Der Eisfürst von moonlily (Splitternde Erinnerungen) ================================================================================ Kapitel 7: Eiskalte Küsse ------------------------- Allen, die näher am Wasser gebaut sind, empfehle ich für dieses Kapitel, sich Taschentücher vorsichtshalber bereitzulegen. (1) http://www.youtube.com/watch?v=hGp-YOYKJfs&feature=related Illuminati – Black Smoke (2) http://www.youtube.com/watch?v=T-86sKUPXYk&feature=related Yiruma – Moonlight (3) http://www.youtube.com/watch?v=_bM19ZpI8VE Memoires of a Geisha – Sayuri’s Theme Kapitel 7 Eiskalte Küsse An diesem Tag war nur am Fortschreiten der Uhrzeiger abzulesen, wie der Nachmittag in den Abend überging. Es hatte aufgehört zu schneien, nur der Sturm tobte noch mit unverminderter Kraft, hielt Joeys zahlreiche Gäste jedoch nicht davon ab, zu seiner Party zu kommen. In dem ihm eigenen Elan hatte er seine komplette Klasse sowie Bekannte, Freunde und Verwandte aus der ganzen Stadt und den umliegenden Ortschaften eingeladen. Das Geburtstagskind, sein Vater und Mai hatten sich bei der Dekoration des Festsaals wieder einmal selbst übertroffen, indem sie ihn zu einer Disko umgewandelt hatten. In einer Ecke war das große kalt-warme Büffet aufgebaut, das Mai mit ihren Kollegen vorbereitet hatte, die Bar war mit einem Barkeeper, der Cocktails mixte, und mehreren Kellnern besetzt, an der Frontseite hatte der DJ seinen Platz gefunden. Scheinwerfer und eine große Diskokugel tauchten den Saal abwechselnd in bunte Farben. An der Decke und den Wänden verteilten sich Girlanden und Luftballons und über dem Tisch für die Geschenke hing ein Plakat mit „Happy Birthday, Joey!“ als Aufschrift. Ein glückliches Lächeln zur Schau tragend, wanderte besagter Blondschopf durch den Saal und begrüßte seine eintreffenden Gäste, zwischen denen die Kellner herumliefen und Sektgläser verteilten. Dabei sah er sich immer wieder nach Seto um, ohne seinen Freund zu entdecken. Er hat versprochen, dass er kommt, beruhigte er sich. Also wird er auch kommen. „Alles Liebe zum Geburtstag, Joey“, wurden seine Gedanken von einem Jungen und seiner Freundin durchbrochen, die auf ihn zu kamen und ihn umarmten. „Hey, Yamato, Kairi, wie schön, dass ihr kommen konntet“, begrüßte er seine beiden Klassenkameraden. „Ist doch Ehrensache“, sagte Yamato. „Wo sollen wir dein Geschenk hinlegen?“ „Da rüber auf den Tisch, zu den anderen“, konnte Joey gerade noch sagen, bevor ihn ein paar Freunde aus dem Fußballclub der Schule in Beschlag nahmen, um ebenfalls ihre Glückwünsche loszuwerden. Mr. Wheeler nahm von dem eigens für heute engagierten DJ das Mikrofon entgegen, klopfte kurz dagegen, um zu sehen, ob es funktionierte, und ließ von dem Mann, der nur wenige Jahre älter als Joey war, einen Tusch spielen. Es wurde ruhig im Saal. „Liebe Gäste, wir sind heute hier, um den Geburtstag meines Sohnes Joey zu feiern. Wo bist du denn, Joey?“ Er sah sich um und entdeckte ihn neben Ryou. „Ah, da! Komm mal her zu mir“, winkte er ihm. Er löste sich aus der Menge und trat neben seinen Vater in das Scheinwerferlicht, das auf ihn gerichtet war. „Du wirst heute neunzehn und –“ Zu Jonathans Überraschung schnappte ihm Joey das Mikrofon aus der Hand. „Und darum wollen wir unsere Zeit heute auch nicht mit langatmigen Reden verschwenden“, sagte er und strahlte in die Runde. „Ich freue mich, dass ihr alle hier seid, trotz des miesen Wetters draußen, und hoffe, dass wir heute einen schönen Abend zusammen haben!“ (1) Das in hübsches rotes Papier geschlagene Geschenk und eine rote Rose in der Hand, begab sich Seto, nachdem er sich für die Party umgezogen hatte, hinüber ins Hotel. Er freute sich seit Wochen auf das Gesicht, das Joey beim Auspacken machen würde. Sein Blick glitt mit leichter Besorgnis auf die Uhr an seinem Handgelenk, er war spät dran. Die Natur hatte unversehens noch ihr Recht gefordert und ihn über zehn Minuten auf der Toilette festgesetzt. Zudem dauerte der Weg über den Küchen- und Angestelltenbereich des Hotels, den er gewählt hatte, länger, als wenn er vorne herum und durch den Haupteingang gegangen wäre, setzte ihn im Gegenzug aber nur kurz den Elementen aus. Seine Schritte wurden schneller, als er die Eingangshalle erreichte und aus dem Saal Händeklatschen hörte. Joey musste schon mitten in seiner Eröffnungsrede sein. Pling! Pling! Ein heller, hoher Ton schwang durch die Luft und ließ ihn aufhorchen. Erst dachte er, es sei jemand an der Rezeption, doch als er sich dieser zuwandte, stand dort niemand. Verwirrt setzte er seinen Weg fort, um das Geräusch nur Sekunden später erneut zu hören. Er sah sich suchend um, bis sein Blick am Fenster hängen blieb. Durch die Scheibe sah er den neuen Gast, Maximillian Pegasus, neben einem Pferdeschlitten stehen und ihm zuwinken. Seto wunderte sich, was er bei diesem Wetter draußen zu suchen hatte; nur um darüber nachzudenken, fehlte ihm die Zeit. Er hob die Hand und erwiderte kurz den Gruß. Als er sich wieder dem Festsaal zuwenden wollte, zuckte er heftig zusammen, sein rechtes Auge schmerzte, fast als würde jemand mit einer Nadel hinein stechen. Mit einer Nadel, die aus Eis war. Komm zu mir, hallte eine Stimme in seinem Kopf wider. Konnte er sie im ersten Moment nicht richtig einordnen, wurde ihm bei einem zweiten Blick nach draußen klar, dass es Pegasus gewesen sein musste. Dieser blickte ihn mit einem ruhigen und zugleich unheimlichen Lächeln an und bedeutete ihm, hinauszukommen. Sträub dich nicht dagegen, Seto. Es bringt nichts. Starr, sich das rechte Auge mit der Hand zuhaltend, stand Seto da, rührte sich nicht von der Stelle. Erschüttert erkannte er, wie in ihm zwei Stimmen darum kämpften, gehört zu werden. Die eine riet ihm, sich endlich abzuwenden und zu Joey zu gehen. Es war schlichtweg unhöflich, ihn an seinem Geburtstag so lange warten zu lassen. Die andere Stimme hingegen rief ihm zu, Pegasus’ Einladung zu folgen, er würde es nicht bereuen. Was ist mit mir los? Was passiert mit mir?, dachte er, innerlich wie äußerlich bebend. Nicht fähig, die Augen von Pegasus loszureißen, stolperte er rückwärts, musste sich zwingen, die Füße zu bewegen. Seine Beine fühlten sich weich an, es fiel ihm schwer, überhaupt die Kontrolle über sie zu behalten, nicht dem Drängen der anderen Stimme nachzugeben, die ihn rief. Er stieß mit dem Rücken gegen etwas festes, erkannte den Empfangstresen und legte Joeys Geschenk darauf ab. Mit beiden Händen klammerte er sich an das Holz, tastete fahrig über die Arbeitsfläche, bis er fand, wonach er gesucht hatte. Seine sonst so akkurate Handschrift wurde ungewohnt krakelig, er musste den Stift mehrmals ansetzen, um die wenigen Worte aufs Papier zu bringen. Tief durchatmend legte er den Zettel auf das Päckchen und schob die Rose für Joey vorsichtig in die Innentasche seines Jacketts. Als er sich wieder der Fensterfront zuwandte, war sein Blick um einige Grad abgekühlt, beinahe fähig, mit den derzeitigen Temperaturen in Konkurrenz zu treten. Er wollte zu Joey, ja, aber er musste erst herausfinden, was dieser Pegasus mit ihm trieb. Er marschierte um den Empfangstresen herum, holte aus dem Hinterzimmer den schwarzen Mantel mit dem Klappkragen und den blauen Schal, den er trug, wenn er sich während des Dienstes länger draußen aufhielt, schlüpfte in diesen und durchquerte mit großen Schritten die Eingangshalle. In ihm begann Wut aufzusteigen. Was bildete sich dieser Kerl ein? Und wer war er überhaupt? Sobald er durch die Tür ins Freie trat, zerzauste ihm der Wind die Haare. „Wie schön, dich zu sehen, Seto“, sagte Pegasus“, dessen Lächeln sich noch verbreiterte. „Was wollen Sie von mir?“, knirschte Seto durch zusammengebissene Zähne. „Ich habe Ihnen gesagt, dass ich kein Interesse an Ihnen habe.“ „Bist du dir dessen so sicher, junger Kaiba?“ Pegasus’ Blick richtete sich geradewegs auf ihn, durchdrang ihn bis in sein Innerstes und ließ ein Gefühl von Taubheit zurück. Setos Gesichtszüge glätteten sich. Die Umgebung verschwamm vor seinen Augen, nur Pegasus stand noch klar und deutlich vor ihm. Dieser zuckte mit den Schultern. „Na schön, Seto. Ich werde dich in Ruhe lassen ... aber vorher drehst du mit mir eine Runde. Nimm dir den Schlitten, der da steht“, er zeigte auf einen hölzernen Rodelschlitten, mit dem Seto und Joey am Vortag gefahren waren (den Einwand des Brünetten, das sei kindisch, hatte Joey nicht gelten lassen), „und häng ihn an meinen dran.“ Wie von selbst folgte Seto der Anweisung, holte den Schlitten und befestigte ihn mit der Schnur, an der er ihn hinter sich hergezogen hatte, hinten am Pferdeschlitten. Dessen Besitzer lachte leise, schwang sich hinein und nahm die Zügel zur Hand. Sobald Seto saß, schnalzte er mit der Zunge und die Pferde setzten sich in Bewegung. Sie fuhren die Straße entlang und um den Platz, auf dem jede Woche der Markt stattfand. „Das genügt“, sagte Seto, darum kämpfend, wieder die völlige Macht über sich zu erlangen. Die silbernen Schlittenglöckchen klingelten im Takt der sanft schaukelnden Bewegungen der beiden Schlitten und wurden lauter, als die Pferde im Tempo anzogen. „Halt! Sie sagten, nur eine Runde!“ Seto packte den Rodelschlitten mit beiden Händen, um nicht zu fallen. Es ging in eine Kurve, fort vom Marktplatz, durch die verwaisten Straßen. In den Wind mischten sich das Klingeln der Glocken und Wolfsgeheul. Das Licht im Festsaal ging aus und ließ die Gäste im Dunkeln zurück, die sich an die Seite drängten und einen Gang bildeten. Mai betrat mit einer großen Schokoladentorte, auf der neunzehn Kerzen brannten, den Raum. Überall hoben Stimmen an und vereinten sich zu einem Chor, der „Happy Birthday“ sang. Joey sah sich gerührt, doch allmählich auch besorgt um. Alle seine Freunde waren hier, nur der, mit dem er unbedingt feiern wollte, fehlte. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Seto das grundlos tat oder ihn ärgern wollte. Mai blieb vor ihm stehen und hielt ihm den Kuchen hin, damit er die Kerzen ausblasen konnte. „Alles Liebe zum Geburtstag, Kleiner“, sagte sie. „So klein bin ich nun auch nicht mehr, Mai.“ Er beugte sich grinsend vor, holte tief Luft und blies. Die Flammen flackerten kurz und erloschen. Die darauf folgende erneute Dunkelheit währte nur Sekunden, noch während die Lichter nach und nach wieder angeschaltet wurden, brachen die Gäste in Applaus aus. Das plötz-liche Geräusch heulender Wölfe ließ Joey hochschrecken. Seto!, war sein erster Gedanke. „Entschuldigt mich kurz“, sagte er. „Aber dein Kuchen –“ „Später!“, würgte er Mai ab und bevor ihn jemand hindern konnte, war er aus dem Saal gestürmt. Sein Blick flog durch die Eingangshalle, erhaschte das Paket auf dem Empfangstresen, zu dem er eilte. Bestürzung trat in seinen Blick. Auf dem Zettel, der oben auf dem Geschenk lag, standen nur drei Worte: Hilf mir! Seto. Die Eingangstür stand offen, der Wind wehte Schnee und den Klang von Glocken herein. In Joeys Ohren klang es unheimlich, klirrend und kalt wie Glas oder Kristall. Er hastete nach draußen, sah die Schlittenspuren und bemerkte, dass sein eigener Schlitten fehlte. „Ich verlange, dass Sie sofort anhalten!“ Diese Stimme hätte Joey unter Tausenden erkannt. Er rannte los, den Spuren folgend, die sich in den Schnee gegraben hatten. Am Ende der Straße sah er einen Schlitten abbiegen. Schneller und schneller wurde der Schlitten, legte sich in die Kurven, dass Seto sich sorgte, das Seil, mit dem er am großen Schlitten hing, könnte reißen und er durch seinen eigenen Schwung gegen die nächste Hausmauer geschleudert werden. Andererseits ... Pegasus sah nicht aus, als würde er bald anhalten. Da nahm er lieber ein paar gebrochene Rippen in Kauf, statt sich entführen zu lassen. Er griff nach dem Seil, versuchte den Knoten zu lösen, vergeblich, er saß viel zu fest. Zum ersten Mal in seinem Leben spürte Seto richtige Angst. Die Häuser wurden weniger, dann waren sie aus der Stadt heraus und auf dem Weg zu der Brücke, die über den Fluss führte. Ein Stück von dieser entfernt, am anderen Ufer, begann das Industriegebiet. Die rauchenden Schornsteine der Fabriken hoben sich gegen den Nachthimmel ab. Sie passierten die Brückenpfeiler. Noch einmal griff Seto nach dem Seil, fingerte an dem Knoten herum und verfluchte den Moment, da er Pegasus’ Wunsch nachgegeben hatte. Der Rodelschlitten glitt über einen Schneebuckel, begann zu schlingern. Seto verlagerte sein Gewicht, bemüht, ihn wieder unter Kontrolle zu bekommen, geriet stattdessen jedoch noch weiter in Schieflage. Mit einem Schrei fiel er herunter und landete auf der festgefahrenen Schneeschicht. Der andere Schlitten hielt, Pegasus stieg aus, seinen Mantel elegant hinter sich werfend. Die blassblauen Perlen, mit denen er bestickt war, glitzerten im Licht der Laternen, von welchen die Brücke erleuchtet wurde. Kopfschüttelnd beugte er sich zu Seto herunter. „Du solltest vorsichtiger sein.“ „Was willst du von mir?“, fragte er und hob den Blick. Ihn fröstelte, dem warmen Mantel, den er sich angezogen hatte, zum Trotz. Der Wind war kalt, so wie der Boden, auf dem er lag. „Du zitterst. Ist dir so kalt?“ Pegasus legte die Arme um ihn und zog ihn ein Stück hoch, näher zu sich heran. „Du bist kalt wie Eis“, murmelte Seto, der sich in seiner Umarmung wie in einem Tiefkühlfach fühlte. „Sag mir endlich, wer du bist.“ „Dein Schicksal, Seto Kaiba.“ „Ich glaube nicht an so etwas wie Schicksal.“ „Ich weiß, ich weiß. Du solltest es aber.“ Kalte Finger fuhren seinen Hals entlang, verweilten dort kurz, um sich dann seiner Wange zuzuwenden. „Komm mit mir, Seto.“ „Ich kann ... nicht.“ „Was hält dich hier? Dieser Junge? Sieh mich an.“ Er drehte Setos Gesicht zu sich, beobachtete die blauen Augen, die auf ihn gerichtet waren. „Ich kann dir die ganze Welt bieten ... und noch viel mehr.“ Er wartete seine Antwort nicht mehr ab. Sanft und doch bestimmend legten sich seine Lippen auf die Setos. In diesem stieg das Gefühl auf, als fließe Eiswasser seine Kehle hinab, Eis, das sich über seinen ganzen Körper ausbreitete, durch seine Adern strömte, bis in jede Zelle, bis es sein Herz erreichte. Im gleichen Moment war es vorbei. Er wusste nicht, was genau Pegasus mit ihm gemacht hatte, nur eines spürte er deutlich. Die Kälte war vollständig aus ihm gewichen. Selbst der Wind hatte seine scharfe Note verloren und kam ihm nur noch wie ein laues Lüftchen vor. Seto nahm die ihm entgegen gestreckte Hand und ließ sich auf die Füße ziehen. Mit dem Kopf Richtung Pferdeschlitten deutend, bat Pegasus ihn einzusteigen. Während sich Seto gegen die Sitzlehne sinken ließ, löste sein Begleiter den kleinen Rodelschlitten mit wenigen Handgriffen und gab ihm einen Stoß mit dem Fuß. Er schlitterte über den Schnee, immer schneller werdend, bis er an einer von Flatterband abgesperrten Stelle, wo das Geländer kaputt war, über den Rand der Brücke glitt und in die Tiefe stürzte. Pegasus wandte sich mit sehr zufriedener Miene wieder dem Schlitten zu und setzte sich neben Seto, der sich schläfrig gegen die Pelze drückte, mit denen der Schlitten ausgelegt war. Auf einen leichten Schlag mit den Zügeln trabten die Pferde wieder an. Nur ganz am Rande registrierte Seto noch, wie sich die Kufen vom Boden lösten und der Schlitten mit seinen Insassen in den Himmel aufstieg. Joey keuchte schwer. Er war ein guter Läufer, aber einem Schlitten quer durch die Stadt zu folgen ... das war keine einfache Aufgabe. Wenn er ihn jedoch verlor, würde er Seto nie wiedersehen, das spürte er ganz deutlich. Seine Beine fühlten sich schwer wie Blei an und doch lief er weiter, den Blick zu Boden gerichtet und immer den schmalen Schlittenspuren nach. Außer Atem erreichte er das Flussufer und, nicht weit von ihm entfernt, die Brücke, auf der ein großer Schlitten hielt. Er erblickte zwei Männer, einer in einen weißen, der andere in einen schwarzen Mantel gehüllt. Im Wind flatterte ein blauer Schal. „Seto! Warte!“, brachte Joey mühsam hervor. Er stützte sich auf seinen Oberschenkeln ab und rang nach Luft. In seinen Seiten stach es schmerzhaft. Als er sich aufrichtete, sah er, wie etwas von der Brücke fiel, die vereiste Wasseroberfläche durchschlug und im Fluss versank. Immer einen Fuß vor den anderen setzen. Nur nicht wieder anhalten. Joey nahm seine verbliebene Kraft zusammen, setzte seinen Weg zur Brücke fort. Kalte Luft strömte in seine Lungen, hinterließ ein prickelndes Gefühl wie Eisnadeln. Der Schlitten setzte sich in Bewegung, jetzt erkannte Joey deutlich, dass Seto in ihm saß. Der Kutscher drehte den Kopf zu ihm und lächelte ihn triumphierend an. Ein letztes Mal beschleunigte Joey, streckte die Hände nach dem Schlitten aus – und verfehlte ihn um Millimeter. Fassungslos musste er mit ansehen, wie das Gefährt des Eisfürsten aufstieg und Seto mit sich nahm. Er starrte ihm nach, bis er in den Wolken verschwunden war. „Seeeeetooooo!“ Die Tränen rannen unaufhaltsam über sein Gesicht, er ließ sich auf die Knie fallen, kümmerte sich nicht um den Schnee und den Sturm. Die Welt um ihn hörte auf, sich zu drehen und wurde schwarz. (2) „... Na endlich, er kommt zu sich.“ Joey blinzelte, alles war so verschwommen. Blonde Locken kamen in sein Blickfeld, dann fühlte er etwas Kaltes auf seiner Stirn. „Wir hatten solche Angst, dass du nicht aufwachst, Joey.“ Mai strich ihm über die Wange und erneuerte die Wadenwickel, die sie ihm angelegt hatte. „Was ...“ „Wir haben dich überall gesucht, bis dich Ryou auf der Brücke gefunden hat. Du warst schon ganz unterkühlt. Ohne Jacke in den Sturm zu laufen ... Was hast du da überhaupt gesucht?“ „Seto ... der Eisfürst hat ihn ... entführt ... wollte ihn aufhalten.“ „Psst. Du fantasierst, du hast Fieber.“ „Nein, ich ... Er hat unsern Schlitten von der Brücke gestoßen und –“ „Schlaf dich erst mal aus, Ruhe ist jetzt das Beste für dich“, sagte sie bestimmt, deckte ihn zu und verließ den Raum. Joey ließ sich erschöpft gegen die Kissen sinken. In seinem Kopf hämmerte es, seine Stirn brannte heiß. Er verkrampfte sich und hustete, gefolgt von einem kräftigen Niesen. Na ganz toll, hab ich mir jetzt auch noch ’ne Grippe eingefangen! Wie soll ich so nach Seto suchen? Ob Mai mich raus lässt, wenn ich sie ganz lieb darum bitte? Sicherlich nicht. Manchmal konnte Mai zu einer regelrechten Glucke mutieren und nicht anders verhielt es sich dieses Mal. Sie ließ Joey erst vier Tage später aus dem Bett, nachdem sein Fieber weit genug gesunken war. Jede seiner Fragen nach Seto würgte sie mit dem Einwand, er habe geträumt und es gehe Seto gut, er würde nur Besorgungen machen, ab. Sobald er aufstehen konnte, schleppte sich Joey, immer noch hustend und neben seinem Bademantel in eine dicke Daunenjacke gewickelt, ins Hotel hinüber und suchte nach ihm – ohne Erfolg, wie er es sich schon gedacht hatte. „Warum hast du mich belogen, Mai?“, fragte er, als er in die Küche kam. „Wie, ich –“ „Du weißt genau, dass Seto keine Besorgungen für das Hotel macht.“ Ein Hustenanfall unterbrach ihn. „Er kann gar keine machen, weil er gar nicht mehr hier ist. Dieser verfluchte Eisfürst ... wenn ich den in die Finger kriege.“ „Geh ins Bett zurück, Joey, du hast immer noch leichtes Fieber. Du fantasierst wieder.“ „So, ich fantasiere also? Ich habe mir nur eingebildet, dass er an meinem Geburtstag hier eingecheckt und Seto mitgenommen hat!“ „Joey ...“, Mai hob beschwichtigend die Hände, „an deinem Geburtstag sind keine neuen Hotelgäste gekommen.“ „Unsinn, er hatte Zimmer 108. Frag Dad, der hat ihn gesehen.“ „Für den Tag gibt es keine Einträge in der Datei.“ „Ich glaube dir nicht.“ Joey machte auf dem Absatz kehrt und marschierte in die Eingangshalle, erwiderte knapp den Gruß des Portiers und machte sich an dessen Computer zu schaffen. Zeile um Zeile studierte er die Belegungsliste für den 25. Januar. Abgesehen von den alten Gästen, die ein paar Tage vor dem Schneesturm angekommen waren, war sie leer. Der nächste Eintrag war erst für vorgestern verzeichnet. Der Sturm war am 26. Januar – besonders für die Meteorologen völlig überraschend – verschwunden. Joey starrte verwirrt auf den Bildschirm. Die Software musste einen Fehler haben, ein Eintrag konnte doch nicht so mir nichts, dir nichts verschwinden. Er nahm sich das Gästebuch vor und blätterte darin. Die Seite, auf die Pegasus seine Unterschrift gesetzt hatte, war leer. Joey fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. Es gab keine sichtbaren Anzeichen, dass er im Hotel gewesen war ... Aber er hatte sich das nicht eingebildet! „Was spielst du für ein böses Spiel mit uns“, flüsterte er. Weitere drei Tage vergingen, bis er die Grippe vollständig abgeschüttelt hatte und wieder zur Schule konnte. Da Seto im gesamten Hotel-komplex nicht auffindbar war und auch nicht zur Arbeit erschien, hatte ihn Mr. Wheeler zwei Tage nach seinem Verschwinden bei der Polizei als vermisst gemeldet. Seither wurde mit Hochdruck nach ihm gesucht. Nachdem Joey seine Aussage gemacht hatte (außen vor lassend, dass es sich bei dem mutmaßlichen Entführer Maximillian Pegasus um den Eisfürsten handeln musste), meldeten sich einige Zeugen, die in der fraglichen Nacht einen Schlitten gesehen hatten. Am 4. Februar bargen Polizeitaucher aus dem Fluss einen Rodelschlitten, den Joey sofort als seinen identifizierte. Damit war der Fall für die Behörden klar. Seto Kaiba war entweder in den Fluss gestürzt oder hatte Selbstmord begangen, seine Leiche war fortgeschwemmt worden Joey aber weigerte sich, ihn für tot erklären zu lassen und blieb bei seiner Version, er sei entführt worden. Daran änderte auch die Trauerfeier nichts, die sein Vater ein paar Tage später im Hotel ausrichtete, in der Hoffnung, Joey würde sich so von Seto lösen. Der Blondschopf schüttelte nur den Kopf, als er die geladenen Gäste in schwarzer Trauerkleidung sah, wie sie vor dem mit Blumen geschmückten Bild Setos und dem Schlitten saßen, Lieder sangen und einer Rede von Mr. Wheeler lauschten. Am liebsten hätte er sie angeschrien, mit diesem Unsinn aufzuhören. Seto war nicht tot. Weshalb wollten sie das nicht verstehen? Das Eis schmolz und die Schneefälle verwandelten sich in Regen. Jeden Tag ging Joey, seine neuen Schuhe tragend, nach der Schule zum Fluss und blickte auf das rauschende Wasser hinab. Er war erst einige Tage nach seinem Geburtstag dazu gekommen, Setos Geschenk auszupacken. Das Päckchen hatte die roten Sneaker mit dem Drachenmotiv enthalten, die er vor Monaten im Einkaufszentrum gesehen hatte. Ryou machte sich um seinen besten Freund Sorgen. Dieses schweigsame Verhalten erinnerte ihn an die ersten Wochen nach Serenitys Tod, nur dass sich Joey dieses Mal beim Unterricht zusammenriss. Er hatte Seto versprochen, einen guten Abschluss hinzulegen und daran wollte er sich halten, komme was da wolle. Das Zeugnis, das er während der Abschlussfeier vom Direktor überreicht bekam, konnte sich somit durchaus sehen lassen, doch kaum waren die letzte Abschlussrede verklungen, ein letztes Mal die Hände geschüttelt worden, um sich gegenseitig zu beglückwünschen, war er verschwunden. Zu Hause setzte er sich unter die Kiefer, wo er und Seto so häufig ihre Zeit zusammen verbracht hatten, und schloss die Augen. Er hatte sich für die Universität angemeldet, um dort – im Hinblick auf die spätere Übernahme des Hotels – Wirtschaft und Management zu studieren. Das Semester sollte schon in wenigen Wochen beginnen. „Versteckst du dich wieder, Joey?“ Er öffnete die Augen und sah Mai vor sich stehen. Sie setzte sich neben ihn, sah eine Weile auf das Gras und sagte dann: „Ich habe noch einmal über das nachgedacht, was du über Setos Verschwinden gesagt hast. Dass dieser Eisfürst etwas damit zu tun hat. Und ich ... ich glaube dir.“ Er sah sie überrascht an. „Hast du mir nicht die ganze Zeit gesagt, es seien nur Fieberträume gewesen?“ „Schon ... Aber wenn ich so darüber nachdenke ... Seit vielen Jahren verschwinden im ganzen Land immer wieder Jungen oder junge Männer. Meine Mutter wollte sich nie davon abbringen lassen, dass der Eisfürst sie entführt hatte. Einen Freund meines Vaters soll er angeblich auch geholt haben. Fest steht nur, dass er mit achtzehn über Nacht verschwand und wie die andern nie wieder gesehen wurde.“ „Willst du mir damit sagen, dass ich meine Hoffnungen, Seto wiederzusehen, lieber begraben soll?!“, rief er. „Nein, nur –“ Joey sprang auf und ballte die Fäuste. „Damit wird dieser Mitkerl nicht durchkommen!“ „Was hast du vor?“ „Ich hole mir Seto zurück. Der Eisfürst hat kein Recht, ihn zu entführen.“ Mit großen Schritten stürmte Joey über die Wiese, zurück zum Wohnhaus. „Und wenn er nun doch in den Fluss gefallen ist?“ „Dann wende ich mich eben an ihn und bitte ihn, mir Seto zurückzugeben.“ „Joey!“ Mai packte ihn am Arm und zwang ihn, stehen zu bleiben. „Ich bitte dich, schlaf wenigstens eine Nacht darüber. Stürm nicht Hals über Kopf los, du stürzt dich ins Unglück.“ Ihr Griff lockerte sich erst, als er nickte und sich mit ihr nach drinnen begab, wo sein Vater auf ihn wartete, um mit ihm zu feiern. (3) Joey sah aus dem Fenster, hinaus in den Innenhof. Es war draußen noch dunkel, die Dämmerung hatte erst vor wenigen Minuten eingesetzt und sich daran gemacht, den tiefblauen Ton der Nacht Stück für Stück aufzuhellen. Er blickte sich in seinem Zimmer um, ob er an alles gedacht, nichts vergessen hatte. Der Brief an seinen Vater lag in einem sauber beschrifteten Kuvert auf dem Kopfkissen seines noch schnell gemachten Bettes. In seiner Hosentasche steckte die Rosenbrosche, die ihm Serenity hinterlassen hatte. Er wollte sie nicht hier zurücklassen. Leise schloss er die Tür hinter sich, schlich sich in ihr Zimmer, um ein letztes Mal über ihr Bild zu streichen. Vor der Tür zum Schlafzimmer seines Vaters blieb er kurz stehen. Er hätte sich gern von ihm verabschiedet, aber wenn er ihn weckte, würde er nur versuchen, ihn von seinem Vorhaben abzuhalten. Die Treppe knarrte, er blieb mehrmals stehen und horchte, bevor er weiterging. Im Erdgeschoss nahm er Jacke und Schal vom Haken und schlüpfte nach draußen. Er hatte sein Fahrrad schon am Vorabend aus dem Schuppen geholt, geputzt und die Luft in den Reifen wieder aufgefüllt. Auf den Straßen, durch die er fuhr, war noch nicht viel los, er war vor den üblichen Morgenstaus aufgebrochen. Durch die Bewegung und die warme Jacke wurde ihm warm. Als er die Brücke erreichte, war er verschwitzt. Das letzte Stück bis zur Brückenmitte schob er sein Rad und lehnte es an das Geländer. Sein Blick glitt nach allen Seiten, es war niemand zu sehen. Etliche Meter unter ihm floss der schäumende Fluss, dessen Wasser die Farbe von grüner Jade hatte. Joey beugte sich weiter über das Geländer. „Alle erzählen mir, dass du mir Seto genommen hast“, sagte er zum Fluss. „Aber stimmt das? Und wenn, dann gib ihn mir wieder. Bitte.“ Abwartend stand er da, beobachtete die Wellen, ohne eine Antwort zu erhalten. „Du willst etwas von mir, oder? Ich bekomme ihn nicht ohne Gegenleistung ...“ Joey überlegte eine Weile und zog seine Sneaker aus. „Dann gebe ich dir meine Schuhe. Seto hat sie mir zum Geburtstag geschenkt.“ Damit warf er sie ins Wasser und beobachtete, wie sie von der Strömung nach unten gezogen wurden. Wieder wartete er, doch auch dieses Mal machte der Fluss keine Anstalten, ihm zu antworten. „Reicht dir das noch nicht? Nein, natürlich nicht ...“ Joey wandte sich der Stadt zu. „Dad, Mai, Ryou ... Verzeiht mir, es muss sein.“ Er kletterte über das Geländer und drehte sich, immer vorsichtig ausbalancierend, zum Fluss um. „Bitte hilf mir, Fluss. Hilf mir, Seto zu finden.“ Er schloss die Augen und sprang. Die Füße voran, stieß er ins Wasser. Joey sog noch einmal tief Luft in seine Lungen, dann verschlang ihn die Flut vollends. Die Strömung wirbelte ihn umher, ließ ihn die Orientierung verlieren. Bald wusste er nicht mehr, wo oben und unten war, ob über ihm Licht und Luft oder dunkler Grund lag. Aber er brauchte Luft ... Seine Lungen begannen zu brennen, schrien nach Sauerstoff – Er verlor das Bewusstsein. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)