100 Themen Herausforderung von Karopapier ================================================================================ Kapitel 5: #012 - Einhorn ------------------------- Es war einmal ein Einhorn, das war so weise und rein, wie es selten ein Einhorn gewesen war. Es wusste so viel, dass Lebewesen aus der ganzen Welt zu ihm kamen, um von ihm Rat zu bekommen. Eines Tages aber kamen zwei Kinder in den Wald des Einhornes. Sie riefen es und setzten sich neben es, um ihm ihre Fragen zu stellen, und das Einhorn legte sich zu ihnen. "Sag, Einhorn", fragte der Junge und legte fragend den Kopf schief, "wie alt bist du?" Das Einhorn schüttelte nur die Mähne. "Ich bin so alt, dass sich niemand je die Mühe gemacht hätte, die Jahre zu zählen", sagte es. "Sag, Einhorn", fragte nun das Mädchen, "kannst du denn zaubern?" "Nein, zaubern kann ich nicht", antwortete das Einhorn. "Jedenfalls nicht mit Magie. Aber ich kann dank meiner Weisheit Wunder tun; dank mir fangen Stumme wieder an zu sprechen, Ängstliche fassen neuen Mut und Verzweifelte erkennen den Wert ihres Lebens." "Sag, Einhorn", fing der Junge wieder an, "kannst du glitzern?" Nun war das Einhorn wirklich empört. "Warum sollte ich glitzern?", fragte es trotzdem bemüht freundlich. "Nein, meine Lieben. Ich glitzere nicht – ihr könnt es selbst sehen, wenn ihr genauer hinschaut. Nur meine Weisheit strahlt aus sich heraus, doch lediglich im übertragenen Sinne." "Sag, Einhorn", hob nun das Mädchen wieder an, "wenn du schon nicht glitzern kannst, warum bist du dann nicht zumindest rosa?" Das Einhorn holte tief Luft und bemühte sich, ruhig und gelassen zu bleiben, doch es fiel ihm schwer. "Das liegt daran, dass meine Existenz nichts mit dem Kitsch der Kinderbücher zu tun hat, die man im Gemeinen in der Menschenwelt zu lesen pflegt. Meine Besonderheit ist meine Weisheit, nicht mein Aussehen. Allein mein Horn ist außergewöhnlich, doch auch das Horn ist natürlicher Farbe." "Wenn du nicht rosa bist und nicht glitzern kannst, bist du doch nur ein gewöhnliches Pferd mit einer seltsamen Anomalie", sagte der Junge herablassend. "Wozu nutzt dir Weisheit, wenn du trotzdem ein hässliches Ding auf vier Beinen bist?" Nun wurde es dem Einhorn eindeutig zu viel. "Immerhin bin ich keine überhöhte Projektion eines unreifen Geistes!", rief es aus. "Das ist bedeutend mehr, als die restlichen Anwesenden von sich behaupten können!" Die Kinder schüttelten über so viel Dummheit nur die Köpfe. Das Einhorn konnte bei Weitem nicht so weise sein, wie es behauptete. Immerhin waren die Kinder noch über diese Galaxie hinaus für ihren Mut, ihr Können und ihre Heldentaten bekannt! Sie beschlossen, zu drastischen Maßnahmen zu greifen, um das Tier zu retten. Während das Mädchen mit ihrer übermenschlichen Schönheit das Einhorn in ihren Bann schlug, setzte der Junge ihm eine wohldosierte Portion Schlafmittel intravenös, sodass das plumpe Wesen direkt einschlief und sie genug Zeit hatten, um ihm einen Helm aufzuziehen, an dem verschiedenste Drähte hingen. Diese Drähte verbanden den Helm mit einem kleinen Kasten, auf den die zwei nun starrten. "Das volle Programm?", fragte das Mädchen kalt. "Das volle Programm", bestätigte der Junge. Dann drückten sie einen kleinen Knopf und das Unvermeidliche begann. Es dauerte eine Weile, bis das Einhorn wieder zu sich kam. "Wie geht es dir?", fragte der Junge es. "Oh, es geht mir wunderbar", sagte das Einhorn und sprang sofort voller Energie auf seine vier Hufe. "Nur muss ich gerade feststellen, dass ich doch die ganze Zeit über sehr hässlich gelebt habe... ich brauche dringend eine Grunderneuerung!" So sprach es und besah sich den Teil seines Körpers, den es sehen konnte. "Was meinst du?", fragte das Mädchen. "Nun", begann das Einhorn, "zunächst einmal sollte man die Farbe ändern. Weiß... wer trägt schon noch weiß? Rosa ist die Farbe der Saison! Dann sollte man an meinem Horn etwas machen. Es ist so schmucklos. Eine geschwungene Rille, die sich vom Hornansatz bis zur Spitze am Horn hinaufschraubt, wäre angebracht, und etwas Glitzer könnte ich auch vertragen. Außerdem ist mein Fell zu struppig und hart. Es könnte etwas Flausch gebrauchen – ein guter Waschsalon wäre wahrlich vonnöten. Was meint ihr dazu?" Die Kinder stimmten ihm zu und zeigten ihm den Weg, den sie gekommen waren um es zu treffen. Die zwei waren guter Laune, nur das Einhorn war sehr nachdenklich gestimmt. "Was meint ihr?", fragte es nach einer Weile schüchtern. "Ich fühle mich doch recht einsam, und ein erotischer Gefährte wäre sicherlich das Richtige. Kennt ihr nicht einen Untoten, der mir gefallen könnte?" "Oh, da weiß ich Rat!", rief das Mädchen fröhlich. "Warte nur, bis wir angekommen sind, er wird dir sicher gefallen! Er glitzert und hat seidiges, weiches, dunkles Haar..." "Oh, das klingt wundervoll!", stieß das Einhorn begeistert aus. "Ich kann es kaum erwarten!" Der Junge sah unsicher zum Mädchen hinüber. "Und was machen wir zwei, Mary, wenn wir wieder zu Hause sind?" "Das gleiche wie jeden Abend, Gary", antwortete Mary selbstbewusst. "Wir versuchen, die Weltherrschaft an uns zu reißen!" Und so ging das ungleiche Trio langsam der sich dem Horizont zuneigenden Abendsonne entgegen... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)