Rude World von SunnyBunny (Nichts ist fair!) ================================================================================ Kapitel 1: Erst Denken, dann Springen! -------------------------------------- Don’t leave me… Oder: Erst Denken, dann springen! „Mann, Tala! Jetzt stell dich nicht so an! Ihre Mutter wird sich schon wieder abregen!“ Kim sah mich an, als sie sich zu mir aufs Sofa setzte. Ich zappte lustlos und unwillkürlich durch die Sender. Ich schaute ziemlich missmutig, und gab ihr keine Antwort. War doch meine Sache, wenn ich sauer war, oder? Sollte sie sich nicht da einmischen. Aber da war sie sehr wie ihr Bruder. Auch wenn Kai und Kim sich in vielen Weisen sehr unterschieden, waren sie in dieser Hinsicht gleich: unnötige Aufregung konnten sie nicht leiden. So langsam hatte ich alle Kanäle durch, und begann wieder bei den ersten. Ich war angespannt, obwohl ich in meinen eigenen vier Wänden auf dem Sofa saß. Ich kam zu einem Sender in dem ein Spielfilm lief. Mrs. Sudo spielte die weibliche Hauptrolle. Ich stöhnte. Kim verdrehte neben mir die Augen. „Gib mir einfach die Fernbedienung!“, sagte sie genervt. Sie riss mir die Fernbedienung einfach aus der Hand, aber ich machte keine Anstalten, sie mir wieder zurückzuholen. Stattdessen stand ich lustlos auf, nahm die halb leere Vodkaflasche die noch auf dem gläsernen Couchtisch stand, und ging aus dem Wohnzimmer. Im Flur, der großen hellen Wohnung, ging gerade die Eingangstür auf und Bryan, Spencer und Ian kamen herein. Ian schüttelte seine regennassen Haare, als wäre er ein kleines wasserscheues Hündchen. Als er meinen Gesichtsausdruck sah, lachte er. „Was ist dir denn über die Leber gelaufen? Oder sollte ich lieber fragen wer?“, fragte er herausfordernd. Ich hatte nur einen eiskalten Blick für in übrig, den selbst Kai nicht so gut hinbekommen hätte, und ging in mein Zimmer. Ich schloss die Tür hinter mir, konnte die Unterhaltung im Flur aber trotzdem noch hören. „Wenn Blick töten könnten, Ian…“, scherzte Bryan. „Hallo Kim.“ Spencers ruhige tiefe Stimme klang weiter entfernt. Wahrscheinlich war er schon im Wohnzimmer. „Weißt du, was mit Tala los ist?“ Ich lag auf meinem Bett, die Arme hinter dem Kopf verschränkt und starrte an die Decke. Meine Wut ebbte ein wenig ab. Ich durfte nicht so zu meinem Team und Mitbewohnern sein. Sie konnten nichts für meine schlechte Laune. Kim natürlich auch nicht. Und ich bedauert auch nicht, dass ich ihr geholfen hatte. Sie war ja eh wie meine eigene Schwester. Und meine „fast-Schwester“ antwortete auf Spencers Frage. „Ja, ich war dabei. Ach… also, es geht um Alex‘ Mutter.“ Sie lachte kurz. „Kai hat sich in dem Punkt echt die bessere Freundin ausgesucht. Ihre Eltern können Leila schlecht dazu zwingen ihren Freund nicht mehr zu sehen.“ Jetzt lachte Bryan. „Kein Wunder, wenn sie tot sind. Aber du schweifst ab, Kim. Was hat Alex‘ Mutter jetzt schon wieder gemacht?“ Mrs. Sudo war schon berüchtigt bei uns. Sie hat manchmal so Einfälle, die ihr selbst und vor allem Alex auch das Leben schwer machen. „Sie hat ihr verboten Tala zu sehen.“ Es war still im Nebenraum. Ich knirschte mit den Zähnen. Ich wollte das nicht noch einmal hören, und verfluchte mein Gehör. Ich überlegte, ob ich laut Musik anmachen sollte. „Die ist aber blöd!“, rief Ian in meinen Gedanken hinein. Danke, dachte ich, ich bin ganz deiner Meinung Ian. Obwohl ich nicht so ein harmloses Wort wie „blöd“ verwendet hätte. „Hat die irgendeinen Grund dafür, oder kommt das aus heiterem Himmel?“, fragt Spencer sachlich. „Zuzutrauen wäre es ihr.“ Bryan sprach leise und undeutlich, als hätte er nur zu sich selbst gesprochen. Ich hörte Schritte und hoffte für den Besitzer, dass sie nicht in meine Richtung kamen. Aber sie wurden leiser. Kurz darauf ging die Kühlschranktür auf und zu. „Sie hat gesehen, wie Tala so ein paar Schlägertypen fertig gemacht hat, als er mich vom Flughafen abgeholt hat. Wir sind dann zusammen weitergegangen. Sie ist dann wohl zu Hause total ausgeflippt und hat Alex im Endeffekt verboten Tala zu sehen. Ich denke sie hat ein paar Vorurteile gegen Russen.“, seufzte Kim leise. „Alex hat Tala eben angerufen und es ihm erzählt. Jetzt macht er sich Vorwürfe.“ Sie machte eine kurze Pause. „Wenn ihr mich fragt, ist er ein Idiot. Er weiß doch, dass er nicht schuld ist. Das war einfach Pech. Er soll sich nicht so anstellen und abwarten. Das legt sich alles.“ Dich hat keiner gefragt!, dachte ich mürrisch. Sie hatte doch keine Ahnung. Alex klang echt verzweifelt. Und sie kann ihre Mutter ja wohl besser einschätzen als Kim. Mann, das ist doch logisch, dass mich das wurmt. Obwohl das Wort „wurmt“ ziemlich untertrieben war. Im Wohnzimmer war es still, bis auf den Fernseher, der schon die ganze Zeit leise im Hintergrund lief. Irgendwer hatte von dem Spielfilm auf eine Talkshow umgeschaltet, so weit ich das durch meine geschlossene Zimmertür sagen konnte. „Lass ihn sich einfach abreagieren“, sagte Bryan in die Stille. Er klang ein bisschen genervt. Keiner antwortete ihm und es war erneut still, bis Ian laut lachte. Vermutlich über die Talkshow. Als ich gerade beschloss raus zu gehen um mich zu bewegen (weil das wahrscheinlich besser war, als den ganzen Tag im Haus rumzusitzen), klingelte mein Handy. Im anderen Zimmer stellte jemand den Fernseher aus, oder wenigstens den Ton, denn sie hatten das Klingeln alle gehört. Diese neugierigen Trottel, dachte ich etwas genervt. Ich ärgerte mich ein wenig über ihr Neugier, als ich aufstand um mein Handy aus der Hosentasche zu fischen. Klug von mir, es nach Alex‘ Anruf eben, nicht an die Wand zu werfen (wie ich es am liebsten getan hätte vor Wut). Auf dem Display blinkte das Symbol für eine neue SMS. Meine Augen weiteten sich. Von Alex. „Tala, ich kann das nicht mehr. Ich möchte mich nicht immer gegen meine Mutter stellen müssen. Ich kann dich nicht mehr sehen. Bitte halte dich von mir fern. Es ist vorbei. Alex“ Ich starrte auf die Buchstaben in dem verzweifelten Versuch sie zu verstehen, sie in meinen Kopf zu bekommen. So oft ich die Wörter las, so oft kamen sie mir wie ein Schlag ins Gesicht vor. Und ich konnte mich nicht wehren. Egal wie stark ich körperlich war. Egal wie gut ich trainiert war. Ich konnte nur aufgeben. „Es ist vorbei“ Und als ich aufgab rutschte mir das Handy aus der Hand und landete mit einem Scheppern auf dem hellen Laminat zu meinen Füßen. Ich wäre sicher zusammen gesackt, wäre mein Körper in der Lage gewesen sich zu rühren. So stand ich nur reglos da, den Kopf gesenkt, die Augen geschlossen. „Was war das?“ fragte jemand im Wohnzimmer. Aber ich wollte es nicht hören. „Sollen wir nachsehen?“ konnte noch jemand sagen, bevor ich mir die Hände auf die Ohren presste. Kurz darauf ging meine Zimmertür auf. Ich stand immer noch vor meinem Bett, Hände über den Ohren, das Handy zu meinen Füßen, den Kopf ohne irgendwelchen Stolz gesenkt. Ich hatte verloren. Kim sah mich überrascht an. Als sie das Handy bemerkte warf sie mir einen unsicheren Blick zu, bückte sich aber und hob es auf. Ich nahm die Arme runter und hob den Kopf so weit, dass ich ihr Gesicht sehen konnte. Man sah förmlich, wie ihr Ausdruck von überrascht erst zu ungläubig dann zu schockiert wechselte. Als sie aufsah, lag so viel Mitgefühl in ihrem Blick, das ich wegschaute. So etwas war ich nicht gewohnt. Hatte ich in meiner Kindheit nie erfahren, brauchte ich nicht. „Tala…“, begann sie, ihre Stimme so leise, als wollte sie mir ausrichten, dass jemand gestorben sei. Das war auch so. Ich war gestorben. Oder zumindest ein Teil von mir. Erneut wich ich ihrem Blick aus. Ich wollte weg. Nur noch weg. Ich wurde ja eh nicht gebraucht. Ich nahm Kim mein Handy aus der Hand, wie sie mir zuvor die Fernbedienung. Das kam mir jetzt vor, wie in einer anderen Zeitepoche, einer anderen Welt. Dann griff ich nach meinem Schlüssel auf dem Nachttisch und verließ das Zimmer. Kim ließ ich wortlos stehen. „Komm bald zurück!“, hauchte sie mir hinterher. Sie wusste, es war sinnlos mich aufzuhalten. Ich brauchte Zeit für mich alleine. Das war ja eh das was ich jetzt war. Allein. Dann konnte ich mich ebenso gut auch schon einmal daran gewöhnen. Die frische, noch feuchte Frühlingsluft schlug mir ins Gesicht, als ich die Haustür im Erdgeschoss öffnete. Einen kurzen Moment überlegte ich, ob ich einfach loslaufen sollte um meinen Muskel eine Gelegenheit geben sollte sich zu bewegen, oder ob ich meinen Wagen nehmen sollte. Die Bewegung und die folgende Erschöpfung waren verlockend. Ich sehnte mich, meine Muskeln zu bewegen, aber ich entschied mich für das Auto. Es würde mich schneller hier wegbringen. Das hatte im Moment Vorrang. Denn wenn Kai nach Hause kam, würde er nach mir suchen. Ich kannte ihn gut genug um das zu wissen. Mit dem Auto kam ich weiter. Außerdem, war der Gedanke an meine Musik, die ich so laut aufdrehen konnte wie ich wollte, ein bisschen tröstlich. Vielleicht musste ich so eine Weile nicht nachdenken. Vielleicht schafften es die Lieder den Platz für schmerzliche Gedanken in meinem Kopf zu füllen. Kaum saß ich im Auto, trat ich aufs Gas, ohne darauf zu achten wo ich hinfuhr. Die Abzweigungen die ich nahm waren zufällig. Manchmal bog ich wo ab, weil mir die Straße gefiel, manchmal einfach weil die Ampel dort zufällig auf grün sprang als ich vorbei kam. Es war egal. Die fast schmerzlich laute Musik schien es gut mit mir zu meinen. I tried so hard and got so far but in the end, it doesn't even matter... Die Texte hallten in meinem Kopf wieder, andere sinnvolle Gedanken waren schwer zu fassen, weshalb ich den Kampf bald erleichtert aufgab. Trying to hold on but didn´t even know wasted it all just to watch you go. Ich war froh darüber, denn das Autofahren alleine, hätte mir viel Platzt zum Nachdenken gelassen. Das würde ich später erledigen. Ich wusste nicht wie lange ich fuhr, aber ich hielt erst an, als das Licht für den Benzinstand auf dem Tacho penetrant zu blinken anfing. An der nächsten Tankstelle war (zum Glück für meine Mitmenschen) nicht viel los. Beim bezahlen fiel mein Blick auf die Zigarettenschachteln an der Kasse. Ich nahm zwei Stück mit. Alex hätte mich dafür gehasst. Na ja, zumindest hätte sie mich richtig ausgeschimpft, und so lange kein Wort mehr mit mir geredet, bis ich wieder aufgehört hätte. Was gäbe ich jetzt dafür, dass sie genau das tun würde? Darüber brauchte ich nicht lange nachzudenken. Alles. Ich verzog das Gesicht. Aber das würde ich nie wiederzurückbekommen. Nie wieder ihre Stimme hören. Nie wieder ihr engelsgleiches Lachen hören. Nie wieder. Aua. Ich fuhr weiter. Die Sonne begann ihren Sturz Richtung Horizont. Irgendwann sah ich das Meer. Ich hielt an und stieg aus dem Wagen. Die Kippen in der Hosentasche, ging ich um das Auto herum und trat an den Rand der Felsen, die die Straße säumten und steil ins Meer hinabstürzten. Ich sah hinunter und musste unwillkürlich grinsen. Sah wohl grade für einen Fremden ziemlich selbstmörderisch aus, dachte ich. Für einen winzigen, wirklich winzigen Moment, dachte ich darüber nach zu springen. Alles würde ein Ende haben. Dann kam mir ein neuer Gedanke. Was wenn ich den Sprung, den Fall, den Aufprall oder das eiskalte Wasser überleben würde….? Ich war stark. Meine Vergangenheit hatte mich zäh und robust werden lassen. Ich hatte wahrscheinlich schon Schlimmeres überlebt. Ich lachte kurz auf. Diesen Sprung zu überleben, könnte unangenehm werden. Mich würde echt interessieren, ob ich überlebte, aber die Konsequenzen waren mir zu hoch. Deshalb setzte ich mich und ließ die Beine über dem weiten tiefblauen Ozean baumeln. Ich zündete mir eine Zigarette an. Es war jetzt eh egal, ob ich wieder anfing zu Rauchen, oder nicht. Die Sonne ertrank in einem roten Spektakel im immer schwärzer werdenden Meer. Ihre Strahlen erreichten gerade noch die vereinzelten Wölkchen am Horizont, als wollten sie sich an ihnen festhalten. Wie in einem verzweifelten Hilferuf. Niemanden schein das zu interessieren. Ich wusste genau, wie sich das anfühlt. Es war, als versinke man in Einsamkeit. Aber ich bin nicht der Typ Mensch, der nach Hilfe ruft. Ich hatte nie Hilfe bekommen, und auch nie darum gebeten. Warum auch, wenn man sowieso schon wusste, dass man eh keine bekommen würde? Wieder musste ich an Alex denken. Ihr Gesicht blitzte in meinen Gedanken auf, ihr herzliches Lächeln, das ovale Gesicht, die goldenen Haare, die in der Sonne glitzerten. Und ihre Augen. Die azur-blauen Augen, ein Blauton, so anders als meiner, den man eher als Eisblau beschreiben würde. Die Ehrlichkeit, die immer in ihrem Blick lag, wenn unser Blicke verschmolzen. Sie wäre begeistert gewesen von dem Farbenspiel, hätte ich sie mitnehmen können, um zusammen mit ihr den Sonnenuntergang zu betrachten. Zusammen. Ich seufzte laut. Notiz an mich selbst: Nicht mehr an so etwas denken. Das war jedesmal wie ein Schlag in den Magen, oder wie ein Stich ins Herz. Eher Zweiteres. Ich würde den Schmerz gern in Kauf nehmen, um die Zeit zurückzudrehen. Was ich nicht konnte. Als die Sonne ihren Kampf fast verloren hatte, hörte ich mein Handy durch das offene Fenster meines Wagens klingeln. Hatte ich es im Auto liegen lassen? Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern. War ja klar, dass sie mich suchen würden. Langsam stand ich auf. Aber das Klingeln hörte nicht auf. Ich vermutete dass es Kai sein musste. Er war penetrant. Seufzend griff ich nach dem mobilen Telefon. Ein Blick auf das Display, sagte mir das ich recht hatte. Dann hatte es auch keinen Sinn ihn wegzudrücken. „Was?“, fragte ich distanziert auf Russisch. „Wo bist du, Yurij?“ Knapp aber fordernd. Ich dachte einen Moment nach, ob ich es ihm sagen sollte, bis mir auffiel, dass ich gar nicht genau wusste wo ich war. „Hoffentlich bist du noch im Land!“ Sollte das eine Drohung von ihm sein? Im Hintergrund hörte ich die Motoren von Kais Auto beschleunigen. Na toll, dachte ich. „Ja, bin ich. Fahr wieder nach Hause, Kai!“ Meine Stimme klang leicht genervt. Ich verdrehte die Augen. „Wenn ich mich darauf verlassen könnte, dass du von alleine wieder kommst. Aber da du ja noch nicht einmal eine einzige Sekunde nachdenkst, bevor du handelst, kann ich mir ja nicht wirklich sicher sein.“ Ich antwortete ihm nicht. Er hatte doch keine Ahnung. Ihm geht es doch gut, mit Leila. Obwohl… Ich erinnerte mich daran, dass sie auch schon einige… Situationen überwunden hatten. Aber genau dann wüsste er doch am besten, das man dann nur alleine sein will. Sonst war doch immer ich derjenige, der auf den Impulsiven von uns beiden aufpasst. Ich war der Ältere. Aber so fühlte ich mich nicht. „Lass mich einfach alleine, klar?“, sagte ich kalt und legte auf. Danach schaltete ich mein Handy aus. Mittlerweile war es dunkel. Die Schwarze Nacht verschluckte die Welt. Der Wind spielte mit den Wellen auf dem schwarzen Ozean, der sich wie ein großer Teppich unter meinen Füßen ausbreitete, und schubste sie hin und her. Er fuhr mir ins Gesicht, wehte mir ein paar rote Haarsträhnen in die Stirn, um danach über die Straße weiterzufegen. Vereinzelt leuchteten Sterne am Himmel, doch ich beachtete sie kaum. Schönheit war mir relativ egal. Kaum jemand war noch unterwegs und nur selten hörte ich hinter mir Autos die Straße entlang fahren. Ich begann sie zu zählen. Deshalb war ich auch überrascht als das siebte Auto nicht wie alle vorherigen wieder hinter der nächsten Kurve verschwand, sondern neben meinem Wagen hielt. Ich drehte mich in die Richtung, um zu sehen, was der Fahrer wollte. Ein Seufzer entfuhr mir. Das war Kais Auto. Verdammt, wie hatte der mich bloß gefunden? Ich sah wieder aufs Meer. Er würde schon zu mir kommen müssen, wenn er mit mir reden wollte. Die Autotür wurde erst geöffnet und dann zugeschlagen und Kai ging um beide Fahrzeuge herum. Er kam direkt auf mich zu, blieb aber hinter mir stehen. Ich saß immer noch mit dem Rücken zu ihm an der Felskante. „Wie lange denkst du schon darüber nach, zu springen?“ Seine Stimme klang leicht verärgert. Aber hörte ich da Erleichterung mitschwingen? Ich deutete das als rhetorische Frage, also antwortete ich nicht. Er wusste genau, dass ich niemand war, der es nötig hatte sich selbst umzubringen. Wenn jemand auf so eine Schnapsidee käme, dann ehr Kai. Ich verdrängte die Erinnerung an eine unangenehme Situation in der Vergangenheit. Er hatte es sogar schon versucht. Als er bemerkte, dass ich nichts sagte redete er einfach weiter. „Ich will dir mal einen Tipp geben: Erst Denken, dann Handeln!“, sagte er trocken. Ich lachte kurz auf. „Das sagst gerade du mir.“ Ich drehte mich genau in dem Moment in seine Richtung, dass ich noch mitbekam, wie er mit den Schultern zuckte. „Ja, das tue ich. Denn wenn du mal vorher nachgedacht hättest, bevor du abhaust, wärst du jetzt schlauer. Dann wüsstest du, dass du gar keinen Grund hast, dich hier mit der Frage zu quälen, ob du nun springst, oder nicht!“ Er sah mich an. Ich überlegte einen Moment, konnte aber nicht ausmachen, was er meinte. „Klar, aus deiner Position lässt sich das leicht sagen“, antwortete ich deshalb bissig. Er wollte mich eh nur dazu bringen mit ihm nach Hause zu fahren. Ich zog die Zigarettenschachtel aus meiner Tasche und nahm die letzte Kippe heraus. Der Rest hatte sich zu Stummeln verwandelt, die ihre letzte Ruhe in der Erde neben mir gefunden hatten. Kai stöhnte hinter mir. „Nicht schon wieder…!“ „Das kann dir doch egal sein!“, fuhr ich ihn an. „Es ist schließlich meine Lunge“, fügte ich mürrisch hinzu. „Aber du bist in meinem Team. Und das braucht deine Lunge noch!“, antwortete er genauso verärgert wie ich. Er machte einen Schritt nach vorne. Und ab da ging alles schief. Kai griff nach meiner Hand mit der Zigarette. Ich sah die Intention seiner Bewegung. Um ihm auszuweichen beugte ich mich nach vorne. Woanders konnte ich nicht hin. Kai versperrte mir alle möglichen Auswege. Das wäre ja alles kein Problem gewesen. Hätte der Schritt nach vorne ihn nicht so nah an die Kante gebracht, und hätte der Fels unser gemeinsames Gewicht ausgehalten. Aber der Schritt brachte Kai so nah, dass seine Knie meinen Rücken berührten. Er beugte sich nach vorne, einen Arm fordernd ausgestreckt, um mir die Zigarette abzunehmen. Ein Ruck ging durch die Erde unter uns. Ich sah Steine in den Abgrund bröckeln. Das Gewicht!, schoss es mir dann durch den Kopf. Ich schluckte. Zusammen waren wir zu schwer. Kai realisierte den Ernst der Lage im selben Moment wie ich. Doch das leider einen Atemzug zu spät. In der nächsten Sekunde, die sich wie mehrere Minuten anfühlte, gab der Boden unter mir nach. Ein alt bekanntes Gefühl machte sich in mir breit. Adrenalin schoss durch meine Adern; ich verspürte den absurden Gedanken laut zu lachen. Meine Finger (die Zigarette hatte ihren weiten Weg in die Tiefen des Ozeanes längst begonnen) schlossen sich um eine der schroffen Felskannten an der Klippe. Der Ruck ließ mich hart gegen die Felswand schlagen, aber das bemerkte ich kaum. Viel präsenter waren die kühlen Finger, die sich mit eisernem Griff fest um das Gelenk meiner freien Hand schlossen. Kai! Er stand im wahrsten Sinne des Wortes am Rand des Abgrundes. „Rauchen ist gesundheitsschädlich“, bemerkte er trocken. Typisch Kai. In so einer Situation noch zu scherzen. „Ich seh‘s ja ein!“ Jeder Muskel in meinem Körper war zum bersten gespannt. Mit den Füßen hatte ich mehr schlecht als recht Halt an der Felswand gefunden. Ich sah, wie Kai mit der freien Hand nach etwas suchte, das ihm Halt gab. Seine Schuhe rutschten Millimeter für Millimeter weiter auf den Abgrund zu. Das konnte nicht gut gehen… „Kai, das funktioniert so nicht!“ „Oh doch!“, presste er zwischen den Zähnen hervor. „Und weißt du auch warum?“ Er stemmte sich mit aller Kraft gegen den Boden. „Wir fallen nur beide…“ Ich brauchte nicht weiter zu sprechen. Lass mich los! Wieder bröckelte Geröll unter seinen Füßen weg und sauste neben mir scheinbare tausend Meter in die Tiefe. „Wir. Werden. Nicht. Fallen!“, keuchte er. „Weißt du auch warum?“, wiederholte er sich. Seine suchende Hand hatte festen Halt an einem stabil wirkenden Felsen gefunden. Dennoch rutschte ich weiter Richtung schwarzem Meer. Meine Fingerknöchel traten weiß hervor. „Warum?“, brachte ich hervor. „Du hast noch was zu erledigen, Casanova!“ Ich blinzelte. Was meinte er? „Erstens, werde ich dir eine reinhauen. Zweitens, werde ich dir beibringen erst zu Denken, und dann zu Handeln!“ Es war anstrengend für ihn sich neben dem offensichtlichen Problem auch noch auf das Sprechen zu konzentrieren. Ich wurde sauer. Wir fallen nur beide.“Was meinst du? Was gibt es da noch zu denken? Ich wollte doch gar nicht springen, verdammt!“ Hielt er so wenig von mir? „Das meine ich doch gar nicht! Hör mir doch zu. Die SMS war nicht von Alex.“ „Was?“ „Drücke ich mich so undeutlich aus? Die SMS. War. Nicht. Von. Alex!“ Fast hätte ich seine Hand losgelassen. „Was?“, wiederholte ich. „Woher…? D…Das kann nicht sein!“ „Oh doch“, wiedersprach er mir, „Ich war da. Alex hat Leila angerufen und mich gebeten…“ Ein Ruck ging durch seinen Körper und er zog mich ein Stück nach oben. „…mit ihrer Mutter zu reden. Sie…“ Ich fand halt an der Felswand. „…hat Alex ihr Handy abgenommen und ihr Hausarrest gegeben!“ Den Rest konnte ich mir denken. Also… hatte ich wirklich nicht nachgedacht bevor… Alex wollte sich gar nicht… von mir trennen? „Oh.“ „Und du lässt dich hier so hängen?“ fragte er spöttisch. Und grinste wahrhaftig. Mir war gar nicht danach zumute. „Na toll!“ Ich sah seinen wieder entschlossenen Blick. Ein Schalter schien in meinem Kopf umgelegt worden zu sein. Mein Körper begann instinktiv zu handeln. Ich mobilisierte alle meine Kraft nickte Kai (soweit das möglich war) zu. Er zog, ich drückte mich ab. Keine Minute später lagen wir keuchend nebeneinander auf dem felsigen Boden, ein gutes Stück vom Abgrund entfernt. Außer unserem schweren Atmen und dem Rauschen des tückischen schwarzen Meeres war es um uns herum still. Kai setzte sich auf und klopfte sich den Dreck von der Kleidung. „Idiot“, war das einzige, was er sagte. Er hielt mir die Hand hin und ich ergriff sie wortlos um mir aufhelfen zu lassen. Kaum stand ich neben ihm, holte er aus und schlug mir ins Gesicht. Ich zuckte zurück. Der hatte gesessen. Ihn zu fragen was das sollte lohnte sich nicht. Der Schmerz brannte an meiner Wange und ich starrte auf den dunklen Boden. Normalerweise schlug er mich nicht. Ich hätte mich wehren können, doch es ging nicht. Gewalt ist keine Lösung, hatte meine Großmutter früher immer gesagt. „Fahren wir wieder?“, fragte er in ruhigem Ton. „Ja.“ Ich stieg in meinen Wagen, ließ den Motor an und bog auf die Straße. Die Scheinwerfer hinter mir begleiteten mich den gesamten Heimweg. Ich hatte genug Zeit zum Nachdenken, denn diesmal lief keine laute Musik. Und als wir wieder in den Straßen Tokios ankamen dämmerte es. Ich war nie so froh die Sonne zu sehen, wie in diesem Moment. Sie ist nicht in dem dunklen Meer der Einsamkeit ertrunken. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)