100 Themen Herausforderung von Karopapier ================================================================================ Kapitel 11: #074 - Sonderbar ---------------------------- Mein Name ist Melina, ich bin siebzehn Jahre alt und stark übergewichtig. Wie viel ich wiege, weiß ich nicht, aber ich will es auch nicht wissen. Ich kann nicht mehr in normalen Läden einkaufen gehen, meine Größe führt kein Geschäft. In Läden für Übergewichtige finde ich noch Kleidung, die ich anziehen kann; schön sieht sie nicht mehr aus. An meinem ganzen Körper bricht mir der Schweiß aus, wenn ich auch nur andeutungsweise mehr Strecke laufe als bis zum Bad und zurück zu meinem Bett. Arbeiten kann ich schon lange nur noch am Computer, doch das Sitzen schnürt mir die Luft ab. Für alles, was mehr ist als Sitzen, ist mein Körper zu ungelenk geworden. Meine Gelenke sind kaputt, meine Haut ist kaputt, mein Herz wird schneller alt als es sollte. Sehr lang werde ich nicht leben. Was ich gerne mache? Ich spiele gerne Computerspiele und chatte viel. Im Internet ist es egal, wie viel du wiegst. Keiner sieht dich, jeder lernt dich ohne jegliche oberflächlichen Vorurteile kennen. Es gibt kein hinter deinem Rücken geflüstertes "schau dir mal die fette Kuh da an". Jeder wird nach dem beurteilt, was wirklich wichtig ist: seinem Charakter. Du musst keine Fotos hergeben, wenn du nicht zu 100% dahinter stehst. Du bist automatisch selbstbewusster, traust dich mehr. Du gehst mehr aus dir heraus, weil niemand dich prinzipiell verurteilt. Wenn ich in einem Chat jemandem sage, dass ich meinen Nachtisch genieße, bekomme ich für gewöhnlich guten Appetit gewünscht. Vielleicht noch ein "ich hasse dich" mit Zwinkersmiley, weil mein Gesprächspartner gerade keinen Pudding essen kann. Im realen Leben werde ich angeekelt angesehen, wird mir hinterhergetuschelt ich bräuchte mir so ja wohl kaum Gedanken zu machen, warum ich nur schon wieder zugenommen habe. Mir spöttische Blicke zugeworfen, wenn ich mich gesund ernähren will... "Als ob das bei der noch hülfe." Es ist egal, was ich tue. Solange ich zugebe, dass ich ein Lebewesen bin und Energie brauche um zu funktionieren, stoße ich auf Ablehnung. Ich soll Sport machen, wird mir gesagt. Von denen, die ihr Gewissen erleichtern wollen, indem sie mir gute Ratschläge geben. Dass ich es nicht tun kann, weil meine Gelenke und mein Kreislauf da nicht mitmachen, daran denkt niemand. Was bleibt mir da noch? Schwimmen. Alles, was im Wasser stattfindet. Aber wenn ich erst einmal im Wasser bin, kommt wieder der Spott, die dummen Kommentare, die bösen Blicke. Es ist egal, was ich mache: Es ist falsch. Was ich mache, wenn meine Eltern nicht mehr für mich sorgen können, weiß ich nicht. Daran will ich aber auch nicht denken. Alleine leben kann ich nicht, und einen Mann zu finden kann ich wohl auch vergessen. Wer will mich schon? Man kann von niemandem erwarten, sich das Leben so zu versauen. Solange ich lebe, müsste sich mein Partner um mich kümmern. Warum sollte dann noch jemand mich nehmen wollen, wo es doch so viele bessere Möglichkeiten für denjenigen gibt? Ich bin auf ewig verdammt, Gefangene in meinem eigenen Körper zu sein. Mein Name ist Diana. Ich bin sechzehn Jahre alt und so ziemlich jeder nennt mich Jana. Meine Eltern hatten einen heftigen Lady-Di-Komplex, ich hasse es wenn sie mich bei meinem richtigen Namen rufen. Sie sind Gott sei Dank die einzigen; bei meiner restlichen Verwandschaft und meinen Freunden habe ich inzwischen erfolgreich durchgesetzt, dass sie mich bei meinem Spitznamen rufen. Und den Leuten, die ich neu kennenlerne, stelle ich mich sowieso nur noch als Jana vor; das passt schon. Meine Figur ist ganz okay. Ich wiege bei einer Größe von 1,65 etwa 41 kg, meistens aber eher 40,6. Das einzige, was ich an meiner Figur nicht mag, sind mein fetter Arsch und der Babyspeck auf den Hüften, aber ich habe mich letzte Woche im Fitnessstudio angemeldet und ernähre mich gesünder. Ich weiß, wie schwer es ist abzunehmen, aber ich weiß auch dass ich es schaffen kann. Ich habe schon öfter abgenommen, wenn man nur ein wenig Disziplin hat geht das recht einfach. Der Frühstückskakao fällt die nächsten 3 Wochen wohl flach. So viel Fett am frühen Morgen beschwert eh nur unnötig, mal sehen ob ich mich durchringen kann, auf Tee umzusteigen. Meine Eltern sind jedenfalls in der Beziehung unglaublich spießig. Ständig muss ich mir von meiner Mutter anhören, mein BMI wäre zu niedrig, ich müsste mich ausgewogener ernähren, blabla. Sie als Ärzte sehen hinter jeder Ecke gleich den Teufel lauern. Dabei steht doch eh überall, der BMI sei nur eine Art Anhaltspunkt - also auf gut Deutsch, den kann man so oder so in die Tonne hauen. Außerdem ist meine Mutter so fett dass mich ihre Argumentation nicht wundert, wenn ich bei der "Figur" jemanden wie mich neben mir stehen hätte, wäre ich auch frustriert. Tja, und dann sind da natürlich noch meine Freunde. Alle beschissen, alle drogenabhängig, Säufer, Asoziale. Nur weil die eben nicht so steif sind wie meine Eltern. Und der einzige von denen, der Drogen nimmt, ist Janosch, aber erstens nur ab und zu mal ganz selten und auch keine harten. Alkohol ist da viel gefährlicher. Er ist echt ein süßer Typ, ich wünschte wir wären zusammen, aber nach der Nacht in der "Beatbox" hat er sich nicht mehr gemeldet. Demletzt meinte mein Alter sogar, dass ich rumlaufe wie die letzte Schlampe. Er tut gerade so, als hätte er noch nie Schuhe mit Absatz gesehen. Wir hatten ziemlich Zoff und haben uns den ganzen restlichen Abend nur noch schreiend unterhalten, aber meine Freunde fanden die Schuhe cool. Und bei so einem prüden Vater ist doch wohl klar, auf wen ich mich eher verlasse, oder? Und solange ich in der Schule noch gute Noten habe, habe ich meine Pflicht erfüllt. Nur manchmal fühle ich mich etwas einsam. Mit meinen Alten kann ich, wie gesagt, nicht reden. Janosch ist wohl Geschichte und Manu ist nicht so der ernste Typ. Er meint immer, ich solle nicht so tun als ginge es nur um mich und meine Probleme. Es gäbe noch andere Leute, denen es mieser ginge als mir, und die würden auch nicht jammern. Hat er ja auch Recht, irgendwie. Die einzige, die mir hilft, ist Ellie. Ellie hat immer was in petto. Sie will auch abnehmen, genau wie ich, und meinte jetzt sie würde mir "Beistand leisten", wie sie sagte. Jetzt gehen wir jeden Morgen vor der Schule laufen, zusammen. Man fühlt sich gleich viel besser und richtig befreit, im Kopf und so. Dann werde ich auch direkt das Kilo wieder los, das ich seit dem letzten Fitnessstudiotermin zugenommen habe. Und danach werde ich so richtig schön schlank... Mein Name ist Aileen, ich bin achzehn und ja, ich habe Übergewicht - ja und? Ich glaube, wenn ich auf mein Idealgewicht kommen wollte, müsste ich etwa 20kg abnehmen. Wie viel genau weiß ich nicht, aber das interessiert mich auch nicht. Oder besser gesagt: Nicht mehr. Es gab eine Zeit, in der ich penibel darauf geachtet habe, wie viel ich abnehmen müsste. Bis ich mich eines Tages mit mir selbst an einen Tisch gesetzt und Tacheles geredet habe. Da ist mir das erste Mal bewusst geworden, dass ich diesen ganzen Abnehmwahn nie für mich gemacht habe. Immer nur für die, die mich umgaben. Und somit diejenigen, die es eigentlich gar nicht zu interessieren brauchte, wie viel ich wirklich wog. Sicher, es gibt immer Momente, in denen ich am liebsten 30kg weniger wöge, auch wenn das bedeutete, dass ich Untergewicht hätte. Wenn ich in Kaufhäusern stehe und mir selbst die größte Größe nur knapp passt zum Beispiel. Oder Leute in meiner Umgebung anfangen zu lachen und ich nicht weiß, über wen oder was. Aber will ich mit solchen Menschen dann wirklich etwas zu tun haben? Sicher nicht! Wer mich nicht so will, wie ich bin, hat mich anders gar nicht erst verdient. Schließlich bin ich nicht ein wesenloses, übergewichtiges Etwas. Ich bin hilfsbereit. Zuverlässig. Höflich. Ich rauche nicht(s), ich betrinke mich nicht sinnlos und weiß, wo meine Grenzen sind. Ich bin pünktlich, weiß viel - wenn auch nicht immer das, was in der Schule gefragt ist, in der Beziehung bin ich ziemlich faul - und muss es trotzdem nicht jedem auf die Nase binden. Falsche Bescheidenheit ist nicht meins; ich weiß, dass ich eine gute Malerin bin und ich weiß auch, dass meine fotografischen Kenntnisse mehr als einfach nur passabel sind. Aber ich bin auch keine Angeberin, die jedem beweisen muss, wie toll sie ist. Wozu sollte ich auch? Ich habe gute Freunde, denen scheißegal ist, wie ich aussehe oder wie viele Preise ich gewonnen habe. Sie wissen, dass ich ein Ohr für sie offen und im Ernstfall ein Bett für sie frei habe. Egal ob ich gerade mit ungewaschenen Haaren oder Hochsteckfrisur durch die Gegend laufe. Und daran wird sich auch so mir nichts, dir nichts nichts ändern. Egal, wie viel ich noch zunehme. Ich weiß, dass es nicht leicht ist, mit Übergewicht zu leben. Aber wenn ich immer nur den einfachen Weg gehe, werde ich nie da ankommen, wo ich hin will. Und das ist ja wohl auch nicht das Ziel des Ganzen... Sonderbar? Ich bin nicht sonderbar. Oder zumindest nicht sonderbarer als ein Mädchen, das so wenig Energie hat, dass es auf seinen dürren Beinen kaum noch laufen kann. Ist es nicht eher sonderbar, dass dieses Mädchen in seiner Haltung noch bestätigt wird? Eines kann ich euch sagen: In diesem Affentheater spiele ich nicht mehr mit. Nie wieder! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)