Die Geschichte des legendären Sullivan O'Neil von Izaya-kun (Das Tagebuch eines Gesuchten) ================================================================================ Kapitel 40: Tote Rote und noch mehr Tote ---------------------------------------- Kaum hatte ich mit der linken Hand losgelassen, packte mich jemand am rechten Handgelenk. Man zog mich mit aller Kraft und mit aller Mühe hinauf. Ich war geschwächt und zitterte vor Angst und Verwirrung, so war ich nicht in der Lage meinem Retter irgendwie zu helfen. Die Rinne drückte mir schwer gegen die Brust und Pfeile hagelten durch meine hilflos zappelnden Beine. Ich hörte sie ins Gestein schießen und wie unten Hektik ausbrach, als ich mein Ziel scheinbar erreicht hatte. Lange lehnte ich auf dem Bauch, ehe ich mich auf den Rücken rollte und Nevar keuchend ins Gesicht starrte. „Ihr seid…noch da?“, flüsterte ich dabei fast tonlos. Er grinste nur und blieb neben mir stehen. Wie ich war er an das schiefe Ziegeldach gelehnt. Zwischen den Tonteilen befanden sich Dreck und Moos und ich hatte Angst, würde ich mich bewegen, würde ich samt Überdachung in die Tiefen stürzen. Der Boden war für mich nicht mehr sichtbar. Alles, was ich erkannte war die Rinne, verunstaltet durch mein unbeholfenes Gehampel. Dann begannen die Schmerzen mir langsam bewusst zu werden. Stöhnend sah ich auf meinen blutigen Zeh, dann auf meine geschundenen Handflächen. Es wollte nicht aufhören zu brennen und ich wagte es nicht, die Hände zu schließen. Nevar musterte die Wunden kühl, ehe er leise sagte: „Es sieht schlimmer aus, als es ist.“ „Wieso habt Ihr mir nicht geholfen?“, als ich ihn ansah merkte ich, wie verschwommen mein Blick war. Durch die Anstrengungen waren mir Tränen in die Augen gestiegen. Zu meiner Erleichterung begann es leicht zu regnen, weswegen die wenigen Tränen nicht weiter auffielen. Nevar sah zum Rand, über welchen ich gekrochen war. „Das habe ich. Keiner weiß, dass ich hier bin. Ein Vorteil. Sie suchen Euch, nicht mich. Zieht Euren Umhang aus.“ Von unten her drang lautes Rufen nach oben. Die Rotröcke suchten einen Weg hinauf zu kommen und umstellten das Gebäude. Uns blieb nicht viel Zeit und egal wohin wir gehen würden, sie würden uns dabei sehen. Es gab keinen Weg ins Innere des Hauses und selbst wenn, würden auch dort bereits Rotröcke auf uns warten. Zitternd gehorchte ich. Es fiel mir schwer, meine Hände traute ich kaum zu benutzen und der Wind versuchte mir den Stoff zu entreißen. Nevar half mir, so gut es ging, warf mir seinen schwarzen um und schloss ihn mit einem schnellen Griff. Dann schlüpfte er selbst in den grauen. Ich ließ ihn gewähren. Ich war kraftlos und müde, das Adrenalin ließ nach und betäubte mich nun. Weiter entfernt erkannte man die Rotröcke. Wie Ameisen rannten sie alle zum schwarzen Kater. Scheinbar war jeder darauf aus, den Triumph zu feiern, mich in die Hände zu bekommen. Verzweifelt schloss ich die Augen. Das darf doch alles nicht wahr sein… Nachdem Nevar wieder verhüllt war, griff er mich an der Schulter und steckte mir ein Messer in die Hand. Ich umfasste es, als würde der Schmerz mich bei Bewusstsein halten und sah ihn verständnislos an „Wir würden jeden Kampf verlieren!“ „Wir werden nicht kämpfen.“, erklärte er ruhig. Ein paar Pfeile flogen hinauf und verfehlten uns meterweit. Scheinbar versuchten die Schützen blind ihr Glück, uns zu treffen. Nevar ignorierte es und sah mich eindringlich an. „Hört mir gut zu… Ich werde jetzt fliehen, über die Dächer. Mit großer Wahrscheinlichkeit werden sie mir folgen. Ihr wartet hier, Sullivan.“ „Aber-…“ „Still, hört zu.“, er sah kurz zum Dachrand, dann wieder mich an. „Ich werde sie weg locken. Und ihr wartet, bis es ruhiger ist. Dann folgt Ihr den Dächern in die entgegen gesetzte Richtung.“, Nevar zeigte mit seinem Finger in Richtung Süden. Dort hinten lag das Kloster. Man konnte durch manche der Häuser den Fluss sehen und wenn man die Augen zusammen kniff und den Rauch der Schornsteine ignorierte, dann sogar das Kreuz des großen Gebäudekomplexes. Aber vorher kamen endlos viele Häuser und alte Gemäuer, zwei Wachtürme und mehr, viel mehr. „Seht Ihr die Kirche?“, fragte er eindringlich. Ich nickte, selbstverständlich sah ich sie. Nicht weit entfernt, nur einige Häuserblöcke weiter stand die St. Elena Kirche, ein altes Gemäuer in grauer, fast hellbrauner Farbe. Der quadratische Turm war im Dach des Haupthauses eingearbeitet und an jeder Ecke mit säulenartigen Gebilden versehen. Sie endeten Spitz, genauso wie der hohe Turm, an dessen höchster Stelle, direkt über den Glocken, das riesige Kreuz prangte. Am anderen Ende des Gebäudes und auch in der Mitte des Hauptgebäudes war abermals je ein Kreuz angebracht. Nevar ließ mir kurz einige Sekunden durchzuatmen, ehe er mir erklärte: „Dort geht Ihr hin, sobald es hier ruhiger ist. Ihr folgt den Dächern, bis zu dem schwarzen Dach, kurz vor der St. Elena. Dort gibt es ein Loch im Dach, über welches Ihr hinein klettern könnt. Verlasst das Gebäude durch den Hintereingang und wartet vor der Kirche auf mich.“ Er wollte sofort aufbrechen, ohne auf eine Antwort zu warten, doch ich packte ihn zitternd am Arm und starrte ihn an. Diesmal verlangte Nevar nicht, dass ich ihn los ließ. Geduldig drehte er sich zu mir. Leise zischte ich: „Ich muss zum Tollhaus…!“ „Das geht jetzt nicht.“, er löste sich und wollte gehen, doch ich packte Nevars Umhang. Verzweifelt flüsterte ich: „Nevar, bitte, ich muss zum Tollhaus! Gibt es einen anderen Weg?“ Zögern. Die Soldaten brachten langsam Ordnung in ihre Lage und verteilten sich systematisch an den wichtigsten Plätzen. Ich sah den mir eigentlich völlig Fremden an und hielt seinen blauen Augen stand. Unmöglich konnte ich nun mein Leben retten und Mary-Ann einfach im Stich lassen. Auch Nevar verstand das scheinbar. Er schien meine Gedanken zu erahnen, seufzte und zischte mir leise zu: „Nein, es gibt keinen anderen. Folgt meinen Anweisungen und geht von dort aus, wohin Ihr wollt. Ich werde sie ablenken.“ „Wieso tut Ihr das für mich?“, wollte ich wissen. Meine blutige Hand ließ seinen Stoff nicht los. „Ich will wissen, wieso Ihr so wertvoll für O’Hagan seid. Und im besten Falle Profit draus schlagen. Mehr nicht.“, mit einem Ruck befreite er sich und nickte zum Messer. „Benutzt es, wenn es drauf ankommt.“ „Werdet Ihr mir nicht helfen?“ „Ich habe genug geholfen.“ Das war alles, was er sagte. Hilflos sah ich zu, wie er über das Dach schlich, bis zum äußersten Rand. Im Gegensatz zu mir zitterte Nevar nicht im Geringsten. Auf den letzten Schritten beschleunigte er und sprang. Ziegel rieselten hinunter, die Soldaten riefen „Da oben!“ und ehe ich mich versah, schossen Pfeile in die Luft. Nevar landete krachend auf dem Dach des gegenüber liegenden, leer stehenden Hauses. Dort richtete er sich auf und sah hinunter. Sein Umhang wehte im Wind, sein Gesicht war durch die Kapuze verborgen und dann blähte der Stoff sich auf. Er sah aus wie ein riesiger, schwarzer Rabe. Ein schwarzer Geist, ein böser Dämon... Stolz und unnahbar, imposant. Der dicke Rotrock, der noch immer unbeachtet auf dem Sims stand und nach Hilfe rief schrie auf, als ein Messer sich in seinen Rücken bohrte. Dann hörte man einen dumpfen Aufprall. Nevars Angriff brachte die Soldaten in helle Aufregung und alle schrieen durcheinander ihre Befehle und Ideen. Als sie dann sahen, wie der geglaubte Sullivan O’Neil sich davon machte, rannten sie wie losgelassene Hunde hinterher. Irgendwann musste er schließlich hinunter kommen, richtig? Ich an meiner Stelle jedoch blieb nur reglos stehen, starrte ihm nach und fühlte mich unvorstellbar schwach. Ohne Nevar an meiner Seite erschien mir die Sache gescheitert, ehe ich es auch nur versucht hatte. Erst nach etwa zehn Minuten wagte ich es, mich vom Dach zu lösen und umzudrehen. Mit dem Bauch an den Ziegeln rutschte ich schräg Stück für Stück zum hinteren Teil des Hauses. Wieder sah ich den Heuwagen, wieder war die Verlockung groß, aber ich riss mich zusammen. Bis zur Kirche waren es zu Fuß etwa dreißig Minuten, da konnte der direkte Weg über die Dächer nicht länger dauern. Dieser Gedanke stellte sich als falsch heraus. Allein, mich zu überwinden, meinen Körper aufrecht zu stellen beanspruchte mehrere Minuten. Der Regen wurde stärker und die Dächer rutschiger. Stellen, die brüchig aussahen, wich ich aus und nicht selten musste ich zurückklettern, weil ich keinen Übergang zu einem der anderen Dächer fand. Bald sah ich ein, dass Ausweichen nichts brachte. Ich musste über diese Stellen, es führte kein Weg drum herum, also krabbelte ich fast in der Hocke, lauschte dem Knacken des Tons und des Holzes und betete, dass das Dach nicht unter meinen Füßen nachließ. Mit jeder Minute wurde ich etwas sicherer, dennoch kam ich an Nevar nicht ansatzweise heran. Ich musste ab und an Pausen machen und durchatmen, zudem durchnässte mich der Regen ungemein. Schweiß floss viel, Blut jedoch auch und mir fröstelte es ununterbrochen. Meine offenen Hände wurden noch mehr in Anspruch genommen und ich schrammte mir Knie und Ellenbogen auf beim Klettern. Würde ich das Tollhaus wirklich erreichen, dann nur als nutzloses Wrack, dachte ich. Leider fand ich nirgendwo eine Möglichkeit hinunter zu kommen und wenn, dann nur zwischen lauter Passanten, die sicher nicht nur zusehen, sondern auch Hilfe rufen würden. Unmöglich konnte ich einfach so vom Dach springen. Vielleicht hatte man ja etwas von dem Aufruhr mitbekommen? Wenn es Leute gab, die eins und eins zusammenzählen konnten, war es aus. Mehrmals benutzte ich Bretter um Gassen zu überqueren, irgendwann wagte ich sogar kleinere Sprünge. Gut eine Stunde kletterte ich über der Stadt herum. Als kleines Kind hatte ich mir solche Wanderungen immer traumhaft vorgestellt: Ausblick aufs Meer, herumschleichen wie ein Dieb und keiner sieht oder hört einen. Man kann alles und jeden beobachten und die Menschen wirken wie Ameisen. In Wahrheit aber war das Meer hinter dicken Rußwolken der Schornsteine verdeckt, die mich zum Husten brachten und die so tief liegenden Mengen zeigten mir, wie gefährlich mein kleiner Ausflug war. Als ich das katholische Gebäude endlich direkt vor mir erblickte, atmete ich auf und stöhnte vor Erleichterung. Ich war auf dem schwarzen Dach, von dem Nevar gesprochen hatte, nach einer gefühlten Ewigkeit. Der Regen lief in kleinen Rinnsalen über die Ziegel, schlängelte sich hindurch und zog immer mehr der Tropfen in seine Strudel hinein. Ich suchte die dunklen Tonstücke mit den Augen ab, nach einer Stelle, an der das Moos geringer war oder der Teer weniger vertreten, dann entdeckte ich eine Holzluke. Es fiel mir schwer, sie zu öffnen, das Holz war aufgeweicht und splittrig. Als ich es dann anhob, gaben die Ablagerungen an den Rändern leise, schmatzende Geräusche von sich. Dadurch, dass die Sonne verschwunden war, konnte ich nur wage eine steile Holztreppe erkennen. Zögernd kletterte ich hinab. Im Innern des Hauses war es dunkel und still. Man hörte nur den Regen, wie er auf das Dach trommelte und an manchen Stellen auf den Boden tropfte. Nachdem ich die Luke geschlossen hatte, klang es hohl und entfernt. Eine Zeit lang stand ich nur schweigend da. Nichts regte sich und so konnte ich warten, bis meine Augen sich an das wenige Licht gewöhnten. Bei dem Raum handelte es sich um ein ehemaliges Schlafzimmer. Es gab ein verrottetes Bett und einen zusammen gebrochenen Tisch. Daneben stand ein Stuhl, schneeweiß durch den Staub und die Vorhänge, die die Treppe verdeckt hatten, waren durchlöchert und voller weißer Schimmelflecken. Muffiger Geruch, Spinnweben und leises Miauen von Katzenjungen erfüllten das gesamte Gebäude. Langsam ging ich die Treppe hinunter in das oberste Stockwerk und sah mich um. Jedes noch so kleine Stück Holz knarrte und quietschte, die Deckenbalken bogen sich in alle Richtungen, die Fensterläden wackelten im geringen Wind und der Staub tanzte in den Lichtscheinen, der durch die Ritzen und Löcher drang. Das gesamte Haus war lebendig und tot zugleich. Als hätte es ein Eigenleben. Ein verwunschener und vergessener Ort. In der hintersten Ecke saß eine kleine, schwarze Katze mit grünen Augen und einer weiß gefärbten Nase. Eine stille Bewacherin., dachte ich, denn zu ihren Pfoten waren fünf kleine, plüschige Fellknäuel, die leise maunzten und ihre Köpfe nach oben streckten. Sie waren gerade mal so groß, wie meine Hand. Zu Schlitzen geformte Augen mit rosa Nasen suchten den Schutz ihrer Mutter vor dem gruseligen Regengeräusch. Als ich näher trat, fauchte diese und ihr Fell sträubte sich. Mit einem Mal waren ihre grünen Augen fast vollkommen schwarz. Ihre Ohren klappten nach hinten und sie duckte sich drohend. Abwehrend erhob ich die Hände. „Keine Angst. Ich will nur vorbei.“ Dann schlich ich in eiligen Schritten weiter und suchte den Weg nach unten. Die Treppe ins Erdgeschoss befand ich an der hintersten Raumecke. Sie war ein altes Gestell, älter noch als jene vom schwarzen Kater. Das Geländer hatte Löcher und Bruchstellen, manche Stufen fehlten bereits und der Pfosten, der das Geländer halten sollte, war verschwunden. Vielleicht hatten Kinder ihn gestohlen oder er wurde für ein anderes Haus verwendet. Jedenfalls war es kein Kinderspiel, hinunter zu kommen. Weder konnte man sich halten, noch konnte man sich auf die Dielen verlassen. Als ich es nach langsamen Schritten geschafft hatte und wieder auf sicherem Boden stand, befand ich mich in der Küche. Nichts zeugte mehr von Leben. Der Ofen war kalt und sämtliche Einrichtungsgegenstände hatten in neuen Haushalten ihren Platz gefunden. Es führte nur ein kleines Fenster zur Straße hinaus, gleich daneben war die Tür, beide waren vernagelt und mit Brettern verschlossen. Weiter hinten jedoch gab es ein Loch in der Wand. Es war nur sehr niedrig, aber als zweiter Ausgang gerade groß genug. Ich beschloss zu warten, bis der Sommerregen nachließ und setzte mich auf den Boden. Den Umhang hatte ich vor mir auf dem Boden ausgebreitet, damit er trocknen konnte. Mit angezogenen Beinen saß ich da, ruhte mich aus und lauschte. Die Stadt war wie tot. Alle flüchteten vor dem Wasser, das die Exkremente und den Unrat von den Straßen spülte. Aber sobald er aufhörte, würden alle wieder aus ihren Häusern kommen, um ihren wenigen Freuden nachzugehen: Der Markt, die Läden, Unterhaltungen mit den Nachbarn oder singende Zigeuner am Straßenrand. Ich nutzte jede Minute, um Kraft zu tanken. Die fast zwei Stunden, die ich gebraucht hatte, um vom schwarzen Kater hier her zu gelangen, erschienen mir wie Tage. Insgeheim hoffte ich, Nevar würde an der Kirche sitzen, wenn ich hinaus kam. Doch ehe ich diese Hoffnung überprüfen konnte, bemerkte ich eine Bewegung in der hintersten Ecke. Sofort drehte ich den Kopf und erschrak fürchterlich, als Nevar sich aus dem Schatten löste. Instinktiv griff ich mir ans Herz und fluchte: „Verdammt, erschreckt mich doch nicht so!“ Der Mann grinste. Er trug den grauen Umhang, doch durch den Regen und die Dunkelheit war dieser nun leicht schwarz. In aller Ruhe setzte er sich neben mich auf den Boden. „Ihr lebt ja noch. Ihr habt so lange gebraucht, ich dachte, ihr liegt irgendwo auf der Straße zwischen Ziegeln.“ „Scheint so. Und ich werde trotzdem nicht mit Euch gehen.“ „Noch nicht. Ich kann warten.“, schwer seufzend sah ich wieder vor mich, dann registrierte ich in den Augenwinkeln etwas rötliches. Unsicher sah ich auf seine Hände. Nevar hatte wie ich die Beine angezogen, jedoch weitaus niedriger, so dass er die Ellenbogen auf die Knie stützen konnte. Er trug schwarze Handschuhe, fingerfrei und eben dort war er voller Blut. Als ich ihm ins Gesicht sah, blickte er mich seelenruhig an. Als würde er wissen, was in meinem Kopf vorging, erklärte er: „Meine Wunde ist aufgerissen. Außerdem musste ich drei Rotröcke loswerden.“, ich antwortete nicht, sondern sah wieder vor mich auf den Boden. Nach einer Weile sagte der Mann neben mir, zum Fenster sehend: „Das Leben ist eine interessante Sache, nicht wahr?“ „Ich habe Euch nicht gebeten, Euch neben mich zu setzen.“, flüsterte ich bitter. Mir war nicht danach, mit ihm zu sprechen. Zumindest nicht über das Leben. Zwar hatte ich mich über langweilige Tage beschwert, aber dieser Tag war bereits jetzt viel zu viel. Ich kämpfte mit dem Drang, mich hinzulegen und zu schlafen. Was kümmerte mich Mary-Ann? Nevar ignorierte meine Antwort. Er sprach leise weiter, als wäre er nie unterbrochen worden und als würde er abdriften in eine ferne Gedankenwelt: „Es kann so lang sein und so verschieden. Und mit einem Schnippen nur ist es vorbei.“ „Was soll das?“, flüsterte ich müde. „Mir ist nicht nach philosophieren.“ „Ich denke nur nach. Wenn ich ehrlich bin, kümmere ich mich nicht wirklich darum. Aber manchmal frage ich mich, ob es rechtens ist, Menschen zu töten, um einen Mord zu verhindern. Ich denke, nein. Trotzdem tue ich es. Menschen sind für mich wertlos. Ihr, Ich. Am wenigsten haben für mich jene Wert, die ich nicht kenne.“ „Deswegen wollt Ihr wohl auch niemanden kennen.“, ich verdrehte leicht die Augen, da ich um eine Unterhaltung wohl nicht drum herum kam. Nevar wog den Kopf. „Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Was meint Ihr dazu, Sullivan?“ Für einen Moment wurde der Regen stärker. Die Tropfen schlugen förmlich auf das Dach ein und das Miauen über uns wurde lauter. Ich schloss die Augen und verdrängte Kais Hinterkopf aus dem meinen. Dann flüsterte ich: „Wenn es um einen selbst geht, denke ich, ist es gut, zu töten. Man verteidigt sich nur.“ „Außer man greift an, bevor man angegriffen wird?“, Nevars Blick wandte sich forschend zu mir. „Vielleicht.“, seufzte ich leise. „Und wenn Ihr diese Leute näher kennen würdet? Stellt Euch vor, ich tue Philipp aus einem Versehen heraus etwas an. Ein Unfall. Und bringe Jack um, ehe er mich umbringen würde, aus Rache heraus.“ „Das wäre nicht Rechtens.“ „Weil Ihr ihn näher kennt, nicht wahr?“, Nevar schmunzelte leicht. „Wenn Ihr die Menschen kennt, ist Euch das Leben etwas wert. Wenn nicht, sind es eben nur Menschen. Ihr meint also, Ihr wisst, was Gut und Böse ist. Ihr wollt zum Tollhaus und Eure Freundin retten, richtig?“, ich nickte nur. „Habt Ihr schon mal überlegt, ob sie das überhaupt möchte? Solch ein Eingriff in Ihr Leben?“ „Wie meint Ihr das?“, verwirrt sah ich ihn an. Nevar erwiderte meinen Blick fast anteilnahmslos. Er hatte seine Kapuze zurück geschlagen und nur sein rechtes Auge wurde vom Licht beleuchtet. „Wie lange ist sie bereits dort?“ „Etwa fünf Jahre? Vielleicht mehr.“ „Das meine ich.“, er stellte den Kopf schief, wie so oft. Als würde er versuchen, mir die Worte direkt in den Kopf zu pflanzen, damit ich sie auch verstand. „Sullivan. Diese Frau hat viel ertragen. Mehr, als Ihr, weit mehr. Sie wird nicht lebensfähig sein.“ „Sie ist nicht verrückt!“, protestierte ich. „Nur durcheinander.“ Der Mann nickte und sah wieder zum Fenster. Nachdenklich murmelte er: „Mir ist es gleich, was Ihr tut. Aber Ihr solltet wissen, dass Ihr vor einer Entscheidung steht, die nicht einfach ist. Gott oder Teufel, Sullivan?“, dann sah er mich wieder an. Etwas leiser zischte er ruhig und mit einer langen Pause: „Himmel… Oder Hölle?“ Auch ich begann zu flüstern, ohne es zu merken. „Was meint Ihr...?“ Verständnislos suchten meine Augen in seinen blauen Pupillen. „Ihr habt ein Gottesurteil hinter Euch, träumt Ihr oft davon?“, als ich nickte, fuhr er fort und unterbrach mich, ehe ich sprechen konnte: „Sie hat mehr hinter sich. Und auch sie wird träumen.“ „Aber es geht ihr gut.“ „Ja, weil sie betäubt wird. Mehr aber auch nicht. Wenn sie nicht verrückt ist, wird sie spätestens in der Freiheit verrückt werden, Sullivan. Die Erinnerungen werden sie um den Verstand bringen, die Schmerzen ebenso.“ „Ich rette ihr das Leben!“, zischte ich ihn wütend an. Kalt erwiderte Nevar: „Und gleichzeitig bringt Ihr sie um.“ Dann stand er auf. Ich sah nicht an ihm hoch, sondern wieder schweigend vor mich. Während er aus seinem Umhang schlüpfte, ihn neben mich legte und seinen Schwarzen wieder anzog, erklärte er leise: „Ich weiß nicht, ob es Euren Gott gibt, Sullivan. Doch wenn Ihr wirklich diesem fantastischen Irrglauben nachhängen wollt, dass es Himmel und Hölle gibt, so überlegt Euch gut, für welchen Weg Ihr Euch entscheidet. Wohin kommt Ihr, wenn Ihr sie sterben lasst? Ist es Erlösung oder Beihilfe zum Mord? Und wohin kommt Ihr, wenn Ihr sie rettet? Ist es Folter oder Rettung? Ist es ein langsamerer Tod? Oder bezeichnet Ihr es gar als Weg zur Buße, für die Reinigung der Seele? Himmel oder Hölle, Sullivan? Wohin bringt Ihr sie und Euch damit? Denkt darüber nach.“ Da ich ihm keine Antwort gab, sagte auch Nevar nichts mehr. Langsam ließ der Regen nach und wurde weniger. Noch immer hörte man sein leises Trommeln und die Feuchtigkeit erfüllte den ganzen Raum. Nachdem er bereits eine Weile verschwunden war sank mein Kopf auf meine Knie und ich schloss die Augen. Ich war allein. Wie so oft hatte ich nicht einmal gehört, dass Nevar gegangen war, er war einfach weg, verschwunden. Wie ein böser Geist, der alles hörte und alles sah. Nevar war verfolgt worden, also hatte er drei Rotröcke getötet. Aber war das Rechtens? Hatte er es nicht verdient, verfolgt zu werden? Und hatte er dann überhaupt ein Recht sich zu wehren? Ich wollte Mary-Ann retten, um jeden Preis. Irgendwie musste ich es einfach schaffen! Aber wie? Und wohin mit ihr, wenn ich sie befreit hatte? Und stimmte es, was Nevar sagte? Würde sie verrückt werden, wäre sie nicht mehr so benommen? Oder war sie vielleicht schon wahnsinnig, nur kam es aufgrund der Medikamente nicht zum Ausbruch? Die Verzweiflung in mir stieg mit jeder Minute an und trieb mich fast bis zur Ohnmacht. Wieso war dieser Mistkerl überhaupt hier gewesen?! Ich würde mich nicht von meinem Vorhaben abbringen lassen, auf gar keinen Fall! Und während ich das immer und immer wieder flüsterte, wurde mir kalt und schwindelig. Tränen schossen mir in die Augen und am liebsten wollte ich mich nur noch auflösen. Alles erschien ausweglos und unerreichbar für mich. Aber ich musste es schaffen. Ich musste einfach! Himmel oder Hölle, Sullivan?, hörte ich ihn sagen. Hatte sie diese Qualen, diese jahrelange Folter, wirklich verdient? Wollte Gott es so oder wollte er, dass ich etwas unternahm? Himmel oder Hölle? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)