Muscheleffekt von Ur (Die Perle liegt im Innern) ================================================================================ Kapitel 1: Argumente -------------------- »Ich verstehe immer noch nicht, was du an ihr findest. Du kannst doch wirklich jede haben«, sagt Melli und kaut ungeduldig auf ihrem Bleistift herum, während sie damit beschäftigt ist, eine Skizze für ihre Hausarbeit anzufertigen. Ich betrachte mäßig interessiert ihre Entwürfe und wiege den Kopf leicht hin und her, wobei mir ab und an einige meiner widerspenstigen Locken ins Gesicht fallen. Gedankenverloren spiele ich an meinem Unterlippenpiercing herum und zeichne unsichtbare Muster auf den Stoff meiner zerrissenen Jeans. »Ich will aber nicht jede haben«, sage ich schließlich und sehe Melli an, die ihre Stirn in Falten gelegt und die Augenbrauen zusammengezogen hat. Die blonden, kurzen Haare stehen ihr vom Hinterkopf ab und ihre Stupsnase ist übersät mit Sommersprossen. »Das weiß ich wohl. Ich kenne keinen gottverdammten Menschen auf dieser Welt, der wählerischer ist als du. Und das ist kein Kompliment«, erklärt sie mir im Brustton der Überzeugung und hebt ihren Kopf, um mich mit immer noch zerfurchter Stirn anzublicken, als sei ich ein überdurchschnittlich großes, wissenschaftliches Problem, das die Welt bewegt. »Es ist nicht schlecht wählerisch zu sein. Du steigst mit jeder ins Bett«, informiere ich sie nur für den Fall, dass sie das vergessen hat. Sie schnaubt. »Ich gehe nicht mit jeder ins Bett. Letztes Wochenende hab ich Katie einen Korb gegeben. Falls du das nicht mitbekommen haben solltest«, entgegnet sie ungehalten. Offensichtlich raubt ihr diese Hausarbeit bald den letzten Nerv. Ich muss lachen. Ich liebe meine beste Freundin. Aber ich kann nicht leugnen, dass sie ein kleines Flittchen ist. Ich meine das nicht böse. Es mangelt mir nur an einem besseren Wort dafür. Denn natürlich nimmt sie kein Geld für das, was sie tut. Am Wochenende. Und an den Tagen zwischen den Wochenenden. Sie hat das auch gar nicht nötig. Ihre Eltern sind nämlich Architekten. »Du hast ihr nur einen Korb erteilt, weil du wusstest, dass sie vorher schon mit Nadja rumgeknutscht hat«, meine ich belustigt. Sie schnaubt. »Das kann ich sowieso nicht verstehen. Wer würde schon mit Nadja knutschen wollen? Niemand! Nadja hat Hasenzähne und Segelohren!« Ich kann darüber nur den Kopf schütteln. »Vielleicht ist sie ja auch einfach nur intelligent und sehr nett?«, frage ich sie beiläufig. Melli verdreht die Augen, als hätte ich etwas komplett Dummes gesagt. »Ehrlich. Nett und intelligent ist ja toll und wünschenswert. Aber im Bett brauche ich keine Intelligenzbestie. Und nett muss sie auch nicht sein. Aber Lecken sollte sie können.« Ich fahre mir mit der Hand über das Gesicht und schüttele den Kopf. Manchmal wünsche ich mir, dass Melli sich so richtig verliebt. In ein Mädchen, das nicht aussieht wie ein aus dem Katalog bestelltes Model, sondern völlig normal. So wie das Mädchen, in das ich mich verliebt habe. Hanna heißt sie. Und sie ist mit Abstand das schönste Mädchen, das ich je in meinem Leben getroffen habe. Wenn ich sie aus Mellis Augen beschreiben müsste, dann würde ich sagen, dass sie lange, hellbraune Haare, grün- braune Augen und ein unscheinbares Gesicht hat. Zugegebener Maßen würde Melli auch sagen, dass Hanna zu wenig Oberweite und zu viel Hüfte hat. Aber ehrlich gesagt, interessiert mich Mellis Meinung zu diesem Thema herzlich wenig. Also sage ich zu dem Kommentar mit dem Lecken lieber nichts und betrachte den Himmel über unseren Köpfen. Es ist Herbst und der Himmel ist azurblau. Der Park, in dem wir sitzen, ist voller Menschen, die lachen und schwatzen und Hunden beim herumtollen zusehen und ich betrachte all diese Menschen ganz anders, als Melli. Melli sieht immer nur die Muschel. Ich interessiere mich lediglich für die Perle. Aber das hat sie noch nie verstanden und ich habe es aufgegeben mich zu erklären. Während sie eifrig auf ihrem Block herumkritzelt, lasse ich mich nach hinten ins Gras sinken und betrachte das bunte Blätterdach über meinem Kopf. Hanna mag den Frühling lieber als den Herbst. Ich mag den Herbst. Ich habe im Frühling versucht, sie zu einem Date einzuladen, aber alles, was sie getan hat, war rot anzulaufen und panisch davon zu hasten, als wäre ich ein blutsaugendes Monster. Nicht, dass sie etwas gegen Lesben hätte. Ich weiß, dass sie sehr tolerant ist. Sie hat nur irgendwie Angst davor, selbst lesbisch zu sein. Auch wenn sie es mir gegenüber schon halb zugegeben hat. Vielleicht hätte ich ihr nicht erzählen sollen, dass ich mich in sie verguckt habe. Das hat alles sehr viel komplizierter gemacht. Wir haben uns witzigerweise beim Blutspenden kennen gelernt. Sie hat A negativ. Also so ziemlich das seltenste, was es gibt. Ich habe stinknormales 0 positiv. Meine Armreifen rasseln, als ich den Arm hebe und mir ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht streiche. Sich mit Hanna zu unterhalten, ist toll. Zwar ist Melli meine beste Freundin, aber über Themen wie Politik, Weltanschauung, Religion und Liebe rede ich lieber mit Hanna. Wobei ich letzteres aufgegeben habe, seit sie so allergisch auf meine Gefühle reagiert. Ich bilde mir immer noch ein, dass sie eigentlich mir gegenüber nicht abgeneigt ist. Immerhin redet sie noch mit mir. Nur hält sie einen Meter Sicherheitsabstand und wird regelmäßig rot, wenn ich sie länger als drei Sekunden ansehe. »Steffi steht übrigens auf dich«, murmelt Melli vertieft in ihre Arbeit und ich sehe mich genötigt, mich wieder hinzusetzen, weil ich meinen Gesprächspartner gern ansehe, während ich mich unterhalte. »Wirklich? Das tut mir Leid«, antworte ich und meine es auch so. Denn wer immer auch auf mich steht hat wirklich Pech gehabt. Ich bin mit Haut Haaren einem Mädchen verfallen, das sich selbst für hässlich und unscheinbar hält. »Wieso tut dir das Leid? Sie ist eine Granate im Bett«, gibt Melli nachdenklich zurück und schnappt sich ihr Radiergummi. Ich verdrehe die Augen. »Allein, weil sie mit dir geschlafen hat, finde ich sie vollkommen uninteressant«, erkläre ich ihr sarkastisch und Melli lacht laut auf, sieht mich mit funkelnden Augen an und ich frage mich, wann endlich der Tag kommen wird, an dem sie mir erzählt, dass es das eine Mädchen gibt, das ihr den Kopf verdreht hat. »Dein Pech. Ich hätte nichts dagegen, sie noch mal zu haben«, meint sie und legt ihren Block beiseite. Dann verschwindet ihr Grinsen und sie beugt sich verschwörerisch vor. »Sie ist hübscher als Hanna«, sagt sie. »Aber nicht so umwerfend«, gebe ich schlicht zurück. »Steffis Brüste sind sehr hübsch«, meint sie. »Hanna kennt sich wunderbar mit Literatur aus«, erkläre ich scheinheilig. »Steffi hat ein Zungenpiercing.« »Hanna spendet für krebskranke Kinder.« »Steffi hat lange Beine.« »Hanna kann Blindenschrift lesen.« Melli stöhnt entnervt auf und schnappt sich erneut ihren Block. »Ich weiß echt nicht, was ich bei dir noch machen kann«, sagt sie. »Aufgeben«, schlage ich grinsend vor. Das wird wohl das Beste sein. Ich bin sowieso unverbesserlich und unrettbar verschossen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)