, sie hat mit Büchern wenig am Hut und wenn sie etwas liest, dann vorzugsweise irgendwelche Wälzer über Architektur. Aber mit Architektur kann ich nicht sonderlich viel anfangen.

Die weite Kordhose, die ich trage, passt farblich gut zu den Blättern unter meinen Füßen. Ich summe leise vor mich hin und spiele ab und an mit der Zunge an meinem Unterlippenpiercing herum.
 

Als der Wind mir übers Gesicht streicht und ich dem Treffpunkt mit Hanna langsam näher komme, beginnt in meinem Magen das altbekannte Kribbeln. Wie jedes Mal, wenn ich mich mit ihr treffe, bin ich aufgeregt. Ich freue mich immer wahnsinnig, sie zu sehen, auch wenn sie mir gegenüber so vorsichtig geworden ist, seit ich sie zu diesem Date eingeladen habe. Aber ich bin froh, dass sie unsere Freundschaft nicht einfach über den Haufen geworfen hat, auch wenn sie Angst hat. Ich hab mir fest vorgenommen, ihre Minderwertigkeitskomplexe irgendwann in Schutt und Asche zu zerlegen und ich hoffe wirklich, dass das klappt. Sie hat es verdient, sich selbst zu akzeptieren und zu lieben. Wenn ich ihr dabei helfen kann, dann werde ich das nur zu gerne tun.

Unsere Parkbank, an der wir uns schon gefühlte hundert Mal getroffen haben, rückt in mein Blickfeld, nachdem ich um eine Ecke biege. Der Himmel kann sich zwischen wolkig und klar nicht entscheiden und ich muss unwillkürlich lächeln, als ich Hanna bereits auf der Bank sitzen sehe.
 

Ihre langen Haare hat sie zu einem Pferdeschwanz gebunden, wie immer ist sie ungeschminkt. Sie trägt einen knielangen Jeansrock, darunter eine Strumpfhose. Ihre Füße stecken in halbhohen Stiefeln und ein dicker, dunkelroter Wollschal ist um ihren Hals geschlungen. Ihr unsicheres Lächeln, als sie mich sieht, lässt mir das Herz aufgehen.

»Hi«, sage ich ziemlich gut gelaunt und strahle sie liebevoll an. Wie so oft wird sie knallrot und räuspert sich, dann steht sie hastig auf und streicht unnötigerweise ihren Rock glatt.

»Hallo«, entgegnet sie und wirft mir einen Blick von der Seite zu, als wollte sie prüfen, ob ich ihr zu nahe komme. Ich kann nicht umhin zu schmunzeln und wende mich dann zum Gehen. Sie folgt mir.

Eine ganze Weile lang gehen wir schweigend und ich beobachte sie aufmerksam, während sie den Blick über das bunte Blätterdach schweifen lässt und hin und wieder kaum merklich lächelt, wenn ihre Augen über spielende Kinder oder herum tollende Hunde huschen.
 

Manchmal habe ich das Gefühl, ich bin ein ausgetrockneter Badeschwamm, der jedes bisschen Wasser aufsaugt, das er bekommen kann. Hannas Gegenwart, die Art wie sie lächelt, ihre leuchtenden Augen, ich kann gar nicht genug davon bekommen.

»Hast du Dorian Gray fertig gelesen?«, frage ich sie, als wir an einem Spielplatz vorbei gehen. Sie sieht auf und verzieht das Gesicht ein wenig.

»Immer noch nicht. Aber ich muss mich wirklich zwingen, weiter zu lesen. Diese frauenfeindlichen Sprüche ruinieren jedes Mal meine Laune«, gibt sie zu und ich nicke leicht. Mir ging es beim Lesen genauso.

»Ja, ich erinnere mich. Deswegen hab ich damals beim letzten Drittel schlapp gemacht«, gebe ich zurück und sie lächelt leicht.

»Ich schaff das elende Buch noch. Und dann fang ich mit irgendwas Schönem an«, meint sie. Hanna ist genau so eine Leseratte wie ich. Wenn andere den Fernseher anmachen, um sich zu entspannen, nehmen wir ein Buch in die Hand. Ich weiß, dass Hanna auch manchmal eigene Sachen schreibt, aber leider hat sie mir noch nie irgendwas davon zu lesen gegeben. Ich schreibe nur manchmal Gedichte, wenn ich traurig bin. Allerdings bin ich der festen Überzeugung, dass sie nicht sonderlich gut sind. Aber was macht das schon. Es hilft mir einfach, meine Gefühle auf Papier zu bringen.
 

»Was liest du jetzt nach Alice?«, erkundigt sie sich bei mir und bückt sich nach einer Kastanie, die vor ihr auf dem Boden liegt.

»Mirjam Müntefering. Unversehrt«, sage ich beiläufig und bücke mich ebenfalls, um nach einer Kastanie zu greifen. Sie blinzelt und ich weiß, dass ihr der Titel vermutlich nichts sagen wird.

»Kenn ich gar nicht. Worum geht es da?«, will sie interessiert wissen und ich räuspere mich, nicht sicher, ob ich ihr das wirklich sagen soll.

»Die Kurzfassung ist: Um zwei beste Freundinnen, die sich ineinander verlieben…«, sage ich und beschließe, dass ich die Handlung nicht noch weiter ausbreiten muss, weil sie vermutlich ohnehin jeden Moment glühende Wangen bekommt. Und wirklich. Ihr Gesicht färbt sich wie die Blätter um uns her und sie starrt die Kastanie in ihrer Hand an, als sei es das Außergewöhnlichste, das sie jemals im Leben gesehen hat.

Ich schnappe noch ein paar weitere Kastanien.

»Hast du Lust, Kastanientierchen zu basteln?«, erkundige ich mich. Sie blinzelt verwirrt.

»Kastanientierchen?«, sagt sie irritiert. Ich nicke und lächele.

»Mit Dosenöffner und Streichhölzern und so.«
 

Melli würde uns als kindisch bezeichnen, wenn sie uns sehen könnte, wie wir über den Boden kriechen und Kastanien zwischen den raschelnden Blättern hervor kramen und sie in unsere Jackentaschen stecken. Es sieht sicher merkwürdig aus, wie wir mir ausgebeulten Taschen durch den Park spazieren und überlegen, ob wir uns eine Pizza vom italienischen Imbiss mitnehmen sollen, wenn wir zu mir gehen.

»Was ist deine Lieblingspizza?«, will ich wissen und rieche schon von weitem den Duft nach Käse und Salami.

»Hawaii«, entgegnet sie lächelnd, »und du?«

Ich muss lachen.

»Auch«, sage ich und sie kichert leise. Das Geräusch ist so schön, ich würde sie zu gerne umarmen, aber dann haben sich die Kastanientierchen und die Pizza sicherlich erledigt.
 

Wir beschließen, uns eine große Pizza Hawaii zu teilen und ich zahle für uns beide, weil Hanna es nicht passend hat. Dann gehen wir zügig in Richtung meiner kleinen Wohnung, damit unsere Pizza nicht kalt wird und regen uns unterwegs noch ein wenig über Dorian Gray auf.

Meine Wohnung ist wirklich winzig. Ein Zimmer mit Bad und einer Küche, in der eigentlich nur einer stehen kann. Mein Wohn- und Schlafzimmer hat einen dunklen Dielenboden und helle Wände, ein großes, knautschiges Sofa in beige und einen überfüllten Schreibtisch, über dem eine riesige Pinnwand mit Fotos und Eintrittskarten und anderem Kram hängt. Wir lassen uns aufs Sofa fallen – Hanna mit ihrem üblichen Sicherheitsabstand zu mir, auch wenn er diesmal sogar etwas geringer ist – und öffnen den Karton. Der Mann in der Pizzeria hat uns die Pizza in Achtel geschnitten und wir machen uns nicht erst die Mühe, Teller und Besteck zu holen, sondern nehmen jeder ein Stück in die Hand und essen.
 

Eine ganze Weile lang reden wir nicht. Unsere Jacken mit den prallen Taschen hängen über der Lehne meines Schreibtischstuhls und als wir die Pizza vernichtet haben, stehe ich auf und lege den Karton in die Küche, gehe ins Bad und wasche mir die Hände und Hanna kommt mir nach, um ihre Hände ebenfalls abzuspülen.

»Und jetzt Kastanientierchen!«, sage ich grinsend und sie lacht leise, trocknet ihre schlanken Hände an meinem Handtuch ab und folgt mir. Während ich einen Dosenöffner und Streichhölzer besorge, entleert Hanna sorgfältig unsere Jackentaschen. Mein alter, hölzerner Tisch ist übersät mit Kastanien jeglicher Größe und Form und ich schnappe mir eine kleine Kastanie und bohre ein Loch hinein.

»Wie war die Arbeit heute?«, erkundigt sie sich, während sie konzentriert ein Streichholz in eine Kastanie steckt. Ich hüstele leise.

»Ah, der Schnarcher war wieder da«, erzähle ich und sie gluckst heiter. Ich habe ihr schon hundert kleine Geschichten von meinem Job erzählt. Ich mache eine Ausbildung zur Logopädin und es gibt wirklich unheimliche nette Patienten, die zu uns kommen. Aber es gibt auch wirklich mächtige Vollidioten. Wie den Herrn, der zweimal die Woche mit seiner Frau zu uns kommt, um sein Schnarchen in den Griff zu bekommen.
 

Er selbst würde ja gar nicht zu uns in die Praxis kommen. Aber seine Frau zwingt ihn, weil sie nachts nie ruhig schlafen kann. Die beiden sind einer der Gründe, wieso ich ständig daran erinnert werde, dass es irgendwie schön ist, lesbisch zu sein. Auch wenn es vielleicht auch lesbische Ehepaare gibt, die so komisch sind und ständig nur streiten.

»Und? Ist es mittlerweile besser geworden?«, will Hanna schmunzelnd wissen und fügt ihrer Kastanie ein viertes Bein hinzu.

»Nicht wirklich. Aber er will ja auch eigentlich gar nicht. Ich kann mir vorstellen, dass er sich gar nicht an unsere Anweisungen hält. Es gibt echt anstrengende Leute. Was ist mit dir? Wie geht’s deinem Schützling?«, erkundige ich mich. Der Schnarcher ist eher langweilig. Auch wenn ich meinen Job liebe, höre ich lieber Geschichten über Hannas freiwilliges soziales Jahr. Sie arbeitet mit blinden Kindern zusammen und das Kind, um das sie sich im Moment kümmert, heißt Lina. Hanna vergöttert die Kleine. Und jedes Mal, wenn sie von ihr redet, dann leuchten ihre Augen so schön.
 

»Viel besser. Ich glaube, ich hab sie ein bisschen aufgemuntert. Ich hab ihr aus Alice vorgelesen und ihr den Ausblick aus dem Fenster beschrieben. Sie mag den Herbst, meinte sie, weil er so schön bunt ist und sie sich noch genau an die Farben erinnert«, erzählt Hanna und ich beobachte sie von der Seite, während ich ein Loch in eine Kastanie bohre und dann zwei Kastanien zusammenstecke.

»Was ist das?«, will sie wissen und mustert mein Meisterwerk.

Ich spiele die Empörte.

»Ein Esel! Sieht man das nicht?«

Sie starrt mich an, dann starrt sie meinen Esel an, der nicht zu erkennen ist, weil er lediglich Kopf, Rumpf und vier Beine hat, genauso wie ihre Konstruktion.

»Nein«, sagt sie perplex. Ich muss lachen und knuffe sie in die Seite, was ihr ein Quietschen entlockt. Sie kichert betrachtet den Esel genauer. Meine Hand kribbelt leicht nach der Berührung mit Hannas Pullover. Ihre Körperwärme entfacht Aufregung in mir.
 

»Ich hole Pappe und bastele ihm Ohren«, sage ich amüsiert und stehe auf. Irgendwo in meinem Schreibtisch ist sicher ein wenig Pappkarton vergraben. Ich höre Hanna hinter mir weiter basteln.

»Wie geht’s Melli?«, fragt sie schließlich. Ich habe ihr natürlich von Melli erzählt, auch wenn die beiden sich nur vom Sehen kennen.

»Gut. Sie hat mir vorgestern erzählt, dass Steffi auf mich steht. Und dann musste ich mir wieder ein paar Anekdoten von ihren ausschweifenden Wochenenden anhören«, erkläre ich unbedacht und finde ein Stück rote Pappe. Nachdem ich auch eine Schere und Kleber ans Tageslicht befördert habe, drehe ich mich um und mir fällt auf, dass Hanna noch gar nicht geantwortet hat. Sie sieht irgendwie geknickt aus.

»Steffi«, sagt sie schließlich langsam und räuspert sich verlegen. Ihre Wangen sind – wie so oft – knallrot.

»Ist das nicht… diese Hübsche mit den schwarzen Haaren?«

Ich sehe sie verwundert blinzelnd an. Was ist dieser Unterton in ihrer Stimme?

»Ja. Genau die. Aber Melli sollte eigentlich wissen, dass mich das nicht interessiert«, sage ich behutsam und lasse mich wieder neben Hanna aufs Sofa sinken. Sie sieht mich nicht an, als sie nach der Pappe greift und sorgfältig beginnt, ein paar spitze Katzenohren auszuschneiden.

»Aber sie ist hübsch«, murmelt Hanna leise. Mein Gehirn rastet bei einer schier unglaublichen Erkenntnis ein und ich starre Hanna über die Kastanientierchen hinweg an.

Sie ist tatsächlich eifersüchtig.



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Kommentare zu diesem Kapitel (5)

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Von:  snowwhitedoll
2009-09-22T07:39:59+00:00 22.09.2009 09:39
Das ist ja wunderschön!
Und Hanna ist so süß <3
Melli ist auf ihre eigenen verdrehte Weise toll!
Freu mich, wenns weitergeht ^^

hugs
(ps: endlich mal ne gute shojo-ai story)
Von:  Armaterasu
2009-09-20T20:58:38+00:00 20.09.2009 22:58
das ist total schön geschrieben... gerade wie leo auf dem weg zu der parkbank ist und du das herbstliche wetter beschreibst ^^ ich hoffe, dass auch so ein wetter bei unserer hochzeit ist ^^'' weil, das würde extrem gut passen ^^'' (sorry, das musste ich jetzt erwähnen *drop*)

es ist schön, dass die beiden sich über bücher unterhalten können und somit fast jedes mal eine schöne gesprächsgrundlage schaffen, auch wenn hanna immer wieder prüft, ob leo ihr zu nahe kommt ^^ aber irgendwie ist das süß udn ich kann verstehen, dass bei leo das herz aufgeht ^^ kann ich sehr gut verstehen ^^ (wieviele kapis wird diese ff ungefähr haben? o.O)

dann teilen sich die beiden eine große hawaii pizza... und hanna hält sogar geringeren sicherheitsabstand ^^ und dann beschreibst du die kleine wohnung von leo so gut, dass ich sie mir bildlich richtig gut vorstellen kann ^^ ich mag deinen schreibstil ^^ gerade, weil du die umgebung so gut beschreiben kannst, ohne das es langweilig wird oder wirkt. ^^

ich finde es voll süß, dass die beiden kastanientierchen zusammen basteln, dass hab ich als kind mit meiner mama immer gemacht ^^ und dann kommt die frage nach melli und leo erzählt hanna, dass steffi auf sie steht... und hanna wirkt doch etwas eifersüchtig. warum? hat sie vielleicht auch immer so ein bauchkribbeln, wenn sie bei leo ist? warum findet sie sich selbst nicht hübsch?

ich freu mich tierisch auf das nächste kapitel ^^

GLG
amy
Von:  Youna
2009-09-17T17:09:59+00:00 17.09.2009 19:09
Uhhh...
die beiden sind süüüß *___*
ich finde, dass hanna echt niedlich ist... ich kanns verdammt gut verstehen, dass man sich in sie verguckt :3~
Und ich mag melli XD° (jah kommi zu beiden kapiteln sozusagen >0<° bin erst heute dazu gekommen, des zu lesen :__:°)
also ich mag deine geschichte auf jeden fall~
*g*
Von: abgemeldet
2009-09-16T18:45:21+00:00 16.09.2009 20:45
*seufz* So eine niedliche FF. Ohne komische Ranken und alles möglich, das man gar nicht braucht. *g* Wie schon davor war das Ende des Kapitels sehr nett.
*schmunzel schmunzel*
Von:  Toastbrot
2009-09-16T09:46:27+00:00 16.09.2009 11:46
hannas reaktion auf steffi war total süß
und die beiden sind total süß zusammen
^-^
ich freu mich schon aufs nächste kapi

lg Kiyoko


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