100 Themen Herausforderung von Karopapier ================================================================================ Kapitel 1: #001 - Zahnschmerz ----------------------------- Er sah den Zahn an, der auf seiner Handfläche lag. Dieses Ding, das so lange Teil seines Körpers gewesen war, jetzt lag es da und sah zu ihm herauf. "Erinnerst du dich daran, wie ich dir gewachsen bin und du so große Schmerzen hattest?", fragte der Zahn ihn. "Du hast die ganze Zeit auf einer harten Brotkruste herumgekaut, weil das das einzige war, das dir deine Schmerzen halbwegs genommen hat. Und trotzdem hattest du das Gefühl, dass es ewig dauert, bis ich endlich durch die Oberfläche deines Zahnfleisches durch bin, ich habe es gefühlt. Es tut mir leid dass ich dir wehtun musste, aber es ging nicht anders. Es war wichtig, weil du meine Hilfe noch Jahre später brauchen würdest. Und das wusstest du genauso gut wie ich, sonst hättest du mir nicht geholfen, freizukommen. Später bist du das eine Mal hingefallen, weißt du noch? Ich bin kaputtgegangen und du musstest zum Zahnarzt. Herrje, wie du geweint hast... dabei hatte ich viel größere Schmerzen als du und habe geblutet wie ein Schwein, und trotzdem habe ich den Mund gehalten. Hinterher waren wir beide unglaublich erleichtert, als das abgebrochene Stück einfach wieder angeklebt werden konnte. Nun gut, einfach ist übertrieben, aber es ging recht gut. Zumindest wenn man sich anschaut, wie schlimm es um mich zu stehen schien. Oder erinnerst du dich an die Prügelei auf dem Schulhof, bei der du so auf den Asphalt gefallen bist, dass wir beide Angst hatten, du könntest mich ganz verlieren? Ich dachte wirklich, das wäre mein Ende... ich habe gewackelt und gewackelt und der Zahnarzt musste mich verarzten und du durftest mich nicht mehr belasten. Das war eine wirklich harte Zeit. Eigentlich ist es ein Wunder, dass du mich so lange behalten hast. Denn die Episode mit dem Türrahmen kam ja auch nicht allzu lange danach. Deine Affinität dazu, sinnlos gegen Gegenstände zu rennen, hätte mich dutzende Male ins Grab bringen müssen. Ich verstehe nicht, wie ich so viel Glück haben konnte. Und erinnerst du dich daran, wie dein Onkel einen Zahn verloren hat, weil er in das selbstgebackene Brot deiner Schwester gebissen hat und erst hinterher zugegeben hat, notgedrungen, dass es doch etwas zu hart war? Ich habe durchgehalten! Und das, obwohl ich so oft schon fast ausgefallen wäre, obwohl ich eine Bruchstelle hatte und theoretisch der erste Zahn hätte sein müssen, der aufgibt. Aber nein, ich habe alles mitgemacht. Von ekelerregenden Speisen über Säureangriffe, weil du erbrochen hast, bis hin zu Überbeanspruchung. Alles. Und nun stehst du da mit deinen 35 Jahren, mich in deiner Hand. Ich schätze, es heißt Abschied nehmen. Ich bin gar nicht mal so traurig darum. Auch wenn ich immer mein Bestes gegeben habe, dein Egoismus und deine Faulheit haben dazu geführt, dass ich langsam aber sicher gestorben bin. All die faulen Stellen, der gesamte Karies geht auf dein Konto. Ich habe nicht einmal an einer Stelle gestanden, die schwierig sauberzuhalten war. Ich war ein Musterzahn, wie man ihn selten sieht. Aber irgendwann ist es selbst für einen Musterzahn zu viel. Irgendwann kann selbst der beste Zahn nicht mehr ausgleichen, dass man ihn nicht putzt. Und wir wissen beide, dass die anderen Zähne folgen werden. Nach und nach, aber absolut sicher. Und es ist ganz allein deine Schuld..:" Der Mann sah den Zahn an. Tränen schimmerten in seinen Augen, nicht nur wegen der Schmerzen, die dumpf in seinem Mund pochten. Er wusste, dass alle Punkte, die der Zahn aufgelistet hatte, absolut wahr waren. Und dass der Zahn so einiges ausgelassen hatte, das mindestens genauso schlimm für seine Gesundheit gewesen war. Seine Hand verschwamm vor seinen Auge und wurde wieder klar, als ihm eine Träne die Wange hinunterlief. Er hatte sich so kindisch verhalten. Und nun war es zu spät. Das einzige, für das es noch nicht zu spät war, war ein Zugeständnis. "Ich weiß." Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)