Die Geschichte des legendären Sullivan O'Neil von Izaya-kun (Das Tagebuch eines Gesuchten) ================================================================================ Kapitel 19: Nach Ebbe folgt Flut -------------------------------- Wir bereiteten still eine Feier vor, wie von uns erwartet. Aber mit der Zeit wuchs in Black und mir innere Unruhe. Wir verarbeiteten das restliche Gemüse und kochten Suppe daraus, mehr nicht. In Erwartung der ersehnten Stadt Annonce wussten wir, dass wir frisches Fleisch für die Zubereitung bekamen, ebenso wie Rum und Obst. Keiner der Matrosen wollte den alten und gepökelten Fraß, sogar die Katholiken hatten Sinn für Geschmack und Feierlichkeiten. Dann wurden wir zusammen mit den restlichen gefangenen an Deck gebracht, gefesselt und in einer Reihe. Es waren weitaus weniger geworden. Höchsten zehn, oder zwanzig Männer waren noch übrig und ich fragte mich, wie viele auf dem anderen Schiff, der alten Caroline, die Seite gewechselt hatten. Mürrisch sah ich zu Robert, welcher zwar ebenfalls an Deck stand, aber aufrecht und zufrieden grinsend und ohne Fesseln. Ich hatte meine Chance verpasst de weiße Flagge zu hissen und nun sonnte er sich in dieser Tatsache. Aber keiner konnte von meiner kleinen Hoffnung wissen, dass ich kein Mann der Mannschaft war. Nicht einmal O’Hagan. Als wir die riesigen Wachtürme der Stadt passierten, die rechts und links postiert waren, auf je einer Spitze der Buchtenden, schluckte ich schwer. Sie ragten in den Himmel wie Häuser der Götter, wie Verlängerungen der Klippen. Ich hatte sie zuvor von dieser Seite gesehen, weit über den Riffs und steinernen Wänden, mit tosenden Wellen und mit Eisen behangenen Fenstern. Die Fahnen der Königin wehten im Wind, als würde das schwarze Pferd auf dem roten Stoff tanzen, zusammen mit den weißen Sternen, die zu jubeln schienen. Ich war wieder zuhause, aber es erfreute mich nicht im Geringsten. Ich starrte empor zu den blutroten Ziegeln. Möwen tanzten wild kreischend umher und flogen hoch hinauf, um anschließend noch tiefer zu stürzen. Unter den Türmen, weit unten, an den steinernen Abhängen, befanden sich Käfige. Etwa acht, oder zehn Stück Ähnlich wie am Kai saßen auch dort Gestalten darin, bei denen es sich womöglich um Männer handelte. „Wir sterben in Ungnade und durch Gottes Hand.“, stand in einer schrecklichen und durch das Wasser kaum noch lesbaren Schrift auf Schildern zwischen ihnen. Ich sah zum anderen Turm, auf der anderen Seite der Bucht und auch wenn er viel zu weit weg war, um etwas wirkliches zu erkennen, meinte ich auch dort Käfige erkenne zu können. Ich merkte, dass jeder der Männer hinsah, düster und todernst, ebenso wie Black. Vielleicht kannten einige von ihnen welche der Gefangenen, andere sahen wohl nur ihren Tod vor Augen, wieder andere zollten ihren Kameraden vielleicht Respekt. Gewiss konnte mit Sicherheit kaum einer von ihnen lesen, was dort stand, aber jeder schien zu wissen, worum es sich handelte. Als wir sie dann so nah daran vorbei fuhren, dass ich fast jeden einzelnen der Gefangenen erkennen konnte, bildete ich mir ein Wehklagen und Jammern zu hören. Ein Schauer überfiel mich, als mir klar wurde, dass sie zwischen verhungern, erfrieren und ertrinken hangen. „Seht es Euch gut an!“, donnerte O’Hagans Stimme triumphierend über das Deck. „Dort werdet ihr landen, wie jeder andere, verfluchte Pirat.“ Doch keiner antwortete darauf. Betretenes Schweigen machte sich breit. Ich nicht…!, flüsterte es in meinem Kopf. Ich werde dort nicht hängen…! Ich nicht…! Niemals…! Kanonen donnerten lautstark. Weit entfernt von uns schlugen drei Kugeln ins Meer und ließen große und hohe Fontänen entstehen. Ich spürte, dass der Wind ein wenig des Wassers zu uns wandern ließ. Dann gab O’Hagan Zeichen, das Signal zu erwidern. Drei Soldaten salutierten, nahmen Stellung ein und drei Schüsse donnerten laut krachend wie Holz gen Himmel. Wir ehrten den heiligen Vater, die Königin und das Land. Mit jeder Minute sank die Stimmung tiefer. Als nicht mehr viel fehlte, bekam einer unserer Männer Panik und wollte über Bord springen, doch ein schneller Säbelhieb streckte ihn nieder. „Hat ja gedauert, diesmal.“, spottete der Berater des Gouverneurs, doch dieser brummte nur und blieb aufrecht und mit hinter dem Rücken verschränkten Armen stehen. O’Hagan sah stur geradeaus Richtung Hafen, fast als würde man ihn dort erwarten und tatsächlich hatte sich eine Traube Menschen dort versammelt. „Aye…“, brummte Black mir zu. „Scheißhaufen ziehen halt Fliegen an.“ Ich musste grinsen, aber schwieg. Sowohl die Caroline, nun in Besitz der heiligen Mutter Kirche, als auch die Heilige Maria des Gouverneurs – wobei ich anmerken Möchte, dass der Schiffsname nicht sonderlich einfallsreich ist - ließen die Anker ins Wasser und holten die Segel ein. Wir wurden mithilfe von Ruderbooten an Land gebracht und dort von den bereit stehenden Soldaten in Ketten gelegt. Der Umgang mit den Piraten war recht unfreundlich, milde ausgedrückt. Schwere Eisenketten zwischen Händen und Füßen erschwerten uns das Gehen und keiner hegte Interesse daran, uns vor den Geschossen der Schaulustigen zu schützen. Unmengen Menschen hatten sich versammelt und bejubelten den Gouverneur. Wie die Tiere., das dachte ich immerzu, darauf bedacht niemandem in die Augen zu sehen. Ich hielt es kaum aus. Die Soldaten hielten sie so weit zurück, wie es eben ging. Dennoch sausten Tomaten durch die Luft, oder weißer Speichel. Black hinkte unmittelbar vor mir, sein Bein war frei, aber die Krücke hatte man ihm weggenommen. O’Hagan, welcher an unserer Spitze lief genoss die Aufmerksamkeit und vollsten Respekt. Ich konnte sehen, wie die Leute sich verbeugten, wenn er vorbei kam und dann, wenn wir sie passierten, hoch fuhren, keiften, lachten und fluchten. Ihre Gesichter verzerrten sich zu grässlichen Grimassen, ihre Hände streckten sie uns drohend und schreiend entgegen als würden sie uns packen wollen. Die Luft war erfüllt von Gerüchen aus Schweiß, Fisch und Teer. Ich war zurück in Annonce, das wurde mir bei dem Gestank nur umso bewusster. Die Soldaten führten uns nicht weit, nur die Kaitreppe hinauf. Auf dem Marktplatz standen mehrere Gespanne bereit, mit hölzernen Gestellen daran. Sie erinnerten an einen Heuwagen, auf den man einen Käfig gesetzt hatte. Ein großer, hölzerner Kasten, den man durch eine Art Tür von hinten betreten konnte. Ein Rotrock öffnete je eine der Türen und so kletterten die Matrosen in die verschiedenen Gefährte. Die Menge folgte uns und sah gespannt zu, wie wir uns innen auf eine der zwei gegenüberliegenden Bänke setzten. Kaum waren die Türen geschlossen fuhren wir los. Black befand sich in einem anderen Käfig als ich und so sah ich zu Boden. Die wenigen Männer, fünf weitere nur, taten es mir gleich. Keinem war nach Reden zumute und die zwei Soldaten, welche auf dem Kutschbock saßen schienen auch nicht sonderlich gesprächig. Eine Zeit lang folgten uns drei kleine Kinder, barfuss und recht herunter gekommen. „Ihr werdet gehängt!“, lachte eines von ihnen. Ein kleines Mädchen mit verdreckter Haut, filzigem, zausen Haar und Zahnlücken. „Ihr alle! Und dann seid ihr tot!“, und dabei lachte es so niedlich, dass es fast makaber auf mich wirkte. Wir fuhren quer durch die Stadt, über die größeren Straßen, fast wie zur Präsentation. Jeder der Menschen blieb stehen und begaffte uns, als wären wir orientalische Tiere aus einem neu angekommenen Zirkus. „Dumm gelaufen.“, flüsterte einer der Matrosen abfällig. Ich brummte nur und versuchte ihn nicht zu beachten. Er musterte mich mit einer Art Feindseligkeit, die mir zu verstehen gab, dass auch er zu jenen gehörte, die mir die Schuld für unser Unglück gaben. Mit großer Sicherheit dachte er, ich hätte sie verraten. „Aufgeknüpft werden wir…“, flüsterte er dann. Ich brummte erneut und drehte meinen Kopf zur Seite, als hätte ich draußen etwas Interessantes gesehen. Natürlich war dort nichts, als mit Exkrementen verseuchte Straßen und so sah ich zu unseren bloßen Füßen. Das Schaukeln machte mich krank und ich wünschte mir sehnlich, laufen zu können. Dann fuhr ich in mich zusammen. Der Matrose hatte sich vorgebeugt und legte mir seine schweren Hände auf die meinen. „Am Strick…“, flüsterte er dabei. Er drückte meine Hände, freundschaftlich und fest, aber seine dreckigen und abgerissenen Nägel pressten sich in mein Fleisch. Ich hob den Blick und sah ihn an. Finster, drohend und angewidert zog ich meine Hände weg. „Lass mich in Ruhe mit deinem Wehklagen, Mann. Wenn du solche Verbrechen vergehst, dann sei gefasst auf das Urteil. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Mich trifft keine Schuld, an unserer Lage und am wenigstens an deinem Vergehen.“ „Keine Schuld.“, knurrte nun jener unmittelbar neben mir. „Dass ich nicht lache. Spricht wie ein Gelehrter, der Pfaffe. Er ist der Verräter, sage ich.“ „Halt den Rand.“, befahl ich düster, aber ruhig. Nun sah ich auch an. Wie auch die anderen war dieser Mann verschwitzt und starrte vor Dreck. Seine weißen Augen leuchteten aufgrund der gebräunten Haut und sogar seine gelblichen Zähne erschienen hell. „Niemand hat dich nach deiner Meinung gefragt.“ „Meine Meinung?“, er lachte bitter. „Das ist die Meinung aller. Du hast uns verraten und nun hängen wir wegen dir.“ „Und wieso sollte ich das tun?“, knurrte ich und hielt verhasst seinem Blick stand. „Wieso sollte ich uns alle verraten? Um selbst zu baumeln?“ „Bist doch beliebt beim alten Kreuzkriecher!“, fauchte mir der erstere zu, wesentlich aggressiver als zuvor. „Hast doch gekocht für ihn!“ Dennoch blieb ich ruhig, „Und wenn schon. Und ihr habt gebetet, oder nicht? Wieso nicht das Beste aus seiner Lage machen?“ „Verräter sage ich!“, fluchte der erste. Der Zweite stimmte lautstark ein: „Verräter! Zuerst hängen solltest du!“ Dann klopfte jemand lautstark gegen die Gitter. „Haltet den Rand, oder ich lasse euch alle auf der Stelle erschießen!“ Keiner der Gefangenen sah den Soldaten an, welcher sich wütend herum gedreht hatte, das Gewehr geschultert und neben dem Kutscher sitzend. Wir drei starrten uns hasserfüllt an. Ich wusste gar nicht, wem ich zuerst in die Augen sehen sollte. Fast jeder der Insassen sah mir entgegen. Jener, welcher den Streit begonnen hatte, spuckte mir vor die Füße. Es dauerte einige Sekunden, dann tat nach und nach jeder es ihm gleich. Ganz egal, ob sie seiner Meinung waren, oder nicht. Es lebten stets jene besser, die der Menge folgten und das wussten wohl auch sie. Und so hatte ich mir alle zum Feind gemacht, ohne auch nur einen von ihnen je angegriffen zu haben. „Wenn wir in die Hölle kommen, dann reißen wir dich mit, Sullivan O’Neil…!“, flüsterte der Streitsüchtige mir gebeugt zu, wie um meine Gedanken zu bestätigen. Sein Grinsen wurde breit und verhieß nichts Gutes. „Verlass dich drauf, keiner wird dir das vergessen. Keiner…!“ Schweigend sah ich zu Boden. Widersprüche halfen nichts, das war mir bewusst. Ich sandte Stoßgebete gen Himmel, dass ich in eine andere Zelle kam, als diese Männer. Mehr konnte ich wohl nicht mehr tun… Wir durchquerten die Stadt und schon bald, als der Wagen hielt, tat sich vor mir das gewaltige Gebäude auf, welches ich so hassen gelernt hatte. Ich erblickte das Schild und mit einem Mal war mir eiskalt. „Katholisches Armenhaus St. Marianne von Annonce Waisenhaus – Gefängnis – Krankenhaus – Arbeitshaus“ Da war ich also wieder. Hier hatte meine Hölle begonnen und hier sollte sie womöglich nun enden. Die grauen Steine wirkten bei Tageslicht umso schäbige. Die sonst düsteren Grimassen der Statuen unter den Fenstersimsen verzogen ihre Gesichter in eine Mischung aus lächerlichem Grinsen und Furcht einflößendem Spott. Ich erkannte Details, die ich in jungen Jahren nie bemerkt hatte. Sich wild umschlingende Hörner, aus den Höhlen tretende Augen, spitze und gespaltene Zungen. Es waren kleine Teufel und Dämonen, welche unter den Fenstern wachten und ich fragte mich, wieso zur Hölle man sie dort angebracht hatte. Wenn sie das Haus verschönern sollten, dann war dieser Gedanke durchweg misslungen. Die Kutschen hatten innerhalb der Mauern gehalten, so dass wir auf dem weiten und leeren hof standen. Nicht einmal Unkraut wagte es scheinbar, hier zu wachsen. Sofort kam die Heimmutter hinaus gerannt, mit weißer, großer Haube und gerafften Röcken. Sie sah schäbig aus. Alles hier sah schäbig aus. Ihre dicken Wangen waren rot und aufgeplustert, ihre Augen glitzerten bedrohlich. Mein herz machte einen Satz, als ich sie erkannte. Schwester Margret, so hieß sie und ich kannte sie bereits aus meiner frühesten Kindheit. Mein Glück war, dass sie mich ohne Frage als zehnjährigen in Erinnerung hatte. Nun, über zwanzig, mit kurzem Haar – abgesehen vom Zopf – wild wachsendem Bart und verdreckten Kleidern würde sie wohl nicht ansatzweise auf die Idee kommen, dass ich der Junge bin, der ihr so manche Tage den Nerv geraubt hatte. Während wir hinaus gescheucht wurden und in einer Reihe aufgestellt, beobachtete ich sie bei jedem Schritt. Schwester Margret war eine alte Frau mit ergrautem Haar. Wenn sie lief, hüpfte ihr gewaltiger Busen, der auf mich noch immer beängstigend wirkte. Darin versunken funkelte das katholische Kreuz. Wenn sie sich bückte hang es oft herunter und verhakte sich an ihrem Kinn, wobei sie dann entnervt den kopf schüttelte, um es wieder los zu werden. Mit düsterer und heiserer Stimme begrüßte sie die Soldaten. O’Hagan war nirgends zu sehen, scheinbar war er andere Wege gegangen als wir. Dafür gab es nun einen stellvertretenden Kommandanten als Anführer. Ein schlaksiger Kerl mit auffällig weißer Nase, die ohne Frage zu sehr gepudert worden war. Es wirkte fast, als hätte sich eine Taube auf ihr nieder gelassen, um ihr Geschäft zu verrichten. Scheinbar freute sich die gute, alte Frau nicht sonderlich um die Neuankömmlinge. Aber sie hatte auch nicht sonderlich viel zu sagen. Aufgeplustert beschwerte sie sich, dass man es hätte ankündigen können und dass sie keinen platz mehr hätten. Außerdem, wer bezahlt all die Münder, die gestopft werden müssen?! Und dabei rieb sie sich unter der Nase. Eine Eigenart, der sie nachging, wenn sie sich aufregte. Der Kommandant ignorierte fast, nur aus Höflichkeit gab er die eine, oder andere ausweichende Antwort. Dann kamen die Soldaten, welche im Haus postiert waren, um die gefangenen entgegen zu nehmen. Ab hier war die Frau zwar existent, aber nicht wirklich anwesend. Die Männer ignorierten sie nach Strich und Faden. Auch unter den Soldaten des Armenhauses gab es eine Führende Person. Ein sehr dicker Mann schien dieser zu sein. Sein roter Rock spannte sich enorm und würde er sich bücken, vielleicht würden die goldenen Knöpfe in alle Richtungen fliegen. Sein kopf war enorm gerötet und ich fürchtete, es lag daran, dass er in seiner engen Verkleidung kaum Luft bekam. Die zwei gingen aufeinander zu und kamen direkt vor uns zum stehen. Tatsächlich keuchte er allein durch diese wenigen Schritte. Jeder der umstehenden Soldaten salutierte, bevor sie dann erneut ihre Gewehre schussbereit auf uns Gefangenen richteten. Ich ließ meine Blicke kreisen, wenn auch unauffällig. Es gab nicht viele gefangenen. Vielleicht zehn, oder zwanzig. Die Käfige wurden weg gefahren und so blieben nur wir zurück. Ich erblickte Black, fast ganz außen an der Reihe. Er sah düster aus und mies gelaunt. Robert sah nirgends, ebenso wenig Tom. Scheinbar hatten die zwei die Seiten gewechselt und einen der Heuerverträge der Katholiken unterschrieben. Umso besser, dann musste ich nicht fürchten ihnen in einer der Zellen zu begegnen. Im Gegenteil, vielleicht sah ich sie nie wieder. Käse hatte mir erklärt, dass die Verträge für fünf Jahre galten. Fünf Jahre mussten sie auf katholischen Schiffen, in Minen, oder auf Feldern arbeiten. „Um Buße zu tun.“, stand ganz klein erklärt. Und anschließend wurden sie „durch die Arbeit gereinigt und geläutert“ hingerichtet. Natürlich dachten die Männer, sie hätten damit ihr Leben gerettet und dürften in Freiheit weiter leben. Das ist der Nachteil…, dachte ich grinsend. …wenn man nicht lesen kann, was man unterschreibt. Ich zog an meinen Fesseln, denn die Seile an meinen Handgelenken juckten ungemein. Als ich vor mich auf meine Hände sah, erkannte ich kleine, rötliche Punkte auf meiner Haut. An den Händen und Armen waren es nur wenige, aber zu den Seilen hin wurden es immer mehr, bis die Haut schließlich völlig gerötet war. Ich vertrug die Fesseln scheinbar nicht. Irgendetwas an den Seilen reizte meine Haut. Ich erhob meine Hände leicht, um das Problem genauer zu mustern, aber ein schmerzhafter Stoß zwischen die Schulternblätter ließ mich abbrechen. „Hände runter.“, befahl der Soldat hinter mir drohend. „Keine Mätzchen.“ „Nein, nein…“, knurrte ich genervt. Der Matrose neben mir lachte leise und kaum hörbar darüber. Ich versuchte es zu ignorieren, seufzte und suchte nach einer Ablenkung. Der Dicke zählte die Gefangenen durch, mehrmals wie ich feststellte. An den Fenstern im Hintergrund, jenen vom Tollhaus im Erdgeschoss des mittleren Gebäudes, erblickte ich Gesichter. Unmengen von Gesichtern. Ich bekam Gänsehaut, ungemeine Gänsehaut, als ich sie genauer erkannte. Frauen, wie Kinder, Männer, wie Gestalten dazwischen drängten sich and en Fenstern und starrten hinaus. Alle waren verschmutzt, verfilzt und mit kurzem Haar. In meinem kopf kamen die Erinnerungen an meine Kindheit hoch. Das Irrenhaus befand sich direkt unter dem Kinderheim, im Erdgeschoss, über dem Gefängnis. Ich hörte wieder die Schreie, das Wimmern, die sinnlosen Worte. Ich erinnerte mich an die zur Schau Stellungen. An den Tagen kamen Unmengen Menschen zum Armenhaus, bezahlten wenige Heller und begutachteten die Irren und Narren. Ich erinnerte mich daran, als wäre es erst wenige Stunden her und Übelkeit stieg in mir auf. Der Geruch, viel mehr der Gestank kam in meine Erinnerung zurück. Meine größte Angst als Kind war gewesen, in die Hölle zu kommen. Aber meine zweitgrößte, als irre erklärt zu werden. Wer einmal ein Toller ist, wird es ewig bleiben, so sagt man. Nie hatte ich solche Angst gehabt vor einem so kleinen Gebäude. Ich fuhr in mich zusammen, als hätte mich der Schlag getroffen, als der Dicke mich wütend anschrie: „Ich frage kein drittes Mal, wie du heißt, Mann!“ Verwirrt starrte ihm entgegen, dann registrierte ich den Soldaten neben ihm. Ein Schreiber, der die Namen der Gefangenen protokollierte. Wieder lachte der Matrose neben mir über mich, wenn auch nur ganz leise. „Sullivan.“, ich räusperte mich und festigte meine Stimme etwas. Doch es half nichts, mein Herz raste vor Schreck. „Oliver Sullivan O’Neil, Sir.“ „Alter?!“ „Geschätzt 23, Sir.“ Der Dicke brummte abfällig und wandte sich an den Schreiber: „Schreib zweiundzwanzig. Dann können wir ihn zu den Jüngeren schicken. Da ist mehr Platz.“ Der Schreiber nickte und ohne Antwort abzuwarten wandten sie sich and en Nächsten der Gefangenen. Als sie damit fertig waren, nickte der Dicke zufrieden. Man sortierte aus. Jene über dreiundzwanzig kamen in das Gefängnis unterhalb des Arbeiterhauses, eine Art kleineres Zuchthaus für Strafgefangene. Es verwirrte mich, dass man uns nach Alter, statt nach Straftat sortierte. Viele hatten Morde und Vergewaltigungen hinter sich, aber das schien niemanden zu interessieren. Die Jüngeren kamen anscheinend besser davon, sie waren noch zu etwas gut. Die Älteren mussten in den Minen und auf den Feldern arbeiten, oder beim Torfstechen. Meist musste man diese Arbeit bis zur Erschöpfung tun und es wäre Verschwendung, wenn man junge Arbeitskräfte dadurch verlieren würde. Zumindest dachte man so. Mit heimlicher Freude registrierte ich, dass drei der Insassen dazu gehörten, welche sich gegen mich verschworen hatten. Jedoch leider nicht ihr Anführer. Dieser stand nun unmittelbar neben mir und grinste. Auch ihm war aufgefallen, dass wir wohl in der gleichen Altersklasse waren. Und er schien sich über meine Gesellschaft ungemein zu freuen. Black jedoch verschwand ebenfalls. Nun waren nur noch sieben Männer übrig, darunter auch ich. Während einer der Soldaten die anderen abführte, kamen der Zuchtmeister und der Irrenschließer. Der Irrenschließer schien entnervt darüber zu sein, dass man ihn hatte holen lassen. Er selbst erinnerte etwas an einen Verrückten, aber da er im Dienste der katholischen Kirche arbeitete, konnte das unmöglich der Fall sein. Seine Augen gingen leicht auseinander und seine Zähne ragten schief und gelblich aus dem Zahnfleisch. Er lief leicht gebeugt, aufgrund des Alters und seine wenigen Haaren waren grau und fransig. „Was denn, was denn?!“, brummte er entnervt und hitzig, während er ankam. „Ein Toller.“, stellte der Dicke gleichgültig fest und deutete auf einen der Matrosen. Dieser wurde leichenblass. „Er weigert sich, fromm und gottesfürchtig zu sein und zu arbeiten. Ohne Frage ein Verrückter. Außerdem drei Fälle von Lustseuche.“, er deutete auf die drei daneben stehenden Männer. Der Irrenschließer grinste und rieb sich fast freudig die Hände. „Ah, sehr gut. Wir haben gerade vier Plätzchen frei. Bringt sie hinein, wir werden sehen, was wir tun können.“ Die Männer waren mit einem Mal keine Männer mehr. Sie schrieen und wehrten sich nach Leibeskräften, einer nahm sogar Reißaus. Aber sofort waren sie wieder unter Kontrolle. Die Rotröcke zerrten sie grob zum Eingang des Gebäudes. Ob die Männer wussten, dass Widerwehr nur zeigte, dass sie Tolle waren? „Aber zieht sie aus!“, keifte die Hausmutter fast hysterisch, während sie folgte. „Irre brauchen keine Kleidung, die frieren nicht!“ Ich schluckte schwer und ohne es zu merken, wich ich einen kleinen Schritt zurück. Der Irrenschließer grinste nur, bedankte sich rechtherzlich und folgte der schreienden und wimmernden Gruppe hinein. Nun waren nur noch der Zuchtmeister da, der Dicke und manche der Wachen. Der Zuchtmeister war verantwortlich für die Versorgung der Irren und Gefangenen. Und so sah er auch aus. Sein Gesicht war kantig und kühl, voller Narben und sein Blick war düster. Seitlich an seinem Hals hatte er dunkle Flecken, fast wie Leberflecke, aber es erinnerte eher an eine Art Ausschlag. An schwarze Punkte auf dunkelblauem Untergrund. Fast schon hasserfüllt musterte er die übrig gebliebenen, fünf Gefangenen, unter anderem mich. „Das sind alle?“, fragte er dann missbilligend. Der Dicke bestätigte mit einem Nicken. „Ist das Euer Ernst?“ „Scheinbar schon.“ Der Zuchtmeister baute sich vor uns auf. Er war enorm groß, mit breiten Schultern und gebräunter Haut. Sein Hemd hatte er hochgekrempelt, so dass man seine mächtigen, vernarbten Oberarme sah. Er betrachtete uns wie Vieh und spie neben sich auf den Boden. „Na wunderbar… Die sind allesamt nutzlos, das sehe ich auf dem ersten Blick.“, er drehte ab. „Bringt sie ins Gefängnis… Ich brauche die nicht.“, und so wollte er gehen. In mir schlug es Alarm und gerade wollten die Rotröcke mich packen, da brüllte ich: „Wartet, Herr! Ich kann arbeiten, ihr werdet sehen!“ „Ruhe!“, fuhr der Rotrock mich an, aber der Zuchtmeister reagierte und so verharrten alle. „So?“, fragte er spöttisch und mit hoch gezogener Braue. Er kam zu uns zurück. „Und wieso denkst du, ich könnte dich gebrauchen?“ Unsicher sah ich ihn an und mit einem Mal war mein gewonnener Mut wieder verschwunden. „Ich kann lesen, Herr, schreiben… Und-…“ Der Mann lachte laut auf und viele der Wachen stimmten mit ein. „Ein gelehrter Seemann?!“, grölte der Dicke. „Das ist das Beste, was ich je gehört habe!“ Als sich alle beruhigt hatten, sahen sie mich spöttisch an. „Es ist aber so…“, ich presste die Worte wütend zwischen meinen Zähnen hervor. Ich hasste es, wenn man mich auslachte und nicht ernst nahm. „Ich kann lesen und schreiben…!“ „Nun…“, der Zuchtmeister lehnte seinen Kopf erst nach rechts, dann nach links, so dass es laut knackte. „Wie auch immer… wir brauchen keine Gelehrten hier. Aber Dumme ebenso wenig. Ich nehme ihn.“ Der Dicke gab dem Rotrock hinter mir ein Zeichen und so wurde ich grob zum Zuchtmeister gestoßen. Ein wenig höhnisch fragte dieser: „Noch einer, der arbeiten will?!“, doch keiner gab Antwort. Lachend ging er und deutete mir mit einem Kopfnicken zu folgen. Unsicher tat ich es. Unruhe kam in mir auf, als ich nach über zehn Jahren das aschgraue Gebäude zum ersten Mal wieder betrat… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)